Читать книгу Familienglück im Klimawandel - Stella Borny - Страница 14
Abschied vom Tannenhof
ОглавлениеDie folgenden Wochen sind durchzogen von Abschiedsstimmung und Joachim zeigt seine Schattenseiten. Jetzt, wo für ihn „kein Ehedruck mehr“ besteht, wie er sagt, hält er sich mit seinen negativen Gefühlen seiner Frau gegenüber nicht mehr zurück. Wenn Simon nicht da wäre, hätte Tina längst das Weite gesucht. Die gemeinsame Zeit mit ihrem Sohn ist für sie umso wertvoller, je näher der Termin rückt, an dem Joachims Ultimatum in Kraft tritt.
Jeden Morgen erwartet sie voller Ungeduld den Postboten, in der Hoffnung, dass ein Brief von Theo dabei sein könnte. Einmal in der Woche ist das meist auch der Fall. Seine Worte muntern sie auf und schenken ihr Zuversicht. Mit ihm hat sie eine völlig andere Welt betreten, die sie vorsichtig erkundet. Heute ist wieder ein Gedicht im Briefumschlag, das sie immer wieder liest.
An meine Geliebte
Jetzt,
wo unsere Sehnsüchte
gestillt werden können,
wo unsere Herzen
Nähe und Geborgenheit verspüren,
wo unsere Lippen
köstlichen Nektar trinken,
bitte ich dich,
mich zu verstehen,
auch wenn ich anders bin,
mir zu vertrauen,
auch wo es dir schwer fällt,
mich anzuhören,
auch wenn es fremd klingt,
mich zu halten,
wenn ich mich fallen lasse,
und mich loszulassen,
wenn es mir zu eng wird
in deinen Armen,
und trotzdem
meine Nähe zu spüren,
auch wenn ich weit weg bin.
Im November ist Theo für mehrere Wochen in China unterwegs. Er hatte diese Studienreise schon ein Jahr zuvor gebucht und nun hat er sie angetreten. In China würde es ihm so gut gefallen, dass er am liebsten länger dort bleiben würde, berichtet er am Telefon. Doch für Tina scheinen die Tage der Trennung nicht vergehen zu wollen. Eines Morgens wacht sie wie gerädert auf. Sie ist allein im Haus, das nicht mehr ihr Zuhause ist. Mit einer Tasse Kaffee geht sie zu ihrem Schreibtisch, um einen Brief an Theo zu schreiben:
Mein Liebster,
noch weitere zehn Tage Trennung liegen vor mir. Seit einer Woche geht es mir zusehends schlechter, sodass ich nachts kaum schlafen kann. Es ist, als seien Staumauern in mir eingestürzt. Ich verkrieche mich, um nur noch zu heulen.
Gestern war der erste Termin beim Scheidungsanwalt, den ich mit klopfendem Herzen erwartet und hinter mich gebracht habe. Ich spüre in dieser Zeit deiner Abwesenheit, wie schwer es für mich ist, mit der Situation fertig zu werden. Ich weiß, es ist wichtig, all das zu erfahren, um festzustellen, wo ich wirklich hingehöre. Ich kenne meine Aufgaben, die ich hier zu erfüllen habe, bekomme aber deutlich zu spüren, dass dies nicht mehr mein Platz ist.
In manchen Augenblicken merke ich, dass ich abwesend bin. In der Vorstellung organisiere ich meine Zukunft, wobei gewaltige Ängste auftauchen. Ich erlebe mich am Ende meiner Kräfte und fühle mich verlassen. Aus diesen Tiefs herauszukommen, kostet mich sehr viel Energie. Ich möchte mich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen und dort abwarten, bis alles vorbei ist. Mir fehlt der Elan, mich mit dem zu beschäftigen, was ich mir für diese Zeit vorgenommen hatte. Ich suche Trost bei den Menschen in meiner Umgebung, aber meist ist es so, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, was gerade in meiner Familie geschieht.
Viel lieber würde ich jetzt mit dir durch Asien reisen und an deiner Freude, von der du berichtest, teilhaben. Ich habe keine Unterstützung von dir, sondern eher das Gegenteil. Du schreibst, es würde dir in China so gut gefallen, dass dir der Sinn gar nicht danach steht, schon bald zurückzukommen. Etwas mehr Feingefühl hätte ich dir schon zugetraut.
