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Johanna entwickelt sich – misstrauisch beäugt und Verunsicherung erregend – anders, als es sich die Eltern in ihren Hoffnungen erträumen, als die Erwartungen vorzeichnen. Betrachtet man ihr Können, ihr Tun und Lassen, bietet sie vieles, das den familiären wie gesellschaftlichen Erwartungen nicht nur gerecht zu werden scheint, sondern fast schon Verheißungen innerhalb der Erwartungen weckt. Johanna ist musikalisch und sehr sprachbegabt. Mathematische und physikalische Aufgaben erledigt sie nicht nur kenntnisreich und verständig, sondern sogar noch gerne. Einfach so. Das wünscht man sich doch! Aber was pfriemeln sie nicht alles an ihr rum, was wollen sie da aus ihr machen, wo wollen sie sie hinführen? Sie gucken was in sie hinein, ein Später-Bild dessen, was sie werden soll. Und das ist nicht das, was ihr, so diffus es auch sein mag, vorschwebt, was sie werden will.

Darunter aber ist ein Innenleben, und das fühlt sich schon zu Hause an wie in einem Exil. Exile sind Orte des Verstört-Seins. Man fühlt sich fremd. In einem Exil ist man vor allem außerhalb, wirklich ankommen, hereinkommen, hineinwachsen – das geht nicht. Dann wäre es kein Exil mehr.

Zugleich hat Johanna dabei immer das Gefühl, sie sei ganz durchsichtig, alles andere als ein Buch mit sieben Siegeln, alles läge offen, sie sei wirklich gut lesbar. Wenn nur jemand des Lesens fähig wäre!

Ihr Zuhause, ihr „Nest“, scheint ihr wie zusammengezimmert, von ebenso beinharten wie bösen Zauberern und fiesen, grau uniformierten, mit Hornbrillen auf der Nase ausgestatteten Hexen, deren ausgedachte Normen über das Ansehen, das Angesehen-Werden, über das 1x1 des Mädchenseins. Für ein Leben in der vierzehnten Reihe, Platz Nummer 13, ganz weit außen, mit leichter Sichtbehinderung möge man dankbar sein und gefälligst den Mund halten und seine Aufgaben machen.

Diese unglaubliche Macht vermeintlicher Gedanken tatsächlicher Nachbarn, der Kollegenfrauen, der lieben Verwandtschaft. Reinster Voodoo, soviel ist ihr klar. Fixe Erwartungen, fixe Ideen. Fixiert werden ohne dieses komische Formaldehyd; einfach so in die Flasche rein und schnell einen Deckel drauf.

„Ausgeschlossen!“ Das ist für die Heranwachsende ein sehr schmerzhaftes Wort. Und was ein Zuhause sein sollte, ist ein Ort des Eingeschlossenseins, weil da so vieles ausgeschlossen ist.

Mit zunehmender Schärfe der Themen wird es nun auch und vor allem familiär bedrohlich. Sie ist bald dauerverstört, verstört aber auch ihre Mama, ihren Papa, ja, auch die Brüder. Etwas an ihr ist bedrohlich, den Alten – und auch ihr – unbewusst. Man beginnt sich ihrer vor der Verwandtschaft zu schämen. Worin besteht die Bedrohung?

Güte und Teilnahme, jemanden zum Reden, Verstehen, Fragen oder zumindest sanfte, verwunderte Duldung, danach sehnt sich Johanna sehr, intensiv und latent zugleich; sie erfährt es aber nicht.

„Wie sind sie so geworden? Meine Eltern sind gebildete Menschen, sie haben viel gelesen und bestimmt vieles erlebt. Warum sind sie mir gegenüber so misstrauisch, warum haben sie so viel Angst vor dem, was andere denken könnten? Warum so wenig Lust und Freude, warum sind sie nur laut, wenn sie streiten?“

Johanna verrückt die Geschichte

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