Читать книгу Goschamarie Der letzte Abend - Stefan Mitrenga - Страница 6

Оглавление

1

„Scheißndreckn“, fluchte Walter, als er den kleinen Fleck auf seiner Anzughose bemerkte. Er zog seinen Pullover bis über den Handballen und rubbelte an der Stelle herum. Ohne Erfolg. Er war kein Spezialist, wenn es um die Reinigung von Anzughosen ging, doch er wusste, wen er fragen konnte.

„Liesl, ich brauche deine Hilfe“, sagte Walter, als er die Treppe vom Schlafzimmer hinunterkam. „Kriegst du den Fleck hier weg?“

Liesl betrachtete die Hose und verzog das Gesicht. „Der Fleck ist kein Problem, aber du wirst diese Hose nicht anziehen!“

„Aber warum denn nicht?“, fragte Walter überrascht. „Das ist die Hose von meinem schwarzen Anzug. Ich brauche sie.“

Liesl stemmte die Arme in die Hüften. „Du wirst den schwarzen Anzug schön im Schrank hängen lassen. Jeder weiß, dass das dein Beerdigungsanzug ist. Den kannst du zu einem freudigen Ereignis wie heute nicht anziehen.“

„Was soll denn daran freudig sein“, knurrte Walter. „Für mich ist das tatsächlich ein Grund zu trauern. Deshalb hab ich den Anzug ja rausgesucht.“

„Nicht – dieser – Anzug!“, sagte Liesl bestimmt und beendete damit die Diskussion.

Walter seufzte resigniert und ging zurück ins Schlafzimmer.

Walter und Liesl waren sich in den letzten Monaten näher gekommen. Viel näher. Also ganz nah. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über Walters Gesicht. Der Nachteil war jedoch, dass sie sich auch mehr in sein Leben einmischte. Seine verstorbene Frau Anita hatte es nie gewagt, ihm vorzuschreiben, was er anziehen sollte. Resigniert hängte er den schwarzen Anzug zurück in den Schrank.

Er hatte ihn bewusst gewählt, um zu zeigen, dass er mit der neuen Baustelle nicht ganz einverstanden war. Als der Alte, wie der Vorstand des Musikvereins genannt wurde (obwohl er eigentlich Alex hieß), ihn vor ein paar Wochen angesprochen hatte, hatte Walter dem Neubau des Musikheims natürlich zugestimmt. Wie hätte er sich da querstellen können. Aber das bedeutete jetzt Baustellenlärm und Dreck für bestimmt ein halbes Jahr. Warum mussten sie auch direkt neben seinem Grundstück bauen? Taldorf war groß und viele Flächen wären geeignet gewesen, aber nein: direkt neben ihm. Der einzige Trost war, dass man ihm zugesichert hatte, im Rahmen der Möglichkeiten, auf seine besonderen Arbeitszeiten Rücksicht zu nehmen.

Walter trug seit einigen Jahren die Zeitungen in Taldorf, Wernsreute, Alberskirch und Dürnast aus. Da jeder seine Zeitung zum Frühstück im Briefkasten haben wollte, stand er nachts um halb drei auf. Nach dem Ende seiner Runde ging er wieder ins Bett und schlief für gewöhnlich bis um elf Uhr.

Schon als Liesl ihr Haus renoviert hatte, hatten ihn die Bauarbeiten um den Schlaf gebracht. Es war nur der Findigkeit des damaligen Vorarbeiters zu verdanken gewesen, dass sie einen Weg gefunden hatten, seine Schlafzeiten zu berücksichtigten.

Walter nahm seine anderen Hosen aus dem Schrank. Jeans? Zu leger. Cordhose? Einfach out. Die Sommerleinenhose? Zu versnobt. Blieb nur noch seine neue Lederhose. Er liebte diese Hose, die er immer zur Goschamarie anzog. Da machte es nichts, dass sie nur dreiviertel lang war. In der Wirtschaft war immer gut geheizt. Doch heute musste er einige Zeit im Freien verbringen und die Temperaturen waren, der Jahreszeit entsprechend, kühl. Mit einem Schulterzucken verwarf er alle Bedenken und legte die Lederhose aufs Bett.

