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Dornröschen wacht auf

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Der ohrenbetäubende Lärm eines Mini-Mofas, das die Seitenstraße entlangdonnert, veranlasst die Bewohner alle Fenster zu schließen. Drinnen hört Tina das Telefon im Büro ihres Mannes klingeln. Wie gewohnt, nimmt sie die Nachrichten für die Kanzlei entgegen und notiert alles Wichtige, bis die Sekretärin kommt, die nur halbtags arbeitet. Tina erfüllt ihre Pflichten, doch heute ist es irgendwie anders. Der Tag, an dem Joachim ihr sein Ultimatum gestellt hat, liegt einige Wochen zurück. Seither setzt sich Tina damit auseinander, dass sie dieses Haus schon bald wird verlassen müssen.

Joachim hatte es einst ausgesucht, um sich hier niederzulassen, da es nicht weit entfernt lag von seinem Elternhaus. Die Vorfahren seiner Mutter hatten größeren Landbesitz. Eigentlich sollte der Junge, als einziger Sohn der Familie, einmal Richter werden und kein „kleiner Anwalt“, der sich auch noch mit Umwelt- und Naturschutzfragen beschäftigt. Notgedrungen musste seine Mutter die Entscheidung ihres Sohnes akzeptieren, aber wirklich recht war es ihr nicht. Nichtsdestotrotz hatten die Eltern das Haus zum größten Teil finanziert, weil es optimal dafür geeignet war, Privatwohnung und Anwaltskanzlei miteinander zu kombinieren. Dazu musste allerdings noch einiges umgebaut und renoviert werden.

Wehmütig bewegt sich Tina durch die Räume des alten Hauses und lauscht ihren Gedanken: „Vor neun Jahren habe ich dieses fast hundertjährige Gehöft eingerichtet“, geht es ihr durch den Kopf. Langsam steigt sie die alte Holztreppe hinauf und streicht über das Geländer. Unter großem Einsatz hatte sie Stufe für Stufe und Sprosse für Sprosse von mindestens drei Lagen alter Lackfarbe befreit. Die anschließende Behandlung mit Klarlack brachte die natürliche Maserung des Holzes wieder zum Vorschein. Nun scheint es ihr so, als würde die Treppe mit ihr sprechen, wenn sie beim Hinaufsteigen knarrt, und sich dafür bedanken, den ganzen Ballast losgeworden zu sein:

„Lass alles Alte hinter dir und öffne dich für ein neues Leben! Schau mich an, auch ich erstrahle dank deiner Hilfe noch einmal in neuem Glanze.“

Ein Lächeln huscht über Tinas Gesicht, als sie die letzten Stufen hinaufsteigt. Im oberen Stockwerk gibt es neben den Schlafräumen einen kleinen Raum, in dem eine dunkelgrün bezogene Behandlungsbank mit hellem Holzgestell an der Wand steht.

„Hier haben wir uns öfter gegenseitig massiert“, erinnert sie sich im Vorbeigehen. Die Wände in der oberen Etage sind schräg und laden sich im Sommer mit viel Wärme auf. Ein großer Deckenventilator, der ganz langsam surrt, macht die schwülen Nächte erträglich. Vom Bett aus kann man durch die Fenster in den Sternenhimmel schauen.

„All das werde ich vermissen. Wie viel Zeit, Arbeit und Geld habe ich in dieses Haus hineingesteckt, damit es sich in ein kleines Schlösschen verwandelt! Wie viel Schmutz habe ich hier weggefegt! Vom Keller bis zum Dachboden, alles habe ich mit erneuert und es trägt meine Handschrift. Zuletzt wurden die Außenanlagen mit Pflastersteinen begehbar gemacht. Was war das für eine Schlepperei! Wenn ich daran denke, spüre ich noch heute meinen Rücken. Dann habe ich Blumenbeete angelegt. Oh, wie ich dieses Haus liebe!“

Es war früher eine Försterei mit dem klangvollen Namen „Tannenhof“. Doch im Zuge der Gebietsreform wurden viele Reviere zusammengelegt, so dass ein Teil der staatlichen Forsthäuser nicht mehr gebraucht wurde. Auch dieses wurde verkauft, samt Wirtschaftsgebäude und großem Garten. Für Joachim und seine Eltern war das damals ein echtes Schnäppchen.

