Читать книгу Die Taten der Opfer - Simone Dark - Страница 12
Filippo Magnabosco
ОглавлениеMagnabosco überholte drei Lastwagen, dann verließ er die Autobahn an der Ausfahrt Brixen-Nord. Als er die Mautstelle passieren wollte, gab sein gelb-grauer Telepass nicht das gewohnte piepsende Geräusch von sich. Fluchend suchte Magnabosco nach ein paar Euro Kleingeld, um die Autobahngebühr zu bezahlen, fand aber seine Brieftasche nicht. Auch das kleine Fach in der Fahrertür war leer. Langsam fuhr er im Rückwärtsgang aus der engen Einfahrt heraus und sah sich nach einem Autobahnbediensteten um, der ihm die Schranke öffnen würde. Die folgenden Fahrer mussten ebenfalls zurücksetzen, einige gestikulierten genervt, andere zeigten sich geduldig und rücksichtsvoll.
Fünfzehn Minuten später bog der Kommissar in die kleine Straße ein, die zur Klosteranlage Neustift im Norden Brixens führte. Man hatte eine Tote gefunden und ihn hierherbestellt, und das um sieben Uhr morgens. Wieder vermisste er seinen Schreibtisch und seinen Computer, den er früher nur selten vor acht Uhr dreißig eingeschaltet hatte, um sich dann erst einmal einen Kaffee zu genehmigen.
Magnabosco parkte und ging die kleinen Stufen hinunter, die zum Kloster führten. Alles lag im Dunkeln, der Frühnebel ließ ihn die Engelsburg nur erahnen. Er ging durch den Torbogen, der zur Klausur und zum Wunderbrunnen führte.
Er kannte Neustift. Vor beinahe vierzig Jahren, als er und seine Familie noch in Vahrn lebten, hatte er sich mit einem Mädchen hier verabredet. Er war sechzehn Jahre alt, hatte Pickel im Gesicht und das Hirn voller irrwitziger Ideen, doch keinen Mut, sie auszuleben. Er hatte sie beim Eisessen kennengelernt und sie gefragt, ob sie einen Spaziergang machen wolle. Sie hatte gekichert und doch Ja gesagt.
Magnabosco hatte sein Glück damals kaum fassen können, sie war das erste Mädchen, das ihn nicht sofort abblitzen ließ. Sie war keine Schönheit, aber was machte das schon? Sie war fünfzehn Jahre alt, einen Kopf kleiner als er und hatte eine dicke Brille auf der Nase. Es sollte ein Spaziergang werden, Treffpunkt Kloster Neustift und dann an den Apfelbäumen entlang zurück nach Brixen, das romantische Plätschern des Eisacks zu ihrer Rechten.
Schon als sie sich in Neustift auf eine Bank setzten, versuchte er, ihre Hand zu halten. Das Mädchen – dessen Name ihm heute einfach nicht mehr einfallen wollte – nahm sie schüchtern zurück. „Ich kann nicht“, sagte sie. „Schade“, antwortete er und zupfte verlegen an seinem T-Shirt. Mit einer Abfuhr hatte er nicht gerechnet, er fühlte sich unwohl. Dann stand das Mädchen auf und ging. Magnabosco sah ihr nach, wartete eine halbe Stunde und ging dann ebenfalls wieder zu seinem Fahrrad.
Als er schließlich traurig zu Hause ankam, entdeckte er ihre Schuhe hinter der Haustür. Er ging am Zimmer seines Bruders vorbei und hörte erst ihr leises, süßes Kichern, dann das unterdrückte Stöhnen seines Bruders. Er riss die Tür auf und erwischte die beiden bei ihrem Liebesspiel.
„Magnabosco“, ließ ihn eine Stimme aufschrecken. „Wenn Sie dann bitte kommen würden. Die Spurensicherung will die Leiche mitnehmen.“
Der Kommissar wandte sich zu dem Polizisten, sein Gesicht war blass. Er ging einige Meter weiter zum Brunnen unter dem Denkmal mit den sieben Weltwundern. Während er versuchte, die Erinnerung an das Mädchen und seinen Bruder zu verjagen, näherte er sich dem Opfer.
Auf den ersten Blick konnte er eine etwa fünfzigjährige Frau erkennen. Sie lag in dem trockenen Brunnen, eingepfercht wie in einen viel zu kleinen Sarg. Ihr Kopf lag fast auf ihrer Brust, ihr Hals bildete ein Doppelkinn. Ihre Arme hatte man sorgfältig übereinandergelegt, die Beine angewinkelt. Die bräunlichen Haare waren am Hinterkopf blutverklebt. Ihre Kleidung schien intakt, dennoch fragte Magnabosco: „Vergewaltigt?“
„Sieht mir nicht danach aus. Ich hoffe nur, dass das hier postmortal geschehen ist“, antwortete Kollege Gruber aus der Scientifica und öffnete behutsam den Mund der Toten.
„Wo ist die Zunge?“, fragte Magnabosco und schluckte hart. Was für ein Monster!
„In der näheren Umgebung haben wir nichts gefunden“, sagte Gruber und rückte seine Brille zurecht. „Den Rest erfahren Sie dann in der Gerichtsmedizin.“
„Wie lange ist sie schon tot?“
„Auf den ersten Blick vielleicht seit sechs oder sieben Stunden.“
„Woran ist sie gestorben?“
„Ich weiß nicht, ob die Wunde am Hinterkopf tödlich war, dafür wird sie ja obduziert. Wir hören uns später!“