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Theophiles

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Einer von unzählig vielen Lastwagen rattert am späten Vormittag auf der Bundesstraße am Haus vorbei. Tina sitzt am Küchentisch, schaut aus dem Fenster zu dem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beginnt Selbstgespräche zu führen:

„Den Wechsel der Jahreszeiten habe ich von hier am Blätterkleid dieses Baumes beobachten können, während ich auf mein Kind und dessen Vater wartete. Nun ist alles anders geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich diesem Mann gegenüber ebenbürtig. Die Tatsache, dass ich mich ihm sexuell entzogen habe, gibt mir eine vorher nie wahrgenommene Kraft. Ich habe keine Lust mehr auf dieses scheinbar wohlgeordnete Leben, in dem ich mich so zu verhalten habe, wie es den anderen Leuten gefällt. War ich ungeeignet für diese Ehe mit meinen niemals endenden Forderungen nach einem Mindestmaß an gemeinsam verbrachter Zeit? Ich erwarte mehr vom Leben, als vom Küchenfenster aus Bäume zu beobachten, wie sie ihre Blätter wechseln, und dabei immer dasselbe duldsame Hausmütterchen zu bleiben.“

Tina steht auf, um Termine für ihre Hausbesuche am kommenden Tag im Kalender an der Wand zu vermerken. Im Geiste sieht sie eine Klientin vor sich: eine ältere Dame, die einen Schlaganfall erlitten und das Sprachvermögen verloren hat. Tina fragt sich, was wohl in dieser Frau vorgehen mag, die geistig klar erscheint, sich aber an keinem Gespräch mehr beteiligen kann. Das Leben verändert sich vollkommen, wenn der Körper nicht mehr seine gewohnten Funktionen erfüllt.

„Krankheiten zwingen uns dazu loszulassen, geschehen zu lassen, was geschehen möchte, ohne sich dagegen zu wehren, und zu tun, was getan werden muss. Was für ein Geschenk ist der menschliche Körper, wenn alles funktioniert! Dagegen sind doch die Probleme, die wir uns selbst erschaffen, nichts weiter als Kleinkram.“

Mit diesen Gedanken beschäftigt geht sie hinunter in die Waschküche, um Wäsche aufzuhängen. Sie ist gerade damit fertig, als sie das Telefon im Büro ihres Mannes klingeln hört. Eilig steigt sie die Treppe hinauf und nimmt das Gespräch für ihn entgegen.

„Ich erfülle hier meine Pflichten und irgendwie ist alles überschaubar“, denkt sie auf dem Weg in die Küche, wo sie den Gemüseauflauf in den vorgeheizten Backofen schiebt. In gut einer Stunde wird er fertig sein. Sie stellt den Kurzzeitwecker, wobei Szenen aus der Vergangenheit in ihr aufsteigen.

Vor ein paar Jahren hatte sie sich erlaubt, eine Grenze zu überschreiten. Während eines längeren Seminars hatte sie eine Affäre mit einem anderen Mann. Zu Hause gestand sie Joachim ihren Seitensprung. Er sollte wissen, dass es da ein Problem gab. Sein knapper Kommentar lautete:

„Schön, dass du es mir gesagt hast, jetzt habe ich einen gut.“

Es wurde nicht weiter über den Vorfall geredet. Aber von diesem Zeitpunkt an machte sich Gleichgültigkeit in der Ehe breit. Ihr Blick fällt auf das Familienfoto, das im Regal steht. Das innere Tonband läuft weiter:

„Was für ein Idyll! Für meine Rolle als Mutter habe ich einiges in Kauf genommen. Ich gebe ja zu, dass ich nicht die ‚Urmutter’ bin, die nur als solche ihre Erfüllung findet. Dafür arbeite ich viel zu gerne in meinem Beruf. Jeder Mensch, dem ich mich zuwende, zeigt mir ein Stück von mir selbst. Ich liebe ihre lächelnden Gesichter, wenn sie nach meiner Behandlung aufstehen. Sie bringen die Sehnsucht mit, berührt zu werden, und ich lasse meine Hände liebevoll zu ihnen sprechen. Manchmal schlafen sie dabei ein. Auf meine Frage, wie sie sich fühlen, antworten mir einige, dass etwas im Körper ins Fließen gekommen ist. Ich sage ihnen, dass dies die zirkulierende Lebensenergie ist, das Ki, wie es die Japaner nennen. Auch meine Ehe ist ein ziemlich turbulenter Strom geworden.“

