Читать книгу Die Taten der Opfer - Simone Dark - Страница 14
Filippo Magnabosco
ОглавлениеEigentlich war ihm der Bozner Christkindlmarkt zuwider. All der Trubel, diese Gerüche – ein Gemisch aus geschmolzenem Käse, Glühwein und Knödeln mit Kraut, Keksen und Früchtebrot, das sie hierzulande Zelten nannten –, Touristen aus Süditalien, Deutsche, Japaner, da und dort hörte man auch ein paar beschwipste Franzosen. Im Hintergrund sang ein zufällig entstandener Chor traditionelle Weihnachtslieder – für die Ohren des Kommissars kein Vergnügen, er bevorzugte Rockmusik. Dennoch schluckte er tapfer seinen Glühwein und tastete nach Claras Hand. Sie prostete den Freunden, mit denen sie hier waren, zu und lächelte. Auch Filippo bemühte sich zu lächeln, trank noch einmal und verschluckte sich heftig. Er versuchte, den Glühwein nicht wieder auszuspucken, was ihm mit Mühe gelang. Clara sah sich kurz nach ihm um und widmete sich wieder dem befreundeten Paar.
Es waren nun etwa acht Wochen vergangen, seit sie wieder zu ihm zurückgekehrt war, mit einem etwa würfelgroßen Baby im Bauch. Seitdem Magnabosco wusste, dass er Vater werden würde, war er glücklich, auch wenn Clara nicht mehr dieselbe war. Sie war in sich gekehrt und sprach nicht mehr oft mit ihm, schon gar nicht über das Baby und die gemeinsame Zukunft als Familie. Sie war einfach nur mehr da, körperlich. Ihre Seele, so vermutete Magnabosco, hatte sie woanders gelassen. Er versuchte zunächst, ausschließlich in ihrer Präsenz sein Glück wiederzufinden.
„Lass uns nach Hause gehen“, sagte er zu ihr, als er sich wieder gefangen hatte.
Clara nickte und wünschte ihren Freunden ein frohes Weihnachtsfest. Magnabosco nahm wieder ihre Hand, sie zog sie nicht fort, erwiderte seinen Druck aber auch nicht.
Schweigend stiegen sie in den Stadtbus und fuhren bis zur Pfarrhofstraße. Es nieselte, als sie die letzten hundert Meter zu Fuß bis zu Magnaboscos Wohnung zurücklegten.
„Was wünschst du dir zu Weihnachten?“, fragte er sie.
„Ich möchte nichts“, antwortete sie leise und senkte den Kopf.
„Was macht dich nur so unglücklich, Clara? Ich würde dir doch jeden Wunsch erfüllen, wenn du ihn nur aussprechen würdest.“
„Das kannst du nicht, Filippo. Lass uns bitte schlafen gehen. Der Glühwein war keine gute Idee.“
„Du hast doch nur einen Apfelglühmix getrunken. Alkoholfrei.“
„Es geht mir nicht gut, versteh das doch bitte. Lass uns ins Bett gehen. Wir sprechen ein andermal.“
Wie auch die letzten Male gab Magnabosco sich bei dem Versuch, mit ihr offen zu sprechen, geschlagen. Es würde ihm aber schon noch gelingen. Irgendwann würde Clara mit ihm reden.
*
Am nächsten Morgen saß Magnabosco in seinem Büro und starrte in den Computer. Zum wiederholten Male arbeitete er sich durch die Fotos der Toten und des Fundortes. Man ließ ihn spüren, dass er in den Ermittlungen zu der Leiche im Wunderbrunnen des Neustifter Klosters noch keinen Schritt weitergekommen war, und das, obwohl schon ein paar Wochen seit dem grausamen Mord vergangen waren. Der Staatsanwalt und sein Vorgesetzter saßen ihm mit Fragen und Ermahnungen im Nacken.
Er dachte noch mal alles durch: Das Mordopfer Elfriede Tschurtschenthaler war in Brixen aufgewachsen und hatte dort die Klosterschule besucht, die sich in der Klosteranlage Neustift befand. Entgegen dem Willen der Eltern hatte sie früh geheiratet, zwei Kinder bekommen und dann eine Arbeit als Kassiererin in einem Supermarkt im Zentrum Brixens angenommen, der sie mehrere Jahrzehnte lang nachging. Die Kinder waren inzwischen nach Österreich gezogen, um in Wien und Innsbruck zu studieren, ihr Mann war an Krebs erkrankt und vor fünf Jahren gestorben.
