Читать книгу Goschamarie Der letzte Abend - Stefan Mitrenga - Страница 11
Оглавление6
Walter wurde von seiner inneren Uhr geweckt und sah verschlafen auf die Anzeige des Radioweckers. Fünf nach elf. Perfekt. Er streckte sich genüsslich und langte nach seinem Morgenmantel. Erst jetzt fiel ihm die Baustelle ein. Er hielt inne und lauschte. Da war ein dumpfes Wummern, aber so leise, dass es kaum auffiel.
Gut gelaunt ging er in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Kurz darauf stand er mit einer dampfenden Tasse auf der Terrasse.
„Walter im Morgenmantel! Wie habe ich diesen Anblick vermisst!“
Walter fuhr herum.
„Mirco – das gibt’s doch nicht! Schön dich zu sehen!“
Mirco war bei Liesls Renovierung der Vorarbeiter gewesen, und offensichtlich auch auf der neuen Baustelle tätig.
„Wir haben ja ständig mehrere Baustellen und als ich hörte, dass wir wieder einen Auftrag in Taldorf haben, habe ich mich gleich eingeteilt.“
Mirco kam zu Walter auf die Terrasse und die beiden Männer umarmten sich herzlich.
„Dann kann ich ja sicher sein, dass es keine Probleme gibt“, freute sich Walter.
Mirco wiegte den Kopf hin und her. „Da bin ich mir nicht so sicher. Als wir heute Morgen anfangen wollten, stand da so ein Spinner mit seinem Traktor. Er hatte ein Plakat: Stoppt den Bauwahn in Taldorf. Erst als wir den Traktor mit dem Bagger wegschieben wollten, ist er weggefahren. Hat geschimpft wie ein Rohrspatz.“
„Das war Kuse“, erklärte Walter. „Der hatte diese Wiese hier die letzten Jahrzehnte gepachtet und auch die Hochstämme gesetzt. Er will nicht, dass sie rausgerissen werden.“
Mircos Blick war besorgt. „Ist der Mann gefährlich?“
Walter lachte. „Kuse? Gefährlich? Nein, nein. Er mag es nur nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden und ist deshalb angefressen. Aber der fängt sich schon wieder.“
„Falls es ein Trost für diesen Kuse ist: es kommen gar nicht alle Bäume raus. Nur die paar hier vorne“, Mirco zog mit der Hand eine Linie in die Luft. „Die anderen bleiben stehen.“
Walter freute sich das zu hören. Auch er fand es schade um jeden Baum, der gefällt werden musste.
„Übrigens: danke, dass es auf der Baustelle so leise zugeht. Ich habe bis gerade eben durchgeschlafen.“
Mirco hob abwehrend die Hände. „Das ist nicht mein Verdienst.“ Er zeigte auf einen großen Bagger, der dabei war Erdreich abzutragen und auf einen LKW zu kippen.
„Die neuen Maschinen sind von sich aus so leise. Kein Vergleich zu den alten Dingern. Und außerdem haben wir hier unseren besten Fahrer am Start. Den musst du kennenlernen!“
Mirco ging zum Zaun und signalisierte dem Baggerfahrer mit wilden Gesten sein Fahrzeug abzustellen und rüberzukommen.
„Das ist Sabit“, stellte er den jungen Mann kurz darauf vor. „Er vollbringt mit seinem Bagger wahre Wunder.“
Walter schüttelte Sabit die Hand und bemerkte seinen skeptischen Blick.
„Oh, der Morgenmantel“, lachte Walter. „Keine Angst: ich laufe nicht immer so rum. Ich habe nur etwas andere Arbeitszeiten und bin gerade erst aufgestanden.“
„Ischt kei Problem“, lachte Sabit zurück. „Du kasch macha, was du willsch. Isch ja dei Zuhause.“
Der Baggerfahrer sprach in einer seltsamen Mischung aus Schwäbisch und einem ausländischen Dialekt.
