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Filippo Magnabosco

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Filippo Magnabosco leerte mürrisch den Briefkasten Nummer 57, fischte einige Werbeprospekte und die Mahnung seines Telefonanbieters heraus und nahm den Aufzug in den fünften Stock des Wohnhauses. Drei Sekunden lang betrachtete er sein Spiegelbild in dem gelblich schimmernden Aufzug: Ein grauer Mittfünfziger in schmieriger Lederjacke und mit ungewaschenen Haaren blickte ihn an, ein einfacher, langweiliger Bulle der italienischen Staatspolizei.

Bislang hatte seine Aufgabe darin bestanden, Diebstahlsanzeigen aufzunehmen und dann und wann einen eskalierten Ehestreit zu schlichten, wenn er auf Streife war.

Nun war er durch den Autounfall eines Kollegen zu höheren Zielen berufen worden: Er sollte auf unbestimmte Zeit bei der Mordkommission einspringen. Zumindest so lange, bis sich der Kollege von seinem Unglück erholt hatte.

Auch eine Assistentin war ihm zugewiesen worden, eine gewisse Carmela Pasqualina. Er kannte sie nicht, war ihr ein einziges Mal am Kaffeeautomaten begegnet. Sie war ihm als ein junges, unerfahrenes Ding in Erinnerung geblieben, das nichts Besseres zu tun hatte, als den neuesten Stadttratsch mit den Kolleginnen aus dem oberen Stock zu besprechen.

Carmela war in Süditalien aufgewachsen und erst vor wenigen Jahren nach Südtirol gezogen. Hier hatte sie auch leidlich gut Deutsch gelernt. Magnabosco beschloss, mit ihr so viel wie möglich deutsch zu sprechen – es fehlte noch, dass er sich abmühen musste, ihren kalabrischen Dialekt zu verstehen. Mit seinen Eltern hatte er zwar ein Leben lang auf Italienisch kommuniziert, aber auf ihren Wunsch hin seine komplette Schullaufbahn in deutscher Sprache absolviert und war somit – beinahe – perfekt zweisprachig.

Der Aufzug bremste ruckartig, die Tür öffnete sich langsam und laut. Magnabosco trat auf den dunklen Flur und ging in seine kleine Wohnung hoch über der Bozner Peripherie. Es regnete, die Wolken hingen tief über dem Sportgelände in der Pfarrhofstraße. Sie klebten wie nasse, graue Wattebausche an den sonst rötlichen Felsen, die die Südtiroler Landeshauptstadt umgaben.

Magnabosco stieß gegen seine braunen Lederschuhe, gab dem rechten einen heftigen Tritt, sodass er unter dem Sofa landete. Den linken schob er etwas sanfter in die Ecke hinter der Tür. Die Post schmiss er auf den Küchentisch, ging zum Kühlschrank, der ihn leer angähnte. Er öffnete den Gefrierschrank und entdeckte eine Packung abgelaufener Fischstäbchen. Heute Abend würde er herausfinden, ob sie tatsächlich ungenießbar geworden waren oder ob das Mindesthaltbarkeitsdatum nur eine Masche der Nahrungsmittelindustrie war, um mehr Fischstäbchen zu verkaufen. Magnabosco war sich sicher, dass es ein Trick war. Und falls er sich täuschen sollte, würde er die folgende Nacht eben auf der Toilette oder im Krankenhaus verbringen.

Es war ohnehin egal, schließlich hatte er seit drei Stunden, seitdem Clara zum dritten Mal mit ihm Schluss gemacht hatte, nichts mehr zu verlieren. Dieses Mal hatte sie sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, ihn aufzusuchen oder anzurufen. Sie hatte ihm eine einfache Kurznachricht gesendet. Eine Fernbeziehung nach Brescia war einfach unmöglich zu managen. Es war vorbei, schon wieder. Dieses Mal für immer, hatte Clara geschrieben. Und Magnabosco hatte ihr nicht einmal mehr geantwortet.

Nun fehlte sie ihm, ihre Abwesenheit war zur Leere geworden. Er aß drei Fischstäbchen, öffnete ein Dosenbier und setzte sich vor den Fernseher. Er starrte in den dunkelgrauen Kasten und schaltete ihn nicht einmal ein, um mitzubekommen, wie seine Fußballmannschaft durch ein Eigentor ihren Platz in der Serie A verlor.

*

Gegen dreiundzwanzig Uhr beschloss Magnabosco, noch eine kleine Runde zu drehen. Einmal bis zum Friedhof und wieder zurück war sein Ziel.

Es hatte aufgehört zu regnen, nur ein paar vereinzelte dicke Tropfen fielen noch vom Himmel, als er die Pfarrhofstraße entlangschlenderte und ein Fahrrad hinter ihm Sturm klingelte.

„Che cazzo, vai sul marciapiede, no?“, schrie die Person auf dem Fahrrad.

Magnabosco konnte gerade noch auf den für die Fußgänger vorgesehenen Streifen am Straßenrand ausweichen und fluchte ebenso laut wie sein Gegner.

Plötzlich drehte sich dieser um und lachte auf. Magnabosco erkannte seinen alten Freund von der Polizeischule und ging auf ihn zu.

