Читать книгу Goschamarie Der letzte Abend - Stefan Mitrenga - Страница 13

Оглавление

104 nach Christus

„Kenna! Kenna!!! Hör auf zu träumen und kümmere dich um die Tiere!“

Kenna schreckte hoch und blickte sich suchend nach den Ziegen um, die ein paar Meter entfernt im Garten ihrer Mutter standen.

„Schau doch nur, was sie schon wieder angerichtet haben“, rief ihre Mutter vorwurfsvoll und Kenna versuchte panisch die Tiere mit ihrem Stock aus dem Garten zu jagen. Nur widerwillig liefen die Ziegen auf die Wiese hinaus, nicht ohne noch das ein oder andere Blatt abzuzupfen.

„Was ist nur los mit dir?“, fragte ihre Mutter kopfschüttelnd. „Andere Kinder in deinem Alter leisten schon viel mehr, aber du schaffst es nicht einmal auf vier Ziegen aufzupassen.“

Kenna antwortete nicht, senkte verlegen den Blick und trieb die Tiere weiter vom Garten weg.

Wie sie diese Arbeit hasste. Den ganzen Tag den blöden Viechern beim Fressen zuschauen und wenn sie nur kurz nicht aufpasste, nutzten sie ihre Chance und büxten aus. Durfte ein zwölfjähriges Mädchen nicht auch mal seine Gedanken schweifen lassen?

Sie brauchte ihre Träume, um das eintönige Leben auf dem Hof zu ertragen. In ihrer Fantasie war sie eine Kriegerin, eine berühmte sogar. Sie zog an der Spitze ihrer Männer in die größten Schlachten gegen die verhassten Römer und war ein ums andere Mal siegreich. Am schönsten fand Kenna die Vorstellung, nach einer ruhmreichen Schlacht ins Dorf zurückzukehren. Wie sie hoch zu Ross die Straße hinunter ritt, auf jeder Seite des Sattels ein Dutzend abgeschlagener Köpfe des Feindes, die mit den Bewegungen des Pferdes hin und her pendelten.

Genährt wurden ihre Träume von Kians Erzählungen. Kian war ihr Großvater und schon weit über sechzig Sommer alt. Er war der älteste Mann im Dorf und hätte sich zu früheren Zeiten Druide genannt. Kians Vater war der letzte Druide des Dorfes gewesen, dann hatten die Römer den Berufsstand verboten. Trotzdem hatte er, wie es Tradition war, sein gesamtes Wissen an seinen Sohn weitergegeben und so fungierte Kian heute als Heiler in ihrem Dorf. Doch nicht nur das: wann immer es Probleme oder Streitigkeiten gab wurde sein Rat gesucht und meistens waren alle Parteien mit seiner Lösung einverstanden.

Am meisten liebte Kenna ihren Großvater für die vielen Geschichten aus der alten Zeit, als ihr Volk noch frei und unabhängig war. Sie hatten sich schon lange vor Kians Geburt ereignet, doch er erzählte sie so lebendig, als wären sie eben erst passiert.

„Der Kampf gegen die Römer“, flüsterte Kenna und blickte instinktiv in Richtung des Waldes, hinter dem sich das Haus des Römers befand, in dem er und sein Gefolge lebten. Schon hunderte Male hatte sie fantasiert, wie ihr Leben wohl aussähe, hätten ihre Vorfahren die eine entscheidende Schlacht gewonnen.

Dabei ging es ihrer Familie nicht schlecht. Ihr Vater war als Zimmermann ein angesehener Mann im Dorf und ihre Mutter hatte von Kian viel über die Kunst des Heilens gelernt. Sie waren fleißig und lebten sparsam, doch die Abgaben, die der Römer forderte, verhinderten, dass sie ein sorgenfreies Leben führen konnten. Er verlangte von jedem seinen Anteil, in Form von Lebensmitteln und Arbeitskraft. Zwei junge Männer und zwei junge Frauen aus dem Dorf mussten ihm ständig in seinem Haus zu Diensten sein, mit den beschlagnahmten Lebensmitteln versorgte er seine Familie und die zwölf Soldaten, die bei ihm lebten. Wenigstens war vor kurzem seine Frau gestorben.