Bei diesem Vergleich muss Tina schmunzeln. Sie hat sich alle Mühe gegeben, eine gute Ehefrau zu sein, es jedoch nie ganz geschafft. Am Ende blieb immer ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Parallel zu Joachims Karriere hat sie ihren eigenen Weg verfolgt und sich damit ein Stück Unabhängigkeit erhalten. Ihre Tätigkeit brachte zwar zusätzliches Geld in die Haushaltskasse, wurde aber von Joachim und seiner Familie mit Argwohn betrachtet. Es ist ein Wunder, wie sie diesen Spagat so lange ausgehalten hat. Körper, Geist und Seele gehören zusammen, um gesund zu bleiben. Nur ihr ausgewogenes Zusammenspiel schafft Wohlbefinden und das Gefühl, im Einklang zu sein mit sich und der Welt. Sie hat diese Balance verloren, vermutlich schon viel länger, als sie es sich eingestehen will. Mit einer Tasse Kaffee setzt sie sich an den Tisch und träumt weiter vor sich hin:

„Die Wende kam mit Theo. Den Tag unserer ersten Begegnung werde ich nie vergessen. Er war der Dozent eines Kurses, in dem er Yoga und die indische Philosophie vorstellte. Davon beeindruckt kaufte ich am Ende ein von ihm verfasstes Buch mit der Bitte, mir eine Quittung zu schicken. Die traf ein paar Tage später ein mit der Bemerkung: ‚Ich würde Dich gerne wiedersehen.’

Eine Woche später folgten ein langer Spaziergang und ein heißer Kuss, der mich ziemlich verwirrte. Theo ist größer als Joachim und schlank, ein eher ein sportlicher Typ. Mir fiel sofort seine tibetische Weste auf, so was hatte ich hier noch nie gesehen. Er lud mich zu einem weiteren Wochenendseminar ein, mit dem Titel ‚Meditation in Bewegung’. Und es kam, wie es kommen musste: Ich war total begeistert. In seinem Unterricht fand ich genau die Elemente, die ich so sehr schätze. Er brachte eine neue Qualität in mein Leben. Ich gebe zu, mit diesem Mann würde ich gerne zusammenarbeiten. Und was sonst noch?

Auf allen Ebenen spüre ich eine starke Anziehung. Er hat eine Saite in mir zum Schwingen gebracht, die ich noch nicht kenne. Ich frage mich, ob das die normalen Erscheinungen einer Ehefrau sind, wenn im Alltag vieles zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Die Partner haben sich auseinandergelebt und es gibt immer weniger Gemeinsamkeiten. Ich weiß nicht, ob das auf mich zutrifft. Mir ist nur klar, dass diese Begegnung etwas Besonderes ist und Theo sich schon länger innerlich darauf vorbereitet hat. Mit ihm würde ich ein völlig anderes Leben führen als bisher, soviel ist sicher. Theo ist offen dafür, sich tief mit mir einzulassen, tiefer, als ich es je mit Joachim erfahren habe. Ich fühle, wie sich eine Sehnsucht erfüllt, und etwas sagt mir, dass alles richtig ist, was gerade geschieht.

Seine Dachwohnung ist winzig im Vergleich zu unserem geräumigen Haus mit dem großen Grundstück. Doch diese Dinge sind jetzt vollkommen belanglos. Theos Reich breitet sich vor mir auf eine andere Weise aus als das, was mir bisher vertraut war. Am letzten Wochenende hat er für mich „Spinat im Blätterteig“ zubereitet. Ich glaube, von diesem Zeitpunkt ab war es vollends um mich geschehen. Ein Mann, der auch noch kochen kann! Außerdem hat er mir aus seinem Tagebuch vorgelesen und einen Text für mich auf Kassette aufgenommen. Das wäre, so sagt er, eine Art von kosmischer Vorlesung, die er hin und wieder zu bestimmten Fragen, die er stellt, bekommt. Angefangen habe dieses himmlische Diktat auf der Toilette, also in einem relativ entspannten Zustand. Seitdem habe er stets einen Block mit Bleistift im Badezimmer liegen.“

