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Waidmanns Heil

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„Heute passiert es!“, denkt er siegessicher, als er leise zum Hochsitz pirscht, mit dem Gewehr über der Schulter und dem Fernglas vor der Brust. Der Pfad ist frisch gerecht und frei von Blättern und Zweigen, so dass seine Schritte keinen Laut verursachen. Es ist Mitte September und die Hirschbrunft hat begonnen. In dieser Zeit liebt er sein Hobby ganz besonders, denn er kann dem Urinstinkt des Mannes folgen und zur Jagd gehen.

Während seines Jurastudiums hatte er sich seinen Kindheitstraum erfüllt und die Jägerprüfung absolviert. Was war es doch für ein glücklicher Zufall, als dann später unweit von seiner Anwaltskanzlei ein Jagdbezirk verpachtet wurde! „Wenn ich einmal in die ewigen Jagdgründe eingegangen bin, werde ich im nächsten Leben bestimmt Förster.“ Diesen Satz gibt er gern in feucht-fröhlicher Runde zum Besten.

Sein Vater und sein Großvater sind stolz darauf, dass der Junge es zu etwas gebracht hat. Joachim Hörselbach ist mittelgroß und etwas untersetzt. Er sei von stattlicher Gestalt, sagt er über sich selbst. Sein markanter Gesichtsausdruck wird durch den messerscharf geschnittenen Bart noch ausdrucksvoller. Da sein dunkles Haar schon etwas schütter geworden ist, trägt er unterwegs meist einen Hut.

Die langsam untergehende Sonne taucht den Wald in ein interessantes Spiel aus Licht und Schatten. Er steigt die Leiter zum Hochsitz empor, setzt sich oben auf die hölzerne Bank und platziert das gesicherte Gewehr. Bis das ersehnte Wild auf die Freifläche kommt, wird es noch eine Weile dauern. Mit dem Fernglas kann er erkennen, wenn sich einzelne Zweige der Bäume bewegen, die am Waldrand stehen. Fast windstill ist es, eine optimale Bedingung, um heute zum Schuss zu kommen. Hier, weit weg vom Alltag, atmet er tief durch und fühlt sich ein wenig erleichtert. In den vergangenen Monaten ist sein vorher wohl geordnetes Leben aus den Fugen geraten. Die Gedanken daran verfolgen ihn ständig:

„Seit zwanzig Jahren bin ich mit Tina zusammen, seit vierzehn Jahren sind wir verheiratet. Simon, unser Sohn, ist fast elf Jahre alt. Alles lief nach Plan, bis Anfang des Jahres dieser andere Mann auftauchte. Natürlich hatte es hin und wieder Unstimmigkeiten gegeben, das ist doch normal in einer Ehe. Sie könne ja verschwinden, wenn es ihr bei mir nicht mehr passt, habe ich öfter zu ihr gesagt, aber so ernst habe ich das doch gar nicht gemeint. Nun scheint sie willens, dies tatsächlich zu tun. Schon bald hat sie es mir gestanden. Es gibt keine Heimlichtuerei zwischen uns beiden. Nein, sie wolle mich trotzdem nicht verlassen, behauptet sie. Aber wie soll das funktionieren und wie stehe ich dann in der Öffentlichkeit da? Ich muss reinen Tisch mit ihr machen. Soll sie doch gehen, wohin der Pfeffer wächst!“

Inzwischen ist ihm der Duft von sich paarendem Rotwild in die Nase gestiegen, den er als erfahrener Jäger genau kennt. Und plötzlich hallt der durchdringende Brunftschrei des Hirsches durch das Unterholz. Joachims Pulsschlag beschleunigt sich. Er nimmt das Fernglas, schaut in die Richtung, von wo der Ruf kommt, kann aber nichts erkennen außer Bäumen und Sträuchern.

„Einen großen Vorteil hat die ganze Sache“, sinnt er vor sich hin. „Meine Frau hat mich betrogen und so kann ich in meinem Umfeld alle Schuld auf sie abwälzen. Ich selbst habe eine weiße Weste. Schließlich bin ich ja ein anständiger Mann.“

Da, plötzlich bricht eine Hirschkuh aus dem Dickicht hervor und gönnt sich eine Pause von der ständigen Begattung durch den hiesigen Platzhirsch. Während der Brunftzeit schart dieser stets ein Rudel weiblicher Stücke um sich, die für den Nachwuchs der stärksten Tiere sorgen. Leise nimmt er das Gewehr in Anschlag und entsichert es. Eigentlich wollte er heute eines der schwächeren männlichen Tiere erlegen, einen lästigen Rivalen des Revierchefs. Doch nun peilt er, fast wie in Trance, dieses „Alttier“ an, wie die Hirschkuh in der Fachsprache genannt wird.

Als sie ihm ihre Breitseite zeigt, geschieht etwas Merkwürdiges. Ein Satz huscht durch seinen Geist: „Deine Augen leuchten in den Farben des Waldes.“ Seine Frau hat ihm diese Worte manchmal ins Ohr geflüstert, wenn sie gemeinsam auf dem Hochsitz saßen und in die Ferne äugten. Das Tier hier vor ihm auf der Wiese ist ja gar kein Tier, sondern ein Mensch. Eine Frau sieht er, mit langem, dunklem Haar. Sie trägt ein helles Sommerkleid, das ihren schlanken Körper betont. Ganz ungeniert pflückt sie Blumen. Nun erkennt er sie – ja, es ist seine Frau Tina. Joachim traut seinen Augen nicht. Wie kommt die denn hierher? Was tut sie abends allein im Wald? War sie nicht viele Jahre lang seine treue Gefährtin, die es niemals gewagt hätte, sich ihm offen zu widersetzen? Und nun ist sie ausgebrochen, außerhalb seiner Kontrolle geraten und verhält sich wie ein freies Tier des Waldes.

Egons Satz kommt ihm in den Sinn: „Knall sie ab, sie hat es nicht besser verdient!“ Egon ist der hiesige Revierförster und versteht Joachims Lage. Er meint es gut mit ihm. Diese Art von freundschaftlichen Ratschlägen geben sich Männer in jenen Kreisen und muntern sich damit gegenseitig auf. Untreue muss bestraft werden. Ein derartiges Vergehen ist unverzeihlich.

Joachim hat noch immer das Gewehr im Anschlag und den rechten Zeigefinger am Abzug. Tina steht frontal vor ihm und der Lauf der Waffe zeigt genau auf ihr Herz. Mit ihren rehbraunen Augen schaut sie in seine Richtung und ihre Blicke scheinen sich zu treffen. Diese Frau war die Liebe seines Lebens, aber wenn er sie nicht mehr besitzen kann, dann soll es auch kein anderer tun. Er drückt ab – ein tödlicher Schuss!

Familienglück im Klimawandel

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