Читать книгу Die Taten der Opfer - Simone Dark - Страница 8
Andreas Schmalzl
ОглавлениеNachdem er Anne Marschall und ihre Assistentin bis zur Tür begleitet hatte, setzte sich Schmalzl wieder an seinen Schreibtisch. Er massierte kurz seinen Nasenrücken, dachte an die restlichen Tagestermine und beschloss kurzerhand, sie zu verschieben. Der Artikel über die Schriftstellerin durfte nicht warten.
Er rief seine Sekretärin zu sich und bat sie, sich eine Ausrede für sein Fehlen bei der Pressekonferenz einfallen zu lassen. Sie nickte kurz, biss wie immer in ihren Kugelschreiber und verließ sein Büro.
Schmalzl mochte Anne Marschall, trotz ihrer Eigenarten und ihres ungewöhnlichen Aussehens. Oder vielleicht mochte er sie gerade, weil sie nicht in die Menge passte? Weil sie so ein Sonderling war, mit ihrem geschlossenen Auge und ihrer seltsamen Ausdrucksweise, die sie nicht nur in ihren Büchern, sondern manchmal auch im Alltag verwendete?
Sprach man dann mit Anne Marschall, hatte man das Gefühl, sich in einer anderen Epoche zu befinden, irgendwo im graubraunen Mittelalter, bei Minnesängern und stinkenden Bauern, bei verfolgten Hexen und wollüstigen Wanderhuren, in einem Königspalast, im Wald bei den Gesetzlosen. Sie hatte die Gabe, ihr Publikum auf eine Reise in düstere Zeiten mitzunehmen. Es gelang ihr, die Menschen kurz vergessen zu lassen, dass sie eigentlich im 21. Jahrhundert lebten.
Plötzlich merkte er wieder, wie sehr ihn sein Büro anödete. Der aktenüberfüllte Schreibtisch, der staubige PC, all die Krümel zwischen den Buchstaben seiner Tastatur, der Fleck, den seine Kaffeetasse auf der Sonntagsausgabe der letzten Woche hinterlassen hatte. Das Gesicht einer südtirolweit bekannten Politikerin grinste ihn durch einen braunen, welligen Kreis an. Er nahm die Zeitung und warf sie in den Papierkorb.
Politik war nicht sein Ding, genauso wenig wie Sport, darum durften sich gerne die eifrigen Kollegen kümmern. Er, Andreas Schmalzl, widmete sich ausschließlich der Kultur seiner Heimatstadt: Bücher, Kino und klassische Musik waren sein Steckenpferd, dann und wann auch ein wenig Malerei und die alten, teilweise verborgenen Schätze Brixens. Mit diesen Themen fühlte er sich vollkommen ausgelastet und zufrieden. Außerdem vermittelte die Kultur ihm Beständigkeit. Sie blieb. Sie wechselte nicht wie die Gesetze und Regierungen. Und sie wurde nicht gehandelt wie Radfahrgrößen und junge Fußballspieler. Kultur blieb, ob alt oder neu, sie bedeutete Sicherheit.
*
Als Schmalzl spät an diesem Abend nach Hause kam, lag seine Katze im Halbschlaf auf dem Sofa und bedeckte mit ihrem buschigen Schwanz seine zweite heimliche Leidenschaft. Vorsichtig streichelte er das Tier, das sofort zu schnurren begann, ohne die Augen zu öffnen. Dann zog er die CD unter seinem Schweif hervor und putzte sie sorgfältig mit dem Hemdsärmel ab. Lächelnd legte er sie in den Player, den er eigens für diese CD gekauft hatte. Sofort ertönten poppige Violintöne: eine Coverversion von Britney Spears’ … Baby One More Time.
Niemals hatte Schmalzl einer Menschenseele von dieser CD erzählt. Als Spears in den Neunzigerjahren aufgekommen war, hatte er sich trotz des Altersunterschiedes heftig in den amerikanischen Popstar verliebt. Sie war so süß gewesen in ihrer Schulmädchenuniform. Mit ihren blonden Haaren und den dunklen Rehaugen hatte sie es Schmalzl angetan. Das Einzige, was er an ihr nicht sonderlich mochte, war ihre knatschige Stimme. Oft hatte er ihre Videos betrachtet und die Musik auf lautlos gedreht.
Eines Tages dann hatte er unter einem Vorwand einen Freund und Violinisten gebeten, einige ihrer Stücke nachzuspielen und für ihn aufzunehmen. Der Freund hatte ihn zwar für verrückt erklärt, ihm aber dann doch den Gefallen getan. Seitdem lauschte Schmalzl in seinen ruhigen, einsamen Stunden den vergeigten Stücken seines heimlichen Popstars.