Tina geht ins Wohnzimmer, startet das Tapedeck der Stereoanlage und setzt sich auf die Couch. Was sie hört kommt ihr authentisch vor und passt viel besser zu ihrer Form von Religiosität als alles andere, was sie bislang darüber gelernt hat:

„Geh in den Garten der Liebe hinein! Nimm sie bei der Hand und mach ihr Mut! Vielleicht geht es ja auch umgekehrt und du brauchst ihre Aufmunterung. Habt kein schlechtes Gewissen, denn solange ihr mit euren Herzen in Verbindung bleibt, wird sich alles zum Guten fügen. Wir sagten dir ja letztlich schon, dass dein Handeln mitunter kleinere oder größere Erschütterungen auslösen kann. Schrecke nicht davor zurück, denn auch diese Erschütterungen, ja die Schmerzen, die zeitweilig als Resultat andere Menschen treffen können, sind ein Stück Liebe. Du gibst vielleicht einem alten Seelenfreund die Chance, über sich nachzudenken und sein Leben neu in Angriff zu nehmen, es zu überdenken und umzuformen, sowie seine früheren Motivationen zu klären. Es kann nicht immer alles nur in Harmonie verlaufen, aber alles dient letztlich dazu, die Dinge wieder in Harmonie zu bringen. Und das wünschst du dir doch auch.

Hab Vertrauen, du bist auf einem wundervollen Weg! Oder sollten wir besser sagen: Ihr seid auf einem wunderbaren Weg? Nun, die Antwort kannst du dir ja selber geben. Es ist so, wie du es dir gewünscht hast, nur ist alles noch ein wenig wundervoller, als du es dir vorstellen konntest. Ja, auch das gehört dazu, wenn wir mit alten Freunden so eng zusammenarbeiten. Du brauchst dich auch nicht um etwaige Konsequenzen zu sorgen. Wir haben unsere schützende Hülle um euch und eure Umgebung gelegt. Ihr sollt beide weiter euren Aufgaben nachgehen und sie gut erfüllen. Wir werden euch dabei helfen, Zeiten und Räume zu schaffen, die eurem gemeinsamen Wachstum gewidmet sind. Wir haben selbst ein großes Interesse daran, so lichtvollen Wesen, wie ihr es seid, zu ihrer Bestimmung hin zu verhelfen, auch zu einer gemeinsamen. Aber dazu braucht es noch ein wenig Zeit der Vorbereitung. Darum übt euch in Geduld und genießt die Zeiten eures Zusammenseins. Sie werden nicht wenig sein, glaub es mir. Es gibt keinen Mangel für diejenigen Seelen, die mit uns in Verbindung stehen. Wir hüllen euch ein in den Mantel der Liebe. Möge Frieden, Licht und Glück um euch sein.“

„Ja, ich werde mit Theo in den Garten hineingehen“, ermutigt sich Tina selbst. „Alles wird gut, ganz bestimmt.“

Sie erinnert sich daran, wie sie im Februar von dem Seminar „Meditation in Bewegung“ nach Hause zurückkam. Joachim hatte ihr sofort angesehen, dass etwas nicht stimmte, und sagte ihr direkt auf den Kopf zu, dass sie wohl einen Geliebten habe. Sie widersprach ihm nicht und leugnete nichts. Joachim ging mit solchen Angelegenheiten sehr kalkulierend um. Seinen Kredit für einen Seitensprung hatte er noch nicht eingelöst. Nun war der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Er zögerte nicht lange damit, sich auf die Suche nach einer neuen Partnerin zu machen, und fand sie schon recht bald. Vielleicht hatte Tina den Bogen doch etwas überspannt.

Der Wecker klingelt und Tina geht zum Backofen, wo der Gemüseauflauf brutzelt. Sie dreht den Temperaturregler zurück auf Null. Simon wird bald aus der Schule kommen und einen Riesenhunger mitbringen. In der Zwischenzeit will sie noch ein paar Hemden für Joachim bügeln. Ja, sie wird hier bleiben und den Haushalt weiterführen, solange dieses Kind sie braucht. Niemand soll leiden oder bedürftig zurückbleiben.

Familienglück im Klimawandel

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