Читать книгу Johanna verrückt die Geschichte - Sönke Bohn - Страница 10
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Bald – Johanna geht schon eine Weile zur Schule – fängt sie an, erst ihre Puppen und dann sich zu verkleiden. In einer fremden Hose, einem fremden Hemd ist mehr versteckt als nur eine kleine äußerliche Abwechslung. Ein Leibchen überzuziehen wird zu einer kleinen Entrückung, sich eine Überhaut überzustülpen die Gelegenheit geben, sich in ein Anderssein, vom Gewohnten in ein Fremdvertrautes, einzufühlen. Statt Reinkarnation: Reinvestition, großartig: Man ändert sich etwas und kommt sich dabei näher, weil das ja gleichbleibt, das Untendrunter sich ja nicht auch noch ändert, nur die Haut. Es wird nur anders ausgeleuchtet und erfährt neue Möglichkeiten, Selbst zu sein. In den Schachteln im Keller findet Johanna die von den großen Brüdern abgelegten alten, nicht zu großen Hosen; Hosenträger und Mütze borgt sie sich aus.
Sie schnappt sich die Sachen, zieht sie an, krempelt eine Hose hoch zum Knickerbocker, lässt das Hemd ein wenig offen, dazu ein Halstuch, die leider noch etwas zu großen Schuhe schnürt sie etwas fester, und posiert dazu passend mit einem breiten Schritt. „Schaut mal, wer ich bin“. Aufmarsch zum Kaffeeklatsch, da kommen alle Kollegenfrauen, jede zweite Woche, immer reihum. Die Damen sind etwas verwundert, huch, was macht sie denn, dein Mädchen? Mutter lacht, wird rot im Gesicht, redet etwas viel dabei, aber es bleibt bei Satzanfängen, sie stammelt, vor allem aber nimmt sie die Kleine bei der Hand und führt sie wieder hinaus, möchte, dass das Kind ihr jetzt ganz tief in die Augen schaut, und sagt etwas, das Johanna, ganz verdutzt, gar nicht versteht. Weshalb ist es der Mutter so peinlich? Was war das denn? Hab’ doch nur gespielt.
Später – die Gäste sind schon gegangen – will die Mutter es dann doch noch genau wissen. „Du willst Hosen tragen? Weshalb willst du Hosen tragen? Wenn Großvater das sieht! Großvater will das nicht, das gehört sich nicht.“ Und: „Nein, die Zöpfe bleiben dran. Das ist doch sooo flott mit deinen Zöpfen.“
Johanna irritiert Mamas übertriebene Aufwallung. So pingelig, und immer gibt es so ein Spektakel. Andauernd und zu den unmöglichsten Gelegenheiten. Da geht die Welt doch nicht von unter. Sie versteht nicht, warum die Mutter verlegen wird. Ist doch normal, man will doch mal was ausprobieren und ist neugierig. Wieso die Nase rümpfen, und wenn doch, wieso über so etwas?
Aber auch das „Pfui, die schmusen auf der Straße!“, die langen Koteletten von Herrn Schnur, seine weißen Autoreifen, die dick geschminkten Wimpern von Frau Sassner: Sich über sowas Nebensächliches empören ist schon komisch, kommt aber täglich vor und bestimmt damit einen Großteil des Lebens. Ohne „Huch?!“ empören, empören, empören. Da gibt es einen riesigen Katalog von „Tut man – tut man nicht“. Auf Zettel aufgeschrieben wären es ganze Badewannen voll. Man kann sehr viel falsch machen und eh man sich versieht, ist man aus dem Rahmen gefallen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was dann wäre! Hingegen: Uniformen, die sind schneidig! So wie auf den Fotos der im Krieg gefallenen Brüder, ziemlich stramm. Johanna aber kennt kaum Leute in Uniform. Nur den Herrn Papp, das ist unser Polizist. Der aber ist nicht schneidig, der ist feist.
Also bleibt einem wenig anderes übrig, als sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Zum Beispiel über ein Unkraut zwischen den Gartenplatten, oder die glänzende Ringelnatter in der Ecke am Haus auf der Terrasse, der der Nachbar mit einem Spaten zu Leibe rückt, auf sie einhackt, als ob das Heil der Menschheit von ihrer Vernichtung abhinge, erregt, laut, aufgeregt. Überlaut, überüberaufgeregt.