Ein Schmarotzer weniger, dachte Kenna und lächelte grimmig.

„Pass auf Kenna! Deine Ziegen reißen schon wieder aus!“Ravenna kam zu ihr auf die Wiese und trieb zwei der Tiere vor sich her.„Danke Ravenna. Die sind einfach so gerissen. Irgendwie spüren sie es, wenn ich nicht aufmerksam bin und nutzen es sofort aus.“„Dann bist du vielleicht nicht zur Ziegenhirtin geboren!“Die junge Frau lachte und schob sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie war drei Jahre älter als Kenna und erst im vergangenen Sommer mit ihren Eltern im Dorf sesshaft geworden. Ihr Vater verdiente sein Geld als Händler und war ständig damit beschäftigt Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Für Kenna war Ravenna wie eine große Schwester. Sie hatte Verständnis für ihre kindlichen Träumereien und hatte ihr schon oft gute Ratschläge gegeben. Außerdem hatten sie immer etwas zu lachen, wenn sie zusammen waren.Zwei Jungen aus dem Dorf liefen vorbei und starrten Ravenna mit großen Augen an. Sie waren selbst noch Kinder, doch Ravennas schwarze Mähne zog ihre Blicke magisch an. Viele der jungen Männer im Dorf sahen sich gerne nach ihr um. Im Gegensatz zu Kenna zeigte Ravennas Körper bereits deutlich die Formen einer Frau und sie bekam fast jeden Tag eindeutige Angebote.„Was soll denn sonst aus mir werden außer einer Ziegenhirtin?“, fragte Kenna niedergeschlagen. „Ich kann doch nichts anderes. Na ja … und nicht mal das bekomme ich richtig hin.“Ravenna nahm sie lachend in den Arm.„Du kannst alles werden, was du willst. Du bist noch so jung. Glaub mir: auch du wirst deinen Weg finden.“Kenna zog die Stirn kraus.„Meinst du, ich könnte eine Kriegerin werden?“, fragte sie zögerlich. „Wer weiß … nur die Götter kennen deinen Weg. Ich werde einmal Händlerin werden wie mein Vater. Der Handel liegt mir. Vater lässt mich schon jetzt vereinzelt Geschäfte machen.“Kenna verstand nicht, was am Handel so toll sein sollte. Man schuf nichts und arbeitete nicht. Der Verdienst bestand lediglich darin, Dinge teurer zu verkaufen, als man sie selbst eingekauft hatte. In ihren Augen grenzte das an Betrug.„Dann wirst du hier im Dorf bleiben?“, erkundigte sich Kenna hoffnungsvoll.„Nein. Ein Händler im Dorf reicht aus. Ich werde in die große Siedlung oberhalb des Flusses gehen und dort mein eigenes Geschäft aufbauen.“Kenna kannte die Siedlung, die einen halben Tagesmarsch entfernt lag und rümpfte die Nase.„Aber da wohnst du ja Tür an Tür mit den Römern …“„Na und?“, sagte Ravenna gleichgültig. „Das sind in meinen Augen nur zusätzliche Kunden, die bei mir kaufen werden. Vielleicht werde ich dort sogar vermögend und kann mir ein großes Haus bauen … oder eine kleine Burg!“Beide Mädchen lachten bei der Vorstellung, die doch so unwahrscheinlich war.„Jetzt bist du aber die Träumerin“, flachste Kenna. „Glaub mir: es wird hier niemals einen Ort geben, den die Menschen Ravennas Burg nennen!“Ravenna legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen.„Aber ich darf davon träumen!“

Goschamarie Der letzte Abend

Подняться наверх