Der Tannenhof sieht ganz anders aus als die typischen Häuser hier am Rande des Schwarzwalds. Einst ist er aus massiven Felssteinen erbaut worden. Wenn die Sonne auf sein Gemäuer scheint, glitzern die Steine in den Regenbogenfarben. In früheren Jahren hatte jemand Efeu gepflanzt, so dass die Mauern heute einen grünen Umhang tragen. Es sieht so aus, als läge das ganze Haus im Dornröschenschlaf. Hundert Jahre sind eine lange Zeit, doch inzwischen sind die Bewohner aufgewacht. Die Fensteröffnungen müssen regelmäßig frei geschnitten werden, damit genügend Licht hereinkommt. Tina öffnet das Dachfenster und sieht, dass der Efeu an manchen Stellen schon bis zu den Dachziegeln hochgeklettert ist.

„Das ist nicht mehr mein Problem“, stellt sie nüchtern fest. „Es ist vorbei. Bis Weihnachten soll ich alles, was ich mitnehmen will, in Kisten verpackt haben. Ich kann sie im Keller abstellen, bis ich von meiner Reise mit Theo zurückkomme. Danach wird für mich hier kein Raum mehr sein. Ich werde dann nur noch meine Habseligkeiten abholen. Am besten fange ich gleich damit an, die Sachen aufzuteilen. So langsam heißt es Abschied nehmen, du liebes altes Steinhaus. Ich habe gern in deinen Mauern gelebt.“

Tina fühlt Tränen in ihren Augen. Sie öffnet den Wäscheschrank, holt die Bettwäsche heraus und teilt sie in zwei gleich große Stapel auf. Jeder bekommt die Hälfte von allem, was sie einmal für ihr gemeinsames Leben angeschafft hatten. Bei manchen Dingen bringt sie es jedoch nicht übers Herz zu trennen, was eigentlich zusammengehört, wie zum Beispiel beim sechsteiligen Alltagsgeschirr in der Küche. So bleibt es an seinem Platz im Schrank stehen wie so vieles andere auch.

„In Theos Haushalt gibt es sicher einen Teller, von dem ich essen kann“, denkt sich Tina. „Joachim und Simon müssen alleine klarkommen, bis Franziska mit ihrer Tochter einzieht. Hier entstehen keine Lücken, die nicht umgehend wieder gefüllt werden und es gibt keinen Leerlauf am ‚Fließband der Beziehungen’. Was könnte Joachim sich mehr wünschen!“

Der Nachbar mäht seinen Rasen, denn hier muss alles seine Ordnung haben. Joachim ist zufrieden mit sich und der Welt. Er hat es geschafft: Tina akzeptiert seine Bedingungen. Schließlich weiß er als Anwalt, wie man seine Sache am besten durchsetzen kann. Gestern Nachmittag haben sie die Bücher und Fotoalben aufgeteilt, ganz gerecht – immer eins für dich und eins für mich. Jetzt hat er einen alten Koffer mit Alben in seinem Büro stehen und überlegt, was er damit anfangen soll. Das alles zählt zur Vergangenheit und die will er möglichst bald vergessen. Darum steigt er mit dem Koffer in der Hand die Treppe hinunter in den Keller, wo er schon erwartet wird.

„Na, was versuchst du nun wieder zu verdrängen?“, hört er Luna sagen. „Die Zeit wird dich einholen. Es ist nicht damit getan, dass du schöne Erinnerungen an dunklen, staubigen Plätzen abstellst und sie nicht würdigst. Du weißt ganz genau, mit wie viel Liebe und Sorgfalt Tina eure Fotoalben gestaltet hat. Und du hast nichts Eiligeres zu tun, als sie zum alten Gerümpel zu schaffen. Schämst du dich nicht dafür? Ich garantiere dir: Alles Unverarbeitete wird dir immer wieder begegnen. Glaube mir, diese Bilder führen ein Eigenleben, das sich nicht wegsperren lässt und schon gar nicht, wenn du dich damit nicht ausgesöhnt hast.“ Luna freut sich über Joachims finstere Miene zu ihrem Kommentar, den sie ihm mal wieder ungefragt serviert hat.

Nein, es passt ihm überhaupt nicht, dass dieses Wesen in den unmöglichsten Momenten auftaucht und alles besser weiß. Er muss versuchen, es zu ignorieren. Er ist schließlich der Herr im Haus. Was diese Engelfrau da meint, ist völlig ohne Bedeutung und stimmt in keiner Weise mit seinen Ansichten überein. Nur was er anordnet zählt in diesem Haus, redet er sich ein, während er die Treppe wieder hinaufsteigt. Die Fotoalben hat er in einem alten Schrank deponiert.

