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Marlene Pittscheider

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Marlene Pittscheider griff noch einmal nach ihrem Telefon und drückte auf Annes Namen. Sie wandte sich ab, sah kurz nach oben und sprach wieder auf die Mailbox.

„Es tut mir leid, ich erreiche Anne nicht“, entschuldigte sie sich bei Andreas Schmalzl.

Der Kulturredakteur der Eisacktaler Presse blickte kurz auf die Uhr seines Monitors und gab einige Sätze ein. „Und wenn Sie als ihre Assistentin mir etwas von dem neuen Roman erzählen? Sie kennen ihn doch sicher mindestens genauso gut wie Frau Marschall.“

Marlene schüttelte den Kopf. „Ich bin für ihre Termine und ihr Wohlbefinden zuständig. Ich halte ihr den Rücken frei, damit sie schreiben kann. Über ihre Romane kann ich nicht …“

Marlene brach den Satz ab und ging ans Telefon. Anne rief außer Atem in den Hörer, dass sie fast in der Redaktion sei, und entschuldigte sich mehrmals.

Dann hörte man auch schon den Türsummer und die Stimme der jungen Sekretärin. Einige Sekunden später stand Anne in Schmalzls Büro und legte ihren Regenmantel über einen Stuhl.

„Es ist so viel los in der Stadt, furchtbar, ganz furchtbar ist das. Da ist kein Durchkommen, kein Platz für den eignen Leib, das Volk ist außer sich, und das weshalb? Nur ein paar Kanten des trocknen Brotes wegen!“

Marlene schmunzelte belustigt über die mittelalterliche Ausdrucksweise, die Anne immer wieder an den Tag legte.

„Ist doch kein Problem, Frau Marschall. Darf ich Ihnen beiden vielleicht einen Kaffee anbieten?“, fragte Schmalzl und rief der Sekretärin zu, sie solle drei Tassen, eine Kanne Kaffee und Milch und Zucker bringen.

„Oh ja, eine herrliche Idee, werter Herr Schmalzl“, säuselte Anne und lächelte den Kulturredakteur an. „Das schwarze Gebräu aus Arabien hat noch jeden ach so trüben Tag gerettet.“

„Ich glaube, Herr Schmalzl würde lieber sein Interview machen, wir sind schließlich schon spät dran.“

„Wie wahr, wie wahr, Liebes. An die Arbeit, ihr müden Geister, wir wollen doch nicht des Zeitungsmannes wertvolle Zeit verschwenden“, antwortete Anne und nippte mit entzückter Miene an ihrem gezuckerten, hellbraunen Getränk.

Marlene trank leise ihren Kaffee, während Anne bereitwillig die Fragen des Redakteurs beantwortete, ihm einen kleinen Vorgeschmack auf den neuen Roman schenkte und erklärte, wie sie sich auf Lesungen vorbereitete. Marlene kannte die Antworten auswendig, die Anne gab. Und doch hörte sie es immer wieder gerne, wie liebevoll ihre Vorgesetzte und Freundin über den eigenen Beruf und ihre Berufung sprach. Wenn Anne von ihrer Schreibarbeit erzählte, war es, als würde ihr verbittertes Herz aufblühen, sich vollständig entfalten und all die schlimmen Dinge aus der Vergangenheit und Gegenwart, die ihr widerfuhren, für einen Moment vergessen machen. Es war ein Labsal, Anne in ihrem Element zu erleben und sie glücklich zu sehen.

Manchmal fragte Marlene sich, wie ihr Leben ohne Anne Marschall verlaufen wäre. Sie kannten sich nun seit zehn Jahren, seit jenem Unfall auf der Autobahn, die vom Brenner nach Süden führte. Marlene war an einem Winterabend nach dem letzten Streit mit ihrem damaligen Freund von Innsbruck nach Florenz unterwegs gewesen, als es heftig zu schneien begann. Sie weinte, war abgelenkt, ihr Wagen geriet ins Schleudern und krachte in das Fahrzeug vor ihr. Zwar war sie langsam gefahren, doch der Zusammenprall war so heftig, dass Marlene einen Schock erlitt und nicht mehr reagierte. Die Frau aus dem zweiten Unfallwagen fuhr rechts ran, stellte das Warndreieck auf und setzte sich zu der blassen, am ganzen Leib zitternden Marlene ins Auto. Dann alarmierte sie die Polizei.

Die Autoheizung wollte nach dem Aufprall nicht mehr funktionieren, da schmiegte sich die Frau wärmend an sie und legte den eigenen Mantel über Marlenes zitternden Körper. Sie sprach die ganze Zeit leise mit ihr, ohne aufzuhören, und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Als ihr nichts mehr einfiel, summte sie leise Melodien. Marlene bekam all dies nur im geistigen Nebel mit. Dann kamen endlich die Polizei und der Krankenwagen und fuhren die beiden Frauen ins Brixner Krankenhaus.

Als Marlene am nächsten Morgen aus ihrer Schockstarre erwachte, saß neben ihr die einäugige Anne Marschall, die von dem Unfall keine Verletzungen davongetragen hatte. Anne legte leise ihr Buch beiseite und kam näher an Marlenes Bett.

„Ich bin dein Schutzengel. Wir hatten einen Unfall, dein Auto ist leider schrottreif und du hattest einen schweren Schock.“

„Sie haben gestern Abend im Auto bei mir gesessen und mit mir gesprochen“, erinnerte Marlene sich vage.

„Ja. Sicher habe ich wirres Zeug von mir gegeben, aber das ist unwichtig. Mein Name ist Anne. Du bist Marlene, richtig?“

Marlene nickte und schlief wenige Sekunden später wieder ein.

Am nächsten Tag verließ sie gemeinsam mit ihrer Lebensretterin das Krankenhaus. Als sie wieder gesund war, nahm sie Annes Angebot, für sie zu arbeiten, gerne an.

Die Taten der Opfer

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