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Andreas Schmalzl

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Schmalzl schlug die Tür zu seinem Büro hinter sich zu. Was für ein furchtbarer Morgen. In der Redaktion herrschte Aufregung, seine Kollegen von der Chronik schienen regelrecht in Panik zu sein. Man hatte eine Leiche gefunden, im Wunderbrunnen in der Klosteranlage Neustift. Wer die Nachricht erhalten hatte, wusste Schmalzl nicht, es hatte ihn als Kulturredakteur eigentlich auch nicht zu interessieren. Was ihn jedoch interessierte, war, dass man eines der ältesten Denkmäler Brixens als Tatort oder zumindest als Fundort für eine Frauenleiche missbraucht hatte. Hätte sich der Mörder denn nicht einen weniger historischen Ort aussuchen können? Wenn er schon keinen Respekt vor dem Leben eines Menschen hatte, so hätte er doch zumindest den Denkmalschutz einhalten können.

Schmalzl massierte seinen Nasenrücken und sah in seinen Terminkalender. Sofort hellte sich seine Stimmung auf: Heute stand ein Termin mit Anne Marschall an, um ein paar Fotos für den Artikel zu schießen, der in zwei Tagen erscheinen würde.

Anne war über ihren Schatten gesprungen und hatte sich mit Schmalzl verabredet. Um zwölf Uhr würden sie sich in der Brixner Altstadt unter dem Weißen Turm treffen, um anschließend im gegenüberliegenden Restaurant zu essen. Normalerweise war Anne kein Mensch, der sich freiwillig vor die Haustür begab, das wusste Schmalzl nur zu gut. Doch er mochte sie viel zu sehr, als dass er ihren Hang zur Einsamkeit unterstützen konnte. Und so hatte er einen Deal mit ihr ausgehandelt: ein Mittagessen unter Menschen und Fotos in ihrem trauten Heim, mit all ihren Antiquitäten und Gemälden aus längst vergangenen Zeiten. Anne hatte gezögert und dann eingewilligt.

Schmalzl ging noch einmal die Zeilen durch, die er über Anne veröffentlichen würde. Wegen dieses Artikels, so überlegte er selbstsicher, würde sich Annes Leserschaft wieder einmal auf die Ladentische stürzen, um ihr Buch zu erwerben. Wenn dafür doch nur ein wenig mehr als das ewig förmliche „Dankeschön, Wertester!“ von ihr zurückkommen würde. Die ewig keusche Haltung der Schriftstellerin brachte Andreas immer mehr aus der Fassung. Manchmal, wenn er sie sah, musste er sich beherrschen, sie nicht einfach nach allen Regeln der Kunst zu verführen oder sie mit einem heftigen Kuss zu überfallen. Selbstverständlich würde er sich wie ein Gentleman verhalten, ihr nichts tun, was sie nicht auch selbst wollte. Wenn sie sich doch nur endlich eingestehen würde, dass sie sich genauso zu ihm hingezogen fühlte wie er sich zu ihr.

*

„André, wie geht es Euch? Welch eine Freude, Euch an diesem trüben Wintertag zu treffen“, sagte Anne und begrüßte Schmalzl mit einem sanften Händedruck.

„Gut geht es mir, aber erst seitdem ich aus dem Büro geflüchtet bin.“

„Was hat Euch denn in die Flucht getrieben? Das liebe Kollegium oder die Schreiberei selbst? Ich weiß nur zu gut, wie öde und traurig es anmutet, wenn man nichts zu Papier bringt und das Blatt doch längst beschrieben sein sollte.“ Um ihr Mitgefühl auszudrücken, rollte Anne Marschall ihr offenes Auge.

„Nein, nichts dergleichen ist passiert. Die Kollegen sind lieb und brav, der Artikel ist bereits geschrieben. Nur ist heute Morgen eine Leiche in Neustift aufgetaucht und nun herrscht Aufruhr im Büro. Aber ich will Sie nicht mit meinen Problemen behelligen. Lassen Sie uns essen gehen. Ich habe einen Tisch reserviert.“

„Ein Leichnam in Neustift? Was für ein Gräuel …“, antwortete sie und schlug die Hand vor den Mund.

„Ja, wirklich schrecklich. Genaueres weiß ich noch nicht. Aber wir werden es ja bald aus der Zeitung erfahren.“

*

Schmalzl beobachtete Anne Marschall, während sie vorsichtig ihr Rindersteak zerteilte und es in kleinen Stücken in ihren schmalen Mund schob. Sie sprach wenig beim Essen, ihre Bewegungen waren fahrig und sie schien ihre Mahlzeit nicht zu genießen.

„Ist alles in Ordnung, Anne?“, fragte Schmalzl besorgt. „Ist das Fleisch zäh?“

„Nein, nein“, beteuerte sie, „das Essen ist vorzüglich. Nur ziehe ich es vor, nicht in der Öffentlichkeit zu speisen. Verzeiht meine Phobie vor größeren Menschenansammlungen.“

Schmalzl sah sich im Lokal um. Bis auf eine Gruppe von sechs Frauen und drei gelangweilte Kellner war es menschenleer. Anne hatte schon ein paarmal zu den Frauen hinübergelugt und sich dann schnell wieder ihrem Essen zugewandt.

„Wir sind doch fast allein, Anne. Wovor haben Sie Angst?“

„Es ist keine Angst, André. Ich fürchte nichts und niemanden. Ich möchte einfach nur nicht in der Nähe dieses Weibsvolks sein. Verzeiht bitte meine Nervosität, aber ich würde dieses Lokal lieber verlassen. Den Kaffee können wir gerne auch bei mir zu Hause trinken, ich habe ein Naschwerk zubereitet, das Euch sicher munden wird.“

Schmalzl sah Anne ein wenig verdutzt an, nahm einen letzten Bissen und begleitete sie dann zur Theke, wo er die Rechnung für das abgebrochene Mittagessen beglich. Als sie an den Frauen vorbeigingen, hielt Anne ihr Gesicht bedeckt.

Kurz bevor sie das Lokal verließen, merkte Schmalzl, dass er seinen Hut am Tisch vergessen hatte, und ging noch einmal zurück. Er kam erneut am Tisch vorbei, an dem die Frauen saßen. Als er sie grüßen wollte, sah er in sechs weinende Gesichter, die aufgeregt ein Handy herumgehen ließen. Sie waren völlig aufgelöst und starrten sich gegenseitig geschockt an. Schmalzl schienen sie nicht zu bemerken.

Die Taten der Opfer

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