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Marlene Pittscheider

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Marlene konnte kaum mit Anne Schritt halten. Schon so oft waren sie den kleinen Weg durch das Dorf Wolkenstein im Grödental gegangen, vorbei an ein paar Hotels und Residenzen, kleinen Geschäften, der Sportanlage sowie Schildern, die auf Wanderwege hinwiesen. Sie versuchte, einen Blick auf den imposanten, schwarzblauen Langkofel und die schneebedeckte Sellagruppe zu erhaschen. Da war Anne auch schon hundert Schritte vor ihr.

Nach einer Wegkrümmung war es nicht mehr weit, senkrecht baute sich vor den Frauen die gelblich-graue Steviawand auf. Marlene musste Anne nur noch durch den Schnee bis zur Wand folgen und einige Minuten über eisige Steine und den schneebedeckten Waldboden steigen. Dann konnte sie sie auch schon erkennen: die Burgruine Wolkenstein. Sie war einer der Rückzugsorte für Anne, die sie aufsuchte, wenn sie aufgewühlt war, ihr die Ideen fehlten oder sie einfach noch mehr Abstand von den Menschen brauchte. Oswald von Wolkensteins Burgen und Schlösser inspirierten sie zutiefst und ließen sie zur Ruhe kommen.

Selbst jetzt im Winter ließ Anne es sich nicht nehmen, in die Burgruine hineinzugehen und sich in die Nische zu setzen, von der aus man den herrlichen Ausblick auf den Wald und die gegenüberliegenden Berge genießen konnte. Sie atmete tief und mit geschlossenen Augen die kalte Winterluft ein und blies dann ihren warmen, dampfenden Atem in die Mitte der kleinen Burganlage.

Marlene blieb still, schloss selbst einen Moment lang die Augen und stellte sich vor, wie Oswald von Wolkenstein hier seine Tage verbracht und gedichtet hatte, während Anne zu erzählen begann.

„Oswald war eines der sieben Kinder von Friedrich von Wolkenstein und Katharina von Villanders. Geboren wurde er auf Schöneck im Pustertal. Seine Kindheit hingegen verbrachte er auf der Trostburg, also oberhalb von Waidbruck. Friedrich und Katharina konnten natürlich nicht ständig ein Auge auf ihre vielen Sprösslinge haben. Und so begab es sich, dass Oswald vermutlich schon im zarten Kindesalter von sieben Jahren sein rechtes Auge verlor.“

„Was ist damals passiert?“, unterbrach Marlene sie.

„Beim Spiele mit anderen Kindern. Pfeil und Bogen, Jagen spielen, so waren sie eben, die lieben Kleinen. Ein Schuss ging vorbei oder traf haargenau das Auge des kleinen Oswald. Stell dir vor, was der Bub für einen Schmerz empfunden haben muss. Und wie oft er anschließend deshalb gehässig gehänselt wurde!“

„Grauenhaft, das arme Kind“, bestätigte Marlene.

„Andere Stimmen wiederum behaupten, sein eigener Bruder habe ihm das Auge ausgestochen, als Oswald etwa dreißig Jahr alt war“, erzählte Anne weiter und hauchte erneut ihren warmen Atem in die Burgruine.

Marlene fröstelte und rieb ihre Finger, die vor Kälte rot geworden waren. „Warum hätte er das tun sollen?“

„Er soll seiner Schwägerin, also der Frau des Bruders, Schmuck und Geld gestohlen haben.“

„Aber dafür hätte man ihm seinerzeit doch eher die Hand abgehackt. War nicht das die übliche Strafe für Diebe?“

Anne hob ratlos die Hände und stand auf. „Wenn ich es nur wüsste, liebste Marlene. Es wurde auch behauptet, ein Falke habe ihm das Auge mit seinen Klauen ausgekratzt. Und vor etwa sieben Jahren will man herausgefunden haben, dass das Auge durch eine Krankheit geschlossen blieb. Weißt du, obwohl ich all seine Biografien gelesen und seine Lieder studiert habe, trägt der gute Oswald von Wolkenstein mir noch immer Rätsel auf. Wer weiß, vielleicht werden sie ja eines Tages gelüftet. Lass uns gehen, Marlene, du frierst ja, dass Gott erbarm. Was hältst du von einem Stück süßer Torte hier im schönen Wolkenstein? Und einer Tasse heißen Kaffees? Ich würd’ so gern das Dörfchen und die Kirche besuchen, schon so lang war ich nicht mehr hier.“

„Gerne, Anne“, entgegnete Marlene und klopfte sich den Staub von ihren Hosen, bevor sie Anne durch den Schnee auf den sanft hügeligen Waldweg zurück ins Dorf Wolkenstein folgte.

Die Taten der Opfer

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