„Vecchio sbirro, che fai da queste parti?“

Magnabosco gab ihm die Hand. „Sergio Matteotti! Luft schnappen. Ti va una birra?“, fragte er ihn.

Sergio stieg vom Fahrrad.

Wenige Minuten später betraten sie gemeinsam die Bar am Sportplatz. Der Barkeeper betrachtete die beiden Männer mit Widerwillen, hatte er doch gerade eben das letzte Glas ausgespült und gehofft, früher Feierabend machen zu können.

Magnabosco und Matteotti setzten sich und bestellten zwei Bier. Dann stießen sie an. Magnabosco war nicht nach Reden, obgleich er Sergio seit etwa fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte und froh war, diesen Abend nicht völlig allein verbringen zu müssen.

„Was ist los, Filippo? Hat das Spiel dich so runtergezogen?“, versuchte Matteotti, ein Gespräch zu beginnen.

Magnabosco schlug sich gegen die Stirn. Das Fußballspiel hatte er völlig vergessen.

„Ist egal“, sagte Matteotti mit verdrießlicher Miene. „Ist eh scheiße gelaufen. Null zu drei verloren. Die Saison ist im Arsch.“

Auch das noch, dachte Magnabosco und leerte das Glas in einem Zug, knallte es auf den Tresen und verlangte ein weiteres Bier. Nicht nur Clara hatte ihn verlassen, sondern auch seine Fußballmannschaft die Serie A. Schlimmer konnte dieser Abend nicht mehr werden.

„Wie geht’s deiner Familie? Hat dein Bruder sich wieder gefangen?“, wechselte Matteotti das Thema.

Magnabosco berührte erneut seine Stirn und strich sich über die Narbe, die ihm als einzige Erinnerung an seinen drogenabhängigen Bruder geblieben war. „Siehst du die hier?“, fragte er sein Gegenüber.

„Ja. Aber was hat die mit deinem Bruder zu tun?“

„Marco hat es nicht geschafft. Ich habe ihn eines Abends volltrunken in seiner Wohnung gefunden. Er war dabei, sich einen Schuss zu setzen, und ich habe versucht, ihn davon abzuhalten. Er hatte ein Messer und hat mich angegriffen. Ich bin dann mit einer Schnittwunde im Gesicht neben meinem toten Bruder wieder aufgewacht. Er hat die Überdosis nicht überlebt. Noch Fragen?“

Matteotti schüttelte den Kopf.

Magnabosco tat es leid, ihm so rüde geantwortet zu haben, doch die Erinnerung an seinen kleinen Bruder Marco und die Drogen, mit denen er sich zugrunde gerichtet hatte, ließ eine unbändige Wut in ihm aufsteigen. Er klopfte seinem alten Freund auf die Schulter, legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tresen und wünschte ihm eine gute Nacht.

Matteotti bedankte sich, doch Magnabosco drehte sich nicht einmal mehr zu ihm um. Besser, ich gehe nach Hause und warte auf den nächsten beschissenen Tag, dachte er.

*

Als er wieder im gelblich schimmernden Aufzug stand und noch einmal sein Spiegelbild betrachtete, bemerkte er, dass er mit dem linken Schuh in einen Hundehaufen getreten war. Nun, zumindest ein Glücksbringer heute, dachte er und zog die Schuhe vor der Wohnungstür aus. Er durchstöberte seine Jackentasche nach dem Hausschlüssel, konnte ihn aber nirgendwo finden. Den einzigen Zweitschlüssel zur Wohnung besaß Clara, und die war in Brescia.

Magnabosco lehnte sich verzweifelt an seine Wohnungstür, der Gestank seines linken Schuhs stieg ihm in die Nase. Es war nichts zu machen, er kam nicht in seine Wohnung hinein. Den Schlüsseldienst konnte er nicht rufen, da sein Handy noch in der Wohnung lag. Er nahm seine Schuhe und legte sie unter die Fußmatte, um den Gestank zu dämpfen. Dann setzte er sich hin und fluchte leise. Ihm war kalt, er wollte schlafen.

Etwa zwanzig Minuten später wurde der Aufzug gerufen. Er fuhr ins Parterre, dann wieder auf Magnaboscos Flur. Die Tür öffnete sich. Er glaubte, einen Geist zu sehen.

Es war Clara. Magnabosco blickte sie ungläubig an und rappelte sich auf. In Socken stand er vor ihr. Er konnte erkennen, dass sie geweint hatte.

„Ich muss mit dir reden“, schluchzte sie laut und umarmte ihn heftig.

„Hast du den Schlüssel dabei? Ich habe ihn in der Wohnung liegen lassen“, sagte er leise, hielt ihr schmales Gesicht in den Händen und küsste sie auf den bebenden Mund.

„Ja, hier. Bitte, Filippo, wir müssen sprechen. Ich halte es nicht mehr aus …“, sagte sie und schloss mit zitternden Händen die Wohnungstür auf.

Magnabosco empfand keine Wut auf Clara, er hielt sie an sich gedrückt und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Minutenlang, vielleicht sogar eine Viertelstunde dauerte es, bis sie endlich reden konnte.

„Filippo, ich bin bekomme ein Kind.“

Die Taten der Opfer

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