Alles, was Magnabosco über Frau Tschurtschenthaler erfahren hatte, klang in seinen Ohren nach einem völlig normalen Leben. Sie hatte keine Feinde, keine Schulden, keine emotionalen Altlasten – es gab keinen Verdächtigen in ihrem Umkreis, der einen Nutzen aus ihrem Tod hätte ziehen können. Magnabosco zermarterte sich das Hirn, was er übersehen hatte.
Die Kameras der Klosteranlage hatten an jenem Novembermorgen nicht funktioniert, auch der Hausmeister konnte sich den technischen Defekt nicht erklären. Der Gärtner hatte angegeben, um diese Uhrzeit geschlafen zu haben. Zeugen gab es keine.
Gerichtsmediziner Gruber hatte Magnabosco versichert, dass die Tat in der Nähe des Wunderbrunnens stattgefunden haben musste. Etwa hundert Meter vor dem Brunnen unter dem Kreuzgang hatte man Spuren von Blut gefunden, das mit dem des Opfers übereinstimmte. Also musste der Mörder – oder war es eine Mörderin? – die Kraft aufgebracht haben, die bewusstlose oder gar schon tote Frau Tschurtschenthaler bis in den Wunderbrunnen zu schleifen. Ein Kraftakt, wenn man die körperliche Fülle der Toten berücksichtigte.
Die Mordwaffe, vermutlich eine Gartenharke oder ein ähnlich spitzes Gerät mit langem Stiel, hatte man nicht gefunden. Zwanzig Polizisten hatten das gesamte Kloster und die Umgebung danach abgesucht, sogar in den eiskalten Eisack waren sie gestiegen, doch die Tatwaffe blieb verschwunden. Genauso wie die Zunge der Toten. Was dieses Monster wohl damit angestellt hatte? Ob sie inzwischen im Magen einer streunenden Katze gelandet war – oder hatte der Mörder sie wie eine Trophäe aufbewahrt? Der Gedanke an diese menschlichen Abgründe, die sich da vor ihm auftaten, ließ Magnabosco schaudern.
Am liebsten hätte er alles an den Nagel gehängt und sich einen Job als Bibliothekar gesucht, auch wenn er mit Büchern eigentlich nichts anfangen konnte, oder sich zumindest wieder in die alte Abteilung versetzen lassen, wo er in Ruhe die Diebstahlsanzeigen aufnehmen konnte. Es war einfach nicht sein Ding: Mördern hinterherjagen, sie festnehmen, ihnen in die Augen sehen. Ihre Motive verstehen. Mit der Waffe auf sie zielen, im schlimmsten Falle sogar einer von ihnen werden. Magnabosco sehnte sich einfach nur nach Ruhe, Eintönigkeit und Abstand. Menschen waren seiner Meinung nach die schlimmsten Tiere auf dieser Erde. Gemein, berechnend, grausam und hinterhältig. Selbst hier im beschaulichen, idyllischen Südtirol.
Das Klingeln des Telefons ließ Magnabosco aus seinen Selbstzweifeln auffahren. Mit der Hand schlug er versehentlich gegen die Colaflasche, die er sich vorhin aus dem Kühlschrank geholt hatte. Sie ergoss sich in einem Schwall über die Tastatur seines PCs. Er fluchte ins Telefon und suchte hektisch nach einem Taschentuch.
Seine Assistentin Carmela Pasqualina antwortete mürrisch, sie habe ihm nichts getan und außerdem sei vermutlich tatsächlich gerade die Tatwaffe gefunden worden, nach der so lange gesucht worden war: Der Gärtner im Kloster Neustift hatte eine Harke gefunden, die er seit einiger Zeit vermisste. Da sie dreckig gewesen war, hatte er sie erst einmal gründlich gereinigt und sich erst danach an den mysteriösen Mord erinnert. Dann hatte er umgehend die Polizei von seinem Verdacht unterrichtet. Magnabosco konnte sein Pech nicht fassen und machte sich auf den Weg nach Vahrn.