Was war das für ein schöner Sommertag gewesen! Papa ist bei der Arbeit, ich glaube, ich spiele in der kleinen Sandkiste, auf der Terrasse. Dann seh ich sie, hinten in der Ecke, wie sie langsam und leise über die warmen, im Wechsel gelblichen und bläulichen Platten schlängelt. Was ist das, eine Giftschlange, wird sie mich entdecken und mir Gift in meine Beine spritzen und dann werde ich sterben? Da rufe ich um Hilfe und schon kommt Mama aus der Terrassentür, was ist denn, meine Kleine? Mama, da liegt Kala Nag, sie wird uns totbeißen. „Um Himmels willen, Hilfe“, ruft sie, aber es kommt niemand, wer auch! Nun liegt die Schlange ruhig da, zusammengerollt, gleich wird sie sich aufbäumen, mit ihrer gespaltenen Zunge das junge, zarte Kind wittern und Kraft ihrer alten, verschlagenen Bosheit direkt auf die Sandkiste zugleiten und an dem vor Angst gelähmten Kind über die Beine zum Hals hinaufklettern und ihre beiden Giftzähne tief in den Hals hineinschlagen. Lautlos das Ganze, ich werde erst noch schreien, dann vor Schreck verstummen und da reißt mich schon Mama aus der Sandkiste, komm mit, schnell weg von hier, wir gehen nach vorne, holen uns Hilfe.
Das ist mal aufregend! Eigentlich will ich nicht gehen, das Drama hat ja kaum angefangen. Wir retten uns, entsetzt, und laufen um das Haus herum, Mama, du bist ganz blass und da sehen wir glücklicherweise den Nachbarn, wie er sich mit Glanzpolitur an den Chromblenden der Vorderlichter seines weißen Ford Taunus zu schaffen macht. Durch seine getönte Pilotenbrille alle Schlieren genau begutachtend, mit aller gebotenen Sorgfalt, poliert, ja wienert er sehr eifrig sein sportliches Auto. Er wird wohl gleich unsere Rettung sein, männliche Tatkraft, zielstrebig, durchsetzungsfähig und voll starker Hingabe, und die beiden Schulterklappen geben ihm oberdrein – als ob seine drahtige Erscheinung so etwas noch nötig hätte – einen offiziellen, quasi soldatischen Anstrich. Einfach ein richtiger Mann, einer von Rang.
Ihnen kurz helfen, Frau Börnsen? Wo brennt’s denn? Was, eine Schlange an Ihrem Haus, auf der Terrasse, dort wo das Kind spielt, bei der Sandkiste? Und schon geht er in seine Garage, packt mit seinen kräftig behaarten Armen einen Spaten, nun schon fast im Laufschritt aus der Garage kommend, kehrt noch einmal um, sucht kurz und zeigt sich alsbald mit zwei kräftigen, vor einem möglichen Schlangenbiss zumindest einen gewissen Schutz bietenden Handschuhen bewehrt. Nun schon auf unserem Grundstück kehrt er abermals um, um seine Sandalen mit dunkelgrünen, wadenhohen Gummistiefeln auszutauschen. Man kann ja nicht wissen. Das ist schon sehr umsichtig und schafft Vertrauen bei Mama und bei mir.
Was ist das endlich mal aufregend!
Dann zeigen Sie mal, und schon sind wir auf dem Weg, schön flott, zunächst, dann langsamer. Ist die Böse, das Ungeheuer uns gefolgt, lauert es hinter der Ecke, wie wird sie probieren, uns anzufallen. Das alles ist sehr spannend. Johanna, bleib bei mir. Mama nimmt mich an die Hand und drückt irgendwie ein wenig fester als nötig zu, aua, nicht so doll, ich lauf nicht weg und Herr Schnur geht langsam voran, guckt vorsichtig um die Ecke, da liegt sie noch, bleib bei mir, Kleines, als ich versuche, ein wenig näherzukommen, denn irgendwie ist es mittlerweile schon meine Schlange geworden, was jetzt wohl passiert, da will ich zugucken, lass mich bitte. Entschiedenen Schrittes geht Herr Schnur auf das Tier zu. Ohne den bösen Eindringling aus den Augen zu lassen, räumt er die der nun folgenden Bereinigung der Situation im Wege stehenden Gartenstühle mit ein, zwei Tritten aus dem Weg. Da liegen sie nun, die Gartenstühle, umgekippt. Doch ihn hat es nicht entspannt.
Oh, mein Gott, hier haben wir wochenlang immer gesessen und keine Ahnung gehabt, was für eine Gefahr uns droht. Frau Börnsen, keine Kobra, das kriegen wir schon. Die hat sich mittlerweile ganz zusammengerollt, ob sie Böses im Schilde führt oder etwa Böses ahnt? Und mit der flachen Seite des Spatens schlägt Herr Schnur auf das kleine zusammengewickelte Paket erst einmal, dann ein zweites und ein drittes Mal, dann noch zwei weitere, nun nicht Schläge, sondern Stiche. Mamas Hand drückt jedes Mal mit zu und ich schaue nicht mehr nur gebannt zu dem erregt und irgendwie übertrieben zuschlagenden Herrn Schnur, sondern spüre irgendwie verstört, wie Mama nicht nur erleichtert, sondern nun anders erregt ist. Sie findet was an dem Herrn Schnur, sonst sind es nur Bemerkungen, die klarmachen, er ist nicht so wie wir, und er ist dadurch auch unangenehm anders – und nun: Bewunderung.
Mein Mann ist nicht da, er hätte wohl mehr Mühe damit gehabt, ein Glück, dass Sie das in die Hand genommen haben, Herr Schnur, wir hätten das nicht geschafft, Sie sind wirklich großartig, wie Sie uns geholfen haben, so männlich … und schon schäme ich mich, meine Schlange ist tot und nun bin ich verstört, denn ich merke: Ich störe. Nun wird etwas geschehen, was nur geschieht, weil ich da bin, die verstümmelte kleine Schlange wird auf eine kleine Kinder-Schaufel gelegt und Herr Schnur trägt sie, Spaten dabei, vorn zur Straße. Da wird vor dem Kantstein ein kleines Loch gebuddelt und das tote Tier hineingeworfen, alles zugescharrt und gut ist. Mittlerweile ist auch Herr Sassner aus seinem Garten gekommen, ah, eine Ringelnatter, ja die haben wir auch im Garten, sind ja Gott sei Dank harmlos und so nützlich – was die Bewunderung Mamas nicht schmälert, also, wir wussten ja nicht und das Kind, sie meint mich – nun schon nicht mehr an der Hand, die Erde über dem kleinen Grab glattklopfend – das Kind war in der Sandkiste, na, Sie haben keine Kinder, das können Sie ja gar nicht verstehen. Ach, Herr Schnur, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, nun muss ich mich aber erst mal von meinem Schreck erholen, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Aquavit oder ein Bier? Ach gerne, und schon sind wir auf dem Weg zum Haus und plötzlich droht neue Gefahr, ich bin irgendwie verstört, Mama findet ihn toll und seine Frau ist so voll dick, da ist Mama schon schöner, möchtest du nicht wieder draußen spielen, er guckt auf ihre Brüste, Mamas sind groß und fest. Ich will unserem lieben Nachbarn noch etwas anbieten, aber so kenn ich Mama gar nicht und wenn sich Herr Schnur jetzt an den Tisch oder gar auf das Sofa setzt, wird er sich vielleicht noch Mama als Belohnung nehmen. Mama hat ja schon mal gesagt, dass er nichts anbrennen lässt. Mama ist grad so anders, ich glaube, sie vergisst sich – und Papa – mir ist das zu viel, nein, ich mag nicht spielen, ich will bei dir auf den Schoß. Na, dann komm. So bleibt es bei dem kurzen Begehren, in der Nachbarschaft ist sowas ja auch schwierig, das gäbe sicher Gerede und Mama kann ihn noch ein wenig bewundern und anhimmeln. Er trinkt sein Bier, leckt sich den Schnauzbart und kratzt sich zwischen den Beinen.