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Sommer im Winter
ОглавлениеDer Wald ruht unter einer dicken Schneedecke. Die Tiere halten ihren Winterschlaf, während das gelbe Postauto wie jeden Tag zur Anwaltskanzlei im Tannenhof fährt. Der Bote wirft einen Packen Umschläge in den Briefkasten. Joachim ist im Büro und kann ihn vom Schreibtisch aus beobachten. Als er die Post holt, muss er feststellen, dass schon wieder ein Brief von Tina aus Indien für Simon dabei ist. Er öffnet ihn und liest, dass es in Delhi neben lauten Straßen auch leise Tempel gibt und welche Spuren die englische Kolonialzeit hinterlassen hat.
Tina schreibt von den krassen Gegensätzen in diesem Land, von hungrigen Kinderaugen und nackten Bettlern. Sie berichtet von einem Ashram, wo alle, die sich dort aufhalten, in einheitlicher Farbe gekleidet sind, wo es gutes Essen gibt und sauberes Wasser. Weiter steht da, dass sie eine Zeremonie mit ungefähr zwanzigtausend Tibetern besucht hat, die der Dalai Lama durchführte. Die Rituale seien verbunden mit Gaben, die bestimmte Bedeutungen hätten: Grashalme, die unter das Kopfkissen gelegt werden und die Träume reinigen sollen, rote Bindfäden, die um den Arm gebunden werden, gepresste Blütenblätter, rote Stirnbänder. Dies alles hätte etwas zu tun mit dem Beginn des Lebens, mit Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt. Die Zeremonie stelle eine Art von Neugeburt dar. Tina schreibt, dass sie ständig eine Musik hört, die über dem Lärm in diesem Land schwebt.
„Ob sie jetzt wohl die Religion wechselt?“, fragt sich Joachim. Nachdenklich faltet er die Seiten wieder zusammen und steckt sie in den Umschlag zurück. Er holt einen Atlas aus dem Regal, schlägt Asien auf und sucht auf der Indienkarte die Orte, die Tina in ihrem Brief erwähnt hat. Ein bisschen neidisch ist er schon, dass seine Frau den Mut hat, eine solche Reise zu unternehmen. Doch dann wendet er sich wieder seinen dienstlichen Aufgaben zu.
Mit Franziska hat er inzwischen geklärt, dass sie sich um seine Wäsche kümmert. Sie kann sich schon mal daran gewöhnen, ihre hausfraulichen Pflichten an seiner Seite zu übernehmen. Er hat es von jeher perfekt verstanden, unangenehme Aufgaben an andere zu delegieren.
„Du bist ein Meister darin, andere für dich arbeiten zu lassen“, wirft ihm die plötzlich erschienene Luna an den Kopf. „Kaum ist die eine weg, spannst du die andere ein. Tina hat die Dinge beim Namen genannt. Das hat dir nie gefallen. Mit dieser Art von Ehrlichkeit konntest du nicht umgehen. Aber jetzt hast du es ja endlich geschafft. Du hast einen Grund dafür gefunden, sie loszuwerden. Nun ist sie weit weg, lernt andere Kulturen kennen, und du wünschst dir insgeheim, sie zu begleiten. Irgendwie tust du das sogar, zumindest in Tinas Gedanken. Sie weiß genau, dass du die Briefe liest, die sie an Simon schreibt und lässt dich so an ihren Erfahrungen teilhaben.“
Dies muss sich Joachim von Luna anhören und kann nichts dagegen tun. Er fühlt sich ertappt. „Ich tue hier mein Bestes und führe einen Männerhaushalt, so gut ich kann, während meine werte Gattin sich in Indien herumtreibt. Verschwinde, du scheinheiliger Engel! Wenn du wenigstens Wäsche waschen könntest, könnte ich dich dafür einstellen und du würdest mich nicht länger von meiner Arbeit abhalten.“
Unbeeindruckt fährt Luna fort: „Nein, es gibt keine Möglichkeit für dich mich loszuwerden. Für die niederen Arbeiten gibt es entsprechendes Personal, wie du gerade festgestellt hast. Ich jedoch bin für die höheren Erkenntnisse zuständig und gebe niemals auf. Auch du hast vielleicht noch irgendwo einen Funken von Bewusstheit, den es zu erschließen gilt. Das ist meine Aufgabe hier bei dir, mein Freund. Auch wenn du meine Absichten nicht erkennen willst, so meine ich es nur gut mit dir“, spricht’s und schwebt davon.
Joachim atmet tief durch. Abgesehen von diesem angeblich wohlgesonnenen Wesen hat er sein Leben so einigermaßen im Griff. Ein ganzer Stapel Briefe aus Indien liegt inzwischen im Wohnzimmerregal. Simon will aber gar nicht so genau wissen, was drinsteht. Er fühlt sich verlassen von seiner Mutter und hat Angst, dass sie nicht mehr wiederkommt.