„Dort können sie verstauben bis zum Sankt Nimmerleinstag“, triumphiert Joachim innerlich. „Das Leben mit Tina ist vorbei, jetzt habe ich eine andere Frau an meiner Seite. Ein Mann schmückt sich nicht für, sondern durch seine Partnerin. Wozu brauche ich Bilder aus der Vergangenheit, wenn die Zukunft blond und verlockend ist!“

Als Tina abends ihren Sohn ins Bett bringt, fragt er, was denn nun mit ihr und seinem Papa los sei. Bisher fand er die Erweiterung der Familie völlig normal. Jetzt aber, wo seine Mutter ihre Sachen zusammenpackt, verändert sich wohl Einiges. Er sagt zu ihr:

„Franziska möchte mit der kleinen Malaika bei uns einziehen, habe ich gehört. Ich bleibe hier, Mama! Alle meine Freunde sind in der Nähe. Wenn du wegziehst, komme ich nicht mit.“ Tina hat es fast befürchtet.

„Ich bin sehr traurig darüber, dass das alles so schnell geht“, seufzt sie. „Ich möchte nicht weg von dir, aber dein Papa und Franziska wollen, dass ich so bald wie möglich ausziehe.“ Dabei stehen ihr die Tränen in den Augen. Sie nimmt ihren Sohn in die Arme und versucht ihn zu trösten.

„Selbst wenn ich nicht mehr zusammen mit dir wohnen werde, mein Schatz, ändert das nichts daran, dass dein Papa und ich immer deine Eltern sein werden. Das darfst du niemals vergessen! Und noch etwas ist wichtig im Leben: Man kann einen anderen Menschen niemals besitzen. Vielleicht verstehst du das später einmal besser. Ich hab dich sehr lieb und auf eine bestimmte Weise habe ich auch deinen Papa lieb. Liebe ist etwas sehr Kostbares, sie möchte gehegt und gepflegt werden wie ein zartes Pflänzchen. Wenn du das versäumst, zieht sie sich zurück an einen anderen Ort, wo sie willkommener ist. Und nun schlaf gut, mein Kind! Lass dich von deinen Engeln ins Traumland begleiten, wo alles so ist, wie du es dir wünscht. Gute Nacht!“

Simon lauscht mit leuchtenden Augen den Worten seiner Mutter, lässt sich zudecken und erwidert ihren zärtlichen Kuss. Er schläft ein, während Tina ihm sanft über den Kopf streicht. Leise schließt sie die Tür und geht langsam die Treppe hinunter. Mit jeder Stufe wird ihr etwas Neues bewusst:

„Ich habe eine große Reise vor mir. Danach wird nichts mehr so sein, wie es vorher war. Die Reise führt mich in ein vollkommen anderes Leben. Werde ich all dem gewachsen sein? Und wie werde ich die Trennung von meinem Kind verkraften? Ich fühle, wie ich mit meinen Emotionen Achterbahn fahre. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten die Seelen von Theo und Joachim eine Art von Verabredung getroffen, dass sie beide Partner für mich in unterschiedlichen Lebensphasen sein würden. Jetzt, so scheint es mir, ist der Zeitpunkt des Wechsels gekommen.“

Sie bleibt stehen und – kaum zu glauben – hört sie Joachim im Geiste zu Theo sagen:

„Bisher war sie für mich und meine Karriere nützlich. Außerdem habe ich einen Sohn von ihr geschenkt bekommen, mit dessen Hilfe ich die Verletzungen meiner eigenen Kindheit heilen kann. Sie hat ihren Zweck an meiner Seite erfüllt. Wir hatten gute und schlechte Zeiten miteinander. Es war nicht immer einfach mit ihr. Wenn es um ihre Wahrheit geht, kann sie ein unbequemer Mensch sein. Deshalb bin ich erleichtert, wenn du sie mir abnimmst. Außerdem hat sie bestimmt einige Fähigkeiten, die sie eher an deiner Seite entwickeln kann als zusammen mit mir.“

Im Wohnzimmer angekommen legt Tina eine CD ein und überlegt eine Weile. „Was soll ich bloß tun? – Schreiben! Ja, ich werde mir den Kummer von der Seele schreiben. Das hilft mir, mich einzunorden wie mit einem Kompass. Habe ich nicht unser Kind schon lange vor seiner Geburt mit Gedichten und inneren Dialogen begrüßt? Als Simon dann geboren war, versuchte ich, die Welt so darzustellen, wie er sie wahrnehmen könnte. Ich habe mich in ihn hineinversetzt und fröhlich drauflos geschrieben. Soweit ich mich erinnere, gab es da einen himmlischen Begleiter, den ich frei erfunden habe. Seit meinen letzten Eintragungen ist schon einige Zeit vergangen. Irgendwo hier muss es doch sein!“

Familienglück im Klimawandel

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