Читать книгу Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig - Страница 16

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Zu Hause begannen wir aufmüpfige Literatur zu lesen. Woher aber hatten wir die Schriften von Marx, Engels und Freud? Wir gammelten tagsüber am Opernplatz rum, wann immer wir Zeit fanden. Statt Hausaufgaben zu machen, zwitscherte ich ab. „Lollo!“, rief ich meiner Mutter zu – so nannte ich sie, weil mein Vater sie so nannte, denn sie sah in den Augen meines Vaters der italienischen Schauspielerin, Fotografin und Bildhauerin Gina Lollobrigida recht ähnlich: „Ich fahre mal mit der Tram in die Stadt.“ Wir wohnten zwar in der Stadt, im urbanen Stadtteil Bornheim, aber wenn man in „die Stadt“ ging, dann bedeutete es, dass man zur Zeil, jener bekannten Einkaufsstraße der Wirtschaftswundermetropole, oder zum Opernplatz oder zur Hauptwache ging.

Am Opernplatz befand sich der Marshallbrunnen, der seinen Namen dem von 1947 bis 1949 amtierenden US-Außenminister zu verdanken hatte. Der Marshall-Plan pumpte gleich nach dem Sieg über die Nazis aus dem völlig unzerstörten Nordamerika 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa, um hier gegen die durch den Krieg fast völlig deindustrialisierte Sowjetunion zu punkten.

Verkauft wurde uns diese Aktion von der BILD-Zeitung und von anderen US-hörigen Pressesatelliten Jahr für Jahr in einhämmernder Weise als „großzügige und uneigennützige Hilfe aus den Vereinigten Staaten“. So hatte ich es auch in der Grundschule gelehrt bekommen. Und von meinen Eltern gehört. Und von meinen Verwandten. Und so sprachen und dachten auch unsere Nachbarn. Und diese Lehre saß sehr tief. Sogar äußerst tief, und sie wirkte äußerst lange nach – bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, als ich begann, Fragen zu stellen.

Ein uralter Gammler, er war gewiss schon Mitte zwanzig, erklärte mir bei einem Protest-Sit-in wegen des US-Vietnamkrieges an der Alten Oper, was er von der amerikanischen Nachkriegs-Hilfe hielt. „Die sogenannte Hilfe ist nichts weiter als das umfangreichste Bestechungsgeld, das weltweit jemals floss.“

Ein Jahr später arbeitete ich diese Aussage in mein Geschichtsreferat ein: „Die Marshallplan-Hilfe entspricht heute rund 129 Milliarden Dollar. Damit schufen sich die USA wirtschaftlich-politischen Einfluss und sicherten sich langfristig einen großen westeuropäischen Absatzmarkt für ihre Waren und Ideologien.“ Mein sozialdemokratischer Sozialkunde- und Geschichtslehrer gab mir darauf eine „ungenügend“. Er war sechs Jahre zuvor aus der „Zone“ geflohen.

Sexy Zeiten - 1968 etc.

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