„Na also“, sagte Liesl kurz darauf zufrieden, nachdem sie Walter sorgefältig gemustert hatte. „Wird vielleicht ein bisschen kühl untenrum, aber du bist ja nicht so ein Verfrorener.“

Sie gab ihm einen schnellen Kuss und ging durch die Küchentür hinaus.

„Ich mach mich dann auch mal fertig“, rief sie über die Schulter. „Bin gleich wieder da!“

„Was für ein Theater wegen einem Spatenstich“, knurrte Balu, Walters Wolfspitz, aus seinem Hundekorb heraus. Seine Freundin Kitty, die Tigerkatze, die eigentlich zur Wirtschaft gehörte, tretelte genüsslich in seinem Fell. „Lass sie doch. Menschen lieben sowas. Hauptsache, es gibt einen Grund zu feiern.“„Mir ist gar nicht nach feiern. Da bin ich ganz Walters Meinung“, raunte Balu. „Schon wieder Baustelle. Lärm, Dreck … alles vor der Haustür.“„Na ja“, beruhigte Kitty, „diesmal gibt es wenigstens keine neuen Nachbarn.“

Es klingelte an der Haustür.

Balu bellte zweimal und Walter beeilte sich zu öffnen.

„Hallo, mein Lieber. Sind Sie bereit? Ich dachte, ich hole Sie ab.“

Vor der Tür stand Eugen Heesterkamp. Der ehemalige Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) hatte sich in einen schicken Anzug gequetscht, der ihm aber kaum mehr passte.

„Da sprengt es ja gleich die Knöpfe weg“, feixte Walter und zeigte grinsend auf Eugens Bauch.

Noch vor kurzem hatte Eugen keine Gelegenheit ausgelassen auf Walters Fülle hinzuweisen, doch nun hatte sich das Blatt gewendet. Walter vermutete, dass der ehemalige Lehrer um die zehn Kilo zugelegt hatte.

„Was soll ich denn machen?“, jammerte Eugen. „Nach dem Achillessehnenriss konnte ich ein halbes Jahr keinen Sport machen und habe jeden Monat zwei Kilo zugenommen. Fürchterlich!“

Walter grinste zufrieden. „Ja ja, das ist schon ein dickes Ding.“

Bevor Eugen etwas erwidern konnte, kam Liesl zur Küchentür herein.

„Hallo Eugen“, begrüßte sie ihn. „Uiuiui … Ihr Anzug ist im Schrank wohl eingelaufen …“

Eugen richtete sich auf und zog den Bauch ein. So gut es eben ging. „Bitte, fangen Sie nicht auch noch an.“

„Alles gut“, besänftigte Liesl und umarmte ihn kurz. „Können wir dann los?“

Eugen nickte und ging nach draußen. „Es sind schon viele Leute da. Beeilen wir uns, damit wir nicht die Letzten sind.“

Das Festkomitee hatte ganze Arbeit geleistet. Zwei kleine Pavillons boten den prominenten Gästen Schutz vor eventuellen Wetterkapriolen, das normale Volk musste hinter einem rot-weißen Absperrband bleiben. Ein etwas kleinerer Pavillon stand über der Stelle, an der der erste Spatenstich erfolgen sollte. Die Schaufel stand schon bereit.

Die Musikkapelle war in voller Besetzung aufmarschiert und ordnete sich in Reihe und Glied. Bei Sekt und Häppchen plauderte der Orts-Vincenz mit dem Landrat. Die Amtszeit des Taldorfer Ortsvorstehers war bald zu Ende und er befand sich sozusagen auf Abschiedstour. Walter hatte die Befürchtung, dass die Rede, die er halten würde, eher durch Quantität als Qualität überzeugen würde.

Die Kapelle begann zu spielen und die Offiziellen versammelten sich um die Stelle des ersten Spatenstichs. Ein kühler Wind kam auf und ließ Walter frösteln. Schon bereute er, sich für die dreiviertellange Lederhose entschieden zu haben. Er hoffte auf ein schnelles Ende der Veranstaltung, vermutete aber das Gegenteil.