Was bin ich denn überhaupt für dich? Du hast wohl gar keine Vorstellung davon, was ich hier gerade erleben muss. Du freust dich des Lebens, während ich eine Zerreißprobe nach der anderen zu bestehen habe. Was ich in dieser Krisenzeit von dir erwarte, ist Klarheit und Zuverlässigkeit. Bedenke, welche Rolle du in diesem von uns allen kreierten Stück spielst. Ich schaffe es nicht alleine. Vielleicht spürst du ja auch über die Distanz, was ich gerade empfinde.
Alles Liebe von Tina
Sie schraubt den Füller zu und schaut aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ebnet eine Planierraupe den geschotterten Weg, der zum Wald führt. Tina trinkt einen Schluck Kaffee und liest noch einmal, was sie gerade geschrieben hat. Nachdem sie ausgedrückt hat, was sie fühlt, geht es ihr ein wenig besser. Die Stille im Haus, in dem sie nicht mehr lange wohnen wird, ist wie eine letzte Umarmung.
„Meinen Schreibtisch werde ich mitnehmen“, denkt sie, während sie den Brief zusammenfaltet. „Als Kind hatte ich nie einen eigenen, nur mein Bruder bekam ein Exemplar aus echtem Holz, aber mit viel zu dünnen Beinen.“
„Tinchen kann auch am Küchentisch ihre Hausaufgaben machen“, war die Meinung der Eltern. Töchter sind es gewohnt, zugunsten ihrer Brüder zurückzustecken. In ihrer Kreativität fand sie jedoch immer einen Platz, an dem sie sich ausbreiten konnte, vorzugsweise auf dem Fußboden.
Den Tannenhof hatte Tina ihren Wünschen entsprechend eingerichtet. Wie stolz war sie, als ihr erster eigener Schreibtisch geliefert wurde, ein etwa hundert Jahre altes Stück aus Nussbaum, mit einem Korpus, der rechts und links bis zur Erde reicht, und einer großen Schublade in der Mitte. Er fand seinen Platz hier im Wohnzimmer am Fenster. Dieser Raum mit dem runden Wollteppich im Zentrum wurde gleichzeitig ihr Arbeitszimmer. Für zwei Wände sind Schränke aus Holz maßgefertigt worden, die den Schreibtisch mit dem großen Fenster einrahmen. Pastellfarbene Schmetterlinge tummeln sich auf der Stoffbahn, die mit Rosetten über den Ecken der Fensternischen befestigt ist. Ein Gedanke huscht ihr durch den Sinn, als sie nach oben blickt:
„In den vergangenen Jahren habe ich von Joachim Schmetterlinge in allen nur möglichen Variationen geschenkt bekommen. Da gibt es Ohrgehänge, Haarspangen, Anstecknadeln, Briefpapier, ganz zu schweigen von den Aufklebern, die viele Alltagsgegenstände zieren. Was er damit wohl ausdrücken wollte?“
Nach einer Weile des Nachdenkens steht sie auf, dreht sich um und geht langsam in Strümpfen über den weichen Teppich zum gemütlichen zartlila Sofa, das gegenüber an der Wand steht. Sie schaut zum Zimmerbrunnen, der auf dem flachen Tisch lustig vor sich hin plätschert.
„Hier habe ich mit Simon Shiatsu geübt, Yoga vor dem Fernseher mitgeturnt und Kurskonzepte für Entspannung ausprobiert. Dafür war Joachim gerne mein Versuchskaninchen. Auf dem weichen Teppich absolviere ich sonst mit eiserner Disziplin jeden Morgen mein Fitnessprogramm, aber heute fehlt mir die Kraft dazu. Nun muss ich wohl Abschied nehmen und dies alles loslassen!“
Sie legt sich auf die Couch und deckt sich mit der fliederfarbenen Decke zu. In Joachims Abwesenheit kommt sie innerlich etwas zur Ruhe. Simon ist für zwei Tage mit seinem Vater zu Franziska gefahren. Joachim hat heute Geburtstag, den er mit seiner Freundin und den beiden Kindern feiert.