„Sabit kommt aus Albanien“, erklärte Mirco, der Walters fragenden Blick richtig gedeutet hatte. „Aber sein Deutsch wird immer besser!“
Sabit freute sich über das Lob und zeigte zu seinem Bagger. „War schee di kennenzulerna, Walter. Aber i mach mal wieder. Weisch ja: Wer baggert da so spät noch am Baggerloch, das ist Sabit mit dem Bagger und der baggert noch.“
Walter hatte ein Déjà vu.
„Du machst nicht zufällig gerade einen Deutschkurs mit Liedern und Sprichwörtern?“
„Woher weisch du?“, grinste Sabit und ging zurück zu seiner Maschine.
Als Mirco sich verabschiedet hatte, war Walter hineingegangen und hatte sich angezogen. Kurz darauf saß er zum Mittagessen an Liesls Tisch.
„Hast du gewusst, dass Mirco drüben auf der Baustelle ist?“, versuchte er Liesl zu überraschen.
„Natürlich. Du vergisst wohl, dass ich viel früher aufstehe als du. Ich habe schon heute Morgen mit ihm gesprochen.“
Walter zog einen Schmollmund. „Und ich dachte, ich könnte dich überraschen …“
Liesl nahm ihn in den Arm. „Mach dir nichts draus. Es ist schön ihn wiederzusehen. Ich freue mich schon darauf, hin und wieder ein Feierabendbier mit ihm zu trinken.“
„Perfekt. Dann fahre ich nachher noch zum Weißenbacher und hole zwei Kästen. Nur zur Sicherheit.“
Der Getränkeladen in Oberteuringen war Walters erste Wahl, wenn es um Bier ging. Das Sortiment war riesig und verführte ihn immer wieder dazu neue Sorten auszuprobieren. Diesmal entschied er sich für eine kleine bayerische Brauerei, die ihr Bier in 0,33-Liter Flaschen mit Bügelverschluss anbot. Er liebte das „Plopp“ beim Öffnen. An der Kasse stellte er fest, dass sich die Brauerei diese Extravaganz teuer bezahlen ließ, doch es war ihm egal.
Die Bierkästen klapperten bei jeder Unebenheit ungeduldig im Kofferraum von Walters Peugeot 205. Erst vor kurzem hatte er sich von seinem alten Wagen trennen müssen, doch seine Freunde hatten ihm geholfen dieses Schmuckstück zu finden. Zwar war rot nicht seine Lieblingsfarbe, doch dafür war es ein Cabrio und Walter freute sich schon darauf ohne Dach zu fahren, sobald die Temperaturen es zuließen. Immerhin hatte er das Fenster auf der Fahrerseite schon geöffnet und lehnte lässig den Arm auf.
In Taldorf fuhr er bewusst langsam und grüßte jeden, den er sah. Heute waren es Manne und Otto, zwei weißhaarige Rentner aus dem Vorderdorf, die passiv fleißig ihren Mährobotern bei der Arbeit zusahen.
Schon von weitem bemerkte er zwei Polizeiautos, die vor seinem Haus parkten. Im Gegensatz zu den meisten Menschen freute sich Walter darüber. Einige seiner Freunde waren Polizisten. Sie hatten zueinander gefunden, als sie gemeinsam den Tod des alten Pfarrers aufgeklärt hatten. Auch nach Ende der Ermittlungen trafen sie sich jeden Samstagmorgen auf dem Ravensburger Wochenmarkt an Francescos Kaffeestand, um Neuigkeiten auszutauschen. Walter hatte das Treffen am vergangenen Samstag wegen des Spatenstichs widerwillig abgesagt, umso mehr freute er sich jetzt über den Besuch.Er parkte neben den Streifenwagen und stellte eilig die Bierkästen in die Garage. Er lief durchs Haus auf die Terrasse, doch da war niemand. Irritiert lief er zu Liesl, die mit Balu und Eglon im Garten stand.
„Hast du die Jungs gesehen?“, fragte er außer Atem. „Die Autos stehen im Hof, aber ich weiß nicht wo sie sind.“
„Die sind wohl nicht wegen dir hier“, antwortete Liesl und zeigte zur Baustelle.