Der Alte sagte im Namen des Musikvereins ein paar Worte zur Begrüßung, dann übergab er das Mikrofon an den Orts-Vincenz. Wie befürchtet präsentierte dieser ein Best-Off aus seinen Reden der letzten zwanzig Jahren. Er begann fast bei Adam und Eva und arbeitete sich gemütlich bis in die Neuzeit vor. Ohne Skrupel spickte er seine Rede mit prominenten Zitaten und sogar Liedtexten. Während die Worte von Altkanzler Schmidt, Schopenhauer und Freud ganz gut passten, wurde es bei Liedzeilen von Helene Fischer und Costa Cordalis bedenklich. Zum Schluss griff er noch auf Xavier Naidoo zurück: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.“

Na, wenn das mal kein Zeichen ist, grinste Walter und fröstelte erneut.

Die Temperatur war weiter gefallen und hinzu kamen dunkle Wolken, die sich von Westen her am Himmel auftürmten.

Ein Raunen der Erleichterung ging durch die Menge, als der Orts-Vincenz das Mikrofon endlich an den Landrat übergab. Während dieser seine Notizen sortierte, stimmte die Musikkapelle eine fröhliche Polka an. Wegen der Lautstärke der fast siebzig Musikanten hörte niemand den Traktor, der sich vom Dorf her genähert hatte und im Rücken der Kapelle auf das zukünftige Baustellengelände gefahren war.

Kuse. Die Taldorfer Widerstandsbewegung. Seit der Ankündigung waren alle mit dem Bau des Musikheims einverstanden gewesen. Nur Kuse nicht. Er hatte die Wiese, zu der auch der Bauplatz gehörte, seit über dreißig Jahren gepachtet. Man hatte ihm rechtzeitig gekündigt, doch er wollte sich nicht damit abfinden. Er kämpfte für die zwei Reihen Hochstämme, die er erst vor wenigen Jahren gepflanzt hatte. Er hatte jede Entschädigungszahlung abgelehnt und seine Anwälte vorgeschickt. Doch die hatten nichts ausrichten können.

Nach schwedischem Vorbild hatte er mit seinem Traktor wochenlang freitags auf der Wiese demonstriert, doch er war allein geblieben. Nicht jeder kann Greta.

„Weg da!“, rief Walter und zog den Landrat am Ärmel aus dem kleinen Pavillon, als Kuse mit seinem Traktor auf sie zuhielt. Der Orts-Vincenz stolperte ihnen hinterher und ließ den auf Hochglanz polierten Spaten fallen. Auch die Musiker liefen auseinander und suchten Schutz hinter den Obstbäumen. Die Vertreter der Presse und die Schaulustigen, die hinter der Absperrung gewartet hatten, flüchteten in die Einfahrt vor Walters Garage.

„Was hat der denn vor?“, kreischte Liesl und rannte mit Walter und Eugen in Walters Garten.

Wild hupend tuckerte Kuse über die Wiese. Er drehte zwei Runden um den kleinen Pavillon, bevor er ihn direkt anvisierte. Er fuhr mitten hindurch. Die Zeltstangen sprangen krachend auseinander und die Plane verfing sich an der Ackerschiene des Traktors und wurde wie ein übergroßer Brautschleier mitgeschleift.

Niemand hatte in dem Trubel bemerkt, dass die dunklen Wolken sich bedrohlich über Taldorf aufgebaut hatten. Von der einen Sekunde auf die andere fielen dicke feuchte Märzschneeflocken vom Himmel und man sah kaum die Hand vor Augen. Doch so schnell der Schneeschauer gekommen war, so schnell war er auch vorbei.

Zurück blieb ein Bild der Verwüstung. Die Stangen des Pavillons lagen noch auf der Wiese wie ein vergessenes Mikadospiel. Kuse, sein Traktor und die Plane waren verschwunden. Und auch der Spaten.

Goschamarie Der letzte Abend

Подняться наверх