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Anne Marschall

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Anne Marschall brauchte kein Brot und auch keine süßen Krapfen, sie brauchte einfach nur Platz.

So schnell sie nur konnte, drängte sie sich durch Hunderte von Touristen und Einheimischen, die den jährlichen Brotmarkt in Brixen besuchten und sich durch die Stände naschten. Es nieselte ein wenig, der Oktober war kühler und nasser als in den Jahren zuvor. Hinter ihr begannen vier Herren in blauen Schürzen mit der Schaudrescherei, im Takt schlugen sie mit ihren Dreschflegeln Weizenkörner aus den Halmen. Tock, tock, tock, tock. Und noch einmal tock, tock, tock, tock. Holz flog auf Holz, Weizenkörner sprangen davon, Kinder staunten und Erwachsene hielten ihre Mobiltelefone auf die wackeren Müller, die mit verbissenen Mienen die Spreu vom Weizen trennten. Tock, tock, tock, tock.

Anne nahm kurz ihre große, dunkle Brille ab, um sie mit einem Taschentuch trocken zu wischen. Ein Kind wurde von der Mutter gerufen, es lief rückwärts, ohne den Blick von den dreschenden Männern zu nehmen, und stieß an Annes Beine. Sie blieb abrupt stehen, das Kind drehte sich um und starrte sie an. Anne erkannte den Schrecken im Gesicht des Mädchens und versuchte, es mit einem Lächeln zu beruhigen. Das Mädchen sah sie noch einen Moment lang entgeistert an und wandte sich dann ab, um zur Mutter zu rennen. Aus dem Augenwinkel sah Anne, dass das Kind seiner Mutter etwas ins Ohr flüsterte und beide sich noch einmal zu ihr umdrehten.

Anne kannte diese neugierigen, abschätzigen, manchmal auch mitleidvollen Blicke nur zu gut, diese Blicke, die alte Wunden aufrissen und sie nie heilen lassen würden. Sie wusste genau, was das Mädchen seiner Mutter ins Ohr gesagt hatte: „Mama, Mama, da war eine Frau, die hat nur ein Auge. Ja, mit dem einen hat sie mich angeschaut und das andere hat sie dabei zugelassen. Schau, genau so“, und dann hatte das Mädchen wahrscheinlich versucht, das linke Auge zu schließen und das rechte offen zu lassen, genau wie sie. Mit dem einzigen Unterschied, dass Anne ihr linkes Auge nicht öffnen konnte, mit dem rechten aber viel mehr als andere Menschen sah.

Anne ging weiter, das klopfende Dreschgeräusch wurde leiser. Der Duft von frisch gebackenem Brot mit Speck, süßen Strauben mit Preiselbeeren und Nieselregen stieg ihr in die Nase. Sie schlüpfte durch die hölzernen Buden und bahnte sich den Weg zum Kreuzgang, lief hektisch hinein und blieb schwer atmend stehen. Zu viele Menschen an engen Orten hatten Anne schon immer in Panik versetzt. Vielleicht hatte sie sich gerade deshalb für die Schriftstellerei entschieden: In ihren Romanen war sie ihr eigener Herr, konnte über das Schicksal aller Darsteller mit freier Hand entscheiden und den echten Menschen, denen sie nicht begegnen wollte, den Rücken kehren. Natürlich musste sie dann und wann das Haus verlassen, sich mit ihrem Oswald-von-Wolkenstein-Gesicht ins Freie wagen und den argwöhnischen Blicken der Mitbürger aussetzen, doch dies blieb eine Ausnahme. Wurden Lesungen veranstaltet, trug Anne stets einen bunten, breitkrempigen Hut, der von ihrem Makel ablenkte. Während Anne las, störte ihr einäugiger Blick niemanden. Den bemerkten die Menschen nur, wenn Anne mitten unter ihnen war.

Anne blieb vor einem Fresko mitten im Kreuzgang stehen, das Adam und Eva unter dem Lasterbaum zeigte. Eva hielt einen Apfel in der Hand, schützte ihre Scham mit einem Feigenblatt und sah abwesend und entzückt zur Seite. Neben ihr Adam mit langem, blondem Haar, der furchterfüllt die sechs Teufel anstarrte, die sich um sie geschart hatten. Sieben lateinische Inschriften über Laster und Tugenden hingen geordnet über den grausigen Gestalten. Ihre Blicke erinnerten Anne immer an die Menschen, die ihre Jugend in ein Martyrium verwandelt hatten: Kinder, die mit Annes Andersartigkeit nicht zurechtkamen und sie wie eine Aussätzige behandelten. Die sieben Teufel hielten Rechen und Speere in der Hand, schmiedeeisern und schneidend wie die geflüsterten Worte des kleinen Mädchens auf dem Brotmarkt und die verletzende Häme, mit der man Anne schon immer bedacht hatte.

Sie drehte sich um und betrachtete ein weiteres Fresko: das Achatiusmartyrium. Sieben nackte Leiber, aufgespießt auf kahlen, weißen Spießen, vielleicht Bäumen. Ihre Blicke waren gebrochen, leer, tot. Sie bluteten heftig aus ihren Oberkörpern, ihren Mündern, an den Beinen und am Rücken. Sechs Teufel links von Anne, sieben aufgespießte Gestalten rechts von ihr. Das rechte Bild versöhnte sie.

Die Taten der Opfer

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