„Ich habe nichts mehr damit zu tun“, stellt Tina ein bisschen erleichtert fest. „Diese Art von Familienfeiern habe ich niemals zur Zufriedenheit der Verwandtschaft hinbekommen. ‚Wie konnte Joachim nur so eine Frau heiraten?’, habe ich seine Mutter mehr als einmal sagen hören. Einerseits bin ich ganz froh darüber, dass dies nun vorbei ist, andererseits macht es mich auch traurig. Ich muss lernen, bei mir zu bleiben. Irgendwie stirbt da gerade etwas, doch das Leben muss weitergehen, auch für mich. Was ich selbst ausgelöst habe, nimmt nun seinen Lauf. Ich werde die Schritte gehen, die gegangen werden müssen, doch ich weiß noch nicht, wie ich das machen soll. Anfang nächsten Jahres werde ich gemeinsam mit Theo weit weg nach Indien reisen. Ein Teil von mir würde lieber hier bleiben, aber ein anderer Teil freut sich auf diese Reise in ein fremdes Land und in ein neues Leben.“
„Du wirst auf mich warten, nicht wahr?“, sagt sie zu Konradin, dem gehäkelten Hampelmann mit der langen Zipfelmütze, der in der Sofaecke sitzt, und es scheint, als würde er nicken.
„Du kannst getrost deinen Rucksack packen, Indien erwartet dich schon. Ich werde hier für dich die Stellung halten“, hört sie urplötzlich eine sanfte Stimme sagen. Luna hat beschlossen, sich nun auch Tina gegenüber zu offenbaren.
Erschrocken blickt sich Tina um, kann aber niemanden sehen. „Jetzt höre ich schon Stimmen. So weit ist es mit mir gekommen“, denkt sie.
„Du kannst mir ruhig glauben“, erklärt ihr Luna. „Ich bin ein Teil von dir, deshalb kannst du mich nicht sehen, sondern nur hören. Stell dir einfach vor, dass ich hier neben dir auf dem Sofa sitze.“
„Was passiert denn hier gerade?“ Tina ist verunsichert, nimmt Konradin in die Hand und hält ihn an ihr Ohr. „Kannst du jetzt auch sprechen?“, fragt sie ihn, aber er antwortet nicht. „Ein Teil von mir soll getrennt existieren? Das gibt es doch gar nicht.“ Kopfschüttelnd setzt sie den Hampelmann wieder in die Sofaecke und beobachtet ihn genau.
„In Ausnahmefällen ist alles möglich“, antwortet Luna nach einiger Zeit. „Im Hinblick auf dich ist es allerdings eine längere Geschichte. Ich versuche mich kurz zu fassen. Du bist dir nicht zu hundert Prozent sicher, ob du dich von Joachim trennen sollst, vor allem, weil du Simon über alles liebst und ihm ein intaktes Elternhaus erhalten möchtest. Richtig?“
Tina nickt automatisch, ohne genau zu wissen, wer da spricht. Konradin ist es jedenfalls nicht. Er gibt keinen Laut von sich. Träumt sie etwa schon wieder?
„Sagen wir mal, dass sich nur etwa siebzig Prozent von dir wirklich von ihm trennen wollen, dann verkörpere ich die dreißig Prozent, die unentschlossen sind. Ist das nachvollziehbar für dich?“, fragt Luna.
„Ja, aber wie soll das funktionieren, dass ein Teil von mir separat leben kann?“, möchte Tina wissen. Dies scheint wohl doch kein Traum zu sein.
„Deine Sehnsucht, der Wunsch, dass es so sein möge, war so stark, dass eine einzige Jagdszene ausreichte, um ihn in Erfüllung gehen zu lassen. Ich gehe jetzt nicht ins Detail, aber du kannst sicher sein, dass ich viel Spaß dabei habe. Immer wenn dein Ehemann Joachim – oder sollte ich besser sagen ‚unser Ehemann’ – nicht damit rechnet, tauche ich auf und sage ihm die Meinung. Ich sage ihm alles, was du zu sagen dich niemals getraut hast. So läuft das, wenn wir mit alten Freunden zusammenarbeiten und die himmlische Gerichtsbarkeit im Gange ist. Da wird der Anwalt mit seinen irdischen Gesetzen noch ins Grübeln kommen, darauf kannst du wetten.“
Tina kommt aus dem Staunen gar nicht heraus: „Das heißt also, dass Joachim dich auch hören kann?“
„Er kann mich sogar sehen, weil er ja eine andere Person ist“, erklärt Luna.
Tina kann es kaum fassen. „Dann bist du so etwas wie der Engel Max in meiner Geschichte über Simons Kindheit, den ich erfunden habe, damit er ihm die Welt erklärt und ihn beschützt?“
„So ungefähr könnte man es ausdrücken“, erwidert Luna.
„Heißt du auch Tina oder hast du einen anderen Namen?“
„Nein, ich heiße Luna. Erinnerst du dich an den ersten Absatz in deiner Geschichte über die Empfängnis von Simon, in der du den Begriff ‚Lunaception’ erwähnt hast? Da habe ich begonnen zu existieren. Ich habe dir damals schon das eine oder andere zugeflüstert. Auch die Idee mit Max stammt von mir. Du hast ja vor, diese Abhandlung einmal deinem Sohn zu schenken, wenn er erwachsen ist. Dann wird er die Botschaften von Max richtig verstehen und sie für sich nutzen können.
Was mich betrifft, so stehe ich für die weibliche Weisheit, die mit der Mondenergie verbunden ist. Meine Aufgabe besteht darin, Zugang zu tieferen Erkenntnissen zu ermöglichen. Du hast das schon immer in dir gespürt. Mein Wesenszug hat dich die Dinge hinterfragen lassen, was für deine Mitmenschen oft unbequem war. Jetzt, wo ich separat in Erscheinung trete, ist es leichter für mich, dir die Antworten zu deinen Fragen mitzuteilen. Ich bin sozusagen befreit worden. Es war ein Teil deiner Sehnsucht, dass sich in deinem Leben etwas verändern möge. Viele deiner Fähigkeiten möchten noch erforscht und ausgelebt werden. Ich, die ich die Kraft des Mondes verkörpere, gehöre dazu.“
„Habe ich diese Eigenschaft jetzt nicht mehr, wo wir getrennt sind?“, möchte Tina wissen.
„Doch sicher, das sind Qualitäten, die sich beliebig vermehren können“, antwortet Luna. „So, nun höre auf damit, dir Sorgen zu machen! Es beginnt ein wichtiger, neuer Lebensabschnitt, sowohl für dich als auch für alle anderen Beteiligten. Für jeden einzelnen ist bestens gesorgt, da kannst du mir vertrauen. Hast du dir schon alle Impfungen für Indien geben lassen?“
„Ja, habe ich.“ Tina ist verblüfft: „Du denkst ja sogar praktisch. Kannst du mich dort auf dem Laufenden halten, was hier gerade passiert?“
„Aber sicher kann ich das“, beruhigt Luna sie. „Entfernung spielt für mich keine Rolle. Also dann, überlege mal, was du anziehen willst bei dreißig Grad Hitze, die dort im Winter herrschen! Leichtes Gepäck ist wichtig, du musst ja schließlich alles im Rucksack tragen.“
Tina lacht und fragt, wie sie Kontakt mit Luna aufnehmen kann.
„Ganz einfach, du entspannst dich, du denkst an mich und schon bin ich da. Es kann aber auch sein, dass ich ungefragt auftauche.“
„Das macht nichts, darüber würde ich mich sehr freuen. Vielleicht kommt Joachim mit deiner Hilfe doch noch zur Vernunft.“
„Wir werden es erfahren“, sagt Luna und damit schwebt sie davon.
Tina muss erst einmal verdauen, was sie da gerade erlebt hat. Falls sie wirklich nicht geträumt hat und das alles stimmt, dann ist sie ja doch nicht so allein mit ihren Sorgen. Beschwingt geht sie zum Briefkasten, um die Post zu holen. Theo schreibt aus China, dass er sich sehr darauf freut, nach Hause zu fliegen und sie wiederzusehen.
„Gott sei Dank, er kommt zurück.“ Tina ist erleichtert. Im Umschlag steckt noch ein separates Blatt, auf dem sie die folgenden Zeilen liest:
Eine neue Art von Loslassen
Loslassen,
das bedeutete für mich bisher:
Trennungsschmerz,
Angst vor dem Alleinsein
und die Unvermeidbarkeit des Abschieds
von liebgewordenen Begleitern.
Loslassen
in seiner erweiterten Dimension
ist Vertrauen,
mich dem göttlichen Plan anvertrauen,
und Zuversicht in
das Eintreten von Wundern.
Loslassen
ist nicht gleich Loslassen,
doch der freie Fluss der Tränen
unserer alten Schmerzen
ist oft die Voraussetzung
für die Tränen der Freude
und Glückseligkeit.
Tina ist berührt von seinen Worten. Es kommt ihr