Sabit war gut vorangekommen, am oberen Rand war die Baugrube bereits einen guten Meter tief, doch der Bagger stand arbeitslos auf der Wiese, während mehrere Personen an einer Stelle zusammenstanden. An dünnen Pfosten war ein rot-weißes Absperrband verknotet und markierte ein etwa drei mal drei Meter großes Quadrat.
Etwas war passiert. Walter lief geradewegs über die Wiese zu der abgesperrten Stelle. Hatte Sabit einen Unfall gehabt? Hatte er irgendeine vergessene Stromleitung gekappt? Oder war er auf einen Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg gestoßen? Walter befürchtete das Schlimmste.
„Walter, da bist du ja“, begrüßte Kripo-Hubert seinen Freund. „Wir hatten bei dir geklingelt, aber du warst nicht da. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir vor deinem Haus parken?“
„Natürlich nicht“, lächelte Walter. „Ihr wisst doch, dass ihr immer willkommen seid.“
Auch Manni und Streifenkollege Hans kamen herbei und begrüßten ihren Freund.
„Schön dich zu sehen“, sagte Manni herzlich, senkte aber den Blick. „Nur schade, dass es unter diesen Umständen passiert.“
Walter blickte sich fragend um und sah erleichtert, wie Sabit hinter seinem Bagger hervorkam. Ihm war also nichts passiert. Er zeigte stumm auf die abgesperrte Stelle, was Kripo-Hubert mit einem Nicken beantwortete. Er ging an die Absperrung und versuchte etwas zu erkennen, doch da waren nur Erde und Steine. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Walter einen halbrunden Gegenstand, der wie ein großer Kiesel aussah. Unter der flachen Wölbung klaffte ein dreieckiges Loch, links und rechts davon befanden sich zwei dreckverschmierte runde Öffnungen. Kein Zweifel: ein menschlicher Schädel.
Balu sagte zwar immer, dass er alles tat, um Walter zu beschützen, doch in diesem Fall war es pure Neugier gewesen. Er war Walter zusammen mit Eglon gefolgt und blickte nun ratlos auf den lehmverschmierten Schädel.
„Na toll“, schimpfte er. „Doch wieder eine Leiche.“„Und das direkt hier neben uns auf der Wiese“, maunzte Eglon angewidert. „Wie lange die da wohl schon liegt?“ Balu schob seine Nase vor und schlüpfte schnüffelnd unter dem Absperrband hindurch.
„Hey Walter! Pass auf Balu auf!“, rief Kripo-Hubert aufgeregt. „Das ist ein Tatort. Da hat er nichts verloren. Das gilt auch für den dicken Kater!“
„Ich bin nicht dick“, nörgelte Eglon, während Walter ihn und Balu hinter die Absperrung zurückzerrte. Widerwillig legten sie sich ein paar Meter abseits ins Gras und beobachteten die Menschen. „Hatten die jetzt Angst, dass ich den alten Knochen klaue?“, ärgerte sich Balu. „Vielleicht dachten sie, du pinkelst drauf …“, grinste Eglon und leckte an seiner Vorderpfote. „Das ist ein Tatort! …“, äffte er Kripo-Hubert nach. „Als ob wir das nicht kapiert hätten, ha!“„Genau. Und er vergisst dabei eins: unsere Sinne sind viel besser als seine“, ärgerte sich Balu. „Was meinst du? Hast du etwas gerochen?“, fragte Eglon, der nicht so nah an den Schädel herangekommen war. „Nein, habe ich nicht“, antwortete Balu. „Dann wissen wir also auch nicht mehr als die Menschen“, sagte Eglon enttäuscht. „Das ist so nicht ganz richtig“, erklärte Balu zögerlich. „Ich habe nichts gerochen, richtig. Aber genau das ist der Punkt: ich hätte etwas riechen müssen! Das bedeutet: wer immer da liegt … er liegt da bereits verdammt lange.“Eglons Ohren zuckten nach vorne. „Du meinst, der liegt da schon mehrere Jahre?“„Oh ja“, bestätigte Balu. „Ich denke, der liegt da schon sehr viele Jahre. Wirklich sehr viele. Das ist auf jeden Fall niemand, den wir gekannt haben.“