Читать книгу Johanna verrückt die Geschichte - Sönke Bohn - Страница 13
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Alles, also vor allem im Alltag, ist harmlos, und zwar oft etwas öde, aber erträglich, eigentlich, ja. Andere Kinder haben kein Essen, oder haben Eltern, die sie zu oft schlagen.
Und doch, wenn sie nur einmal eine kleine Zustimmung erfahren würde, ein „Ja“ oder eine kleine verständnisvolle Gebärde, ein „Na so was“ oder ein „Wird schon“. Es gibt leider nur Belohnungen oder Strafen.
Aber – wie auf einem Schwebebalken – Johanna hält den Kurs. Immer schön geradeaus, nicht hinuntergucken – und, pausenlos: probieren, das Gleichgewicht zu finden. Das Gleichgewicht zu dieser ihrer Welt, denn alles, was sie ist, ist sie durch, mit und von ihren Eltern, den Brüdern, den anderen Kindern, der Schule, der Nachbarschaft und allen möglichen Leuten. Aber auch was sie so selbst für sich mag und will und denkt, darf sie bitte ja nicht vergessen. Und davor hat sie eine kleine, feine Angst:
„Gehe ich ganz mit euch, dann verblasst das, was irgendwo aus dem Ohne-euch auf mich wartet. Später einmal, meine Füße würden mich dann da nicht hintragen; oder ich würde direkt davorstehen und es gar nicht erkennen. Das, was für mich aufgehoben ist. Ich will nicht eure Farbe annehmen, nicht ins Tintenfass gesteckt werden!“
Da ist der Wunsch, den hellblauen Siegelring, wie ihn der Vater trägt, mit einem kleinen gelben Stern zu zieren. Ja, mit diesem Stern. Sie kritzelt ihn auf den Heftdeckel, hätte gern eine Kette mit so einem Sternchen.
Doch den Stern gibt es nicht, wie kommst du auf den Stern? Auch kein Kreuz. Wenn alles gut geht, kann es mal ein Herzchen werden. Besser noch ein Marienkäferchen, und dann aus Emaille. Kleinemädchenkram, da hat sie ja auch gar nichts dagegen, aber dieser Stern wäre ihr schon lieber. Ein schönes rotes Marienkäferchen mit schwarzen Punkten und dieser gelbe Stern an einem Armkettchen, das wär’s.
Johanna sucht sich stattdessen kleine Ventile, um ihr „Ich bin nicht nur das kleine Mädchen, das ihr immer mal wieder einfach so rumschubst, ich bin doch auch fremd und ganz anders, seid bitte ein wenig vorsichtig mit mir“ wenigstens irgendwo im allgemeinen Tagesverlauf unterzubringen. Dem neu zugezogenen Jungen von schräg gegenüber, der sogar in die gleiche Klasse mit ihr kommt, quatscht sie die Ohren voll. Sie setzt richtig einen drauf, tühnt, was das Zeug hält, voller Eifer. Sie erzählt, was nun wirklich nicht wahr ist, doch wie sie so gern wäre, wie sie es so, so gern hätte. Nicht nur ein deutsches Kind, sie sei auch ein wenig jüdisch, durch die Urgroßmutter, sogar auch italienisch und amerikanisch und uruguayisch, das sei schon ziemlich kompliziert. Auf einem Dampfer geboren, auf dem Weg von Südamerika nach Europa, der fuhr unter italienischer Flagge. Deshalb. Da weiß man gar nicht mehr genau, wer man nicht auch noch sein möchte. Am liebsten alle zugleich.
Diese rührend zarten inneren Regungen und die unbeholfenen Versuche, sie irgendwie auszudrücken, ihnen ein Kleid zu geben, gleichen winzigen, flatternden Vögelchen, kleinen wunderfarbig schillernden Kolibris, die in der Luft vor riesigen Blüten stehen. Kolibris, die so schön in der Luft stehen können, die aber auch so gerne einmal einen Ast zum Landen fänden. Dort dann einmal ruhen dürfen und dann aus den Zweigen heraus glücklich und freudig zwitschern.
Stattdessen bekommt die kleine Amsel, die gegen die Fensterscheibe geflogen ist, ein mit aller Liebe bereitetes, schönes Grab. Richtig bestatten, das muss schon sein. Auf den Knien, mit der kleinen grünen Handschaufel, eigentlich mehr fürs Sandburgenbauen, den vertrauten Erdgeruch in der Nase, dann sehr liebevoll mit den Händen, alles rund und gemütlich, soweit es geht, mit zarten Blättern und Moos, das kleine, fast seidene Vögelchen in die Grube, frisches Gras drüber, noch ein Küsschen, der Flaum ist so zart, mit Erde das Loch aufgefüllt, ein kleiner Hügel und oben drauf ein kleines Kreuz aus Stöckchen. Wenigstens richtig begraben, wenn man es denn schon kann. Ja, es ist diese zarte Amsel, aber irgendwie ist das ganze Ritual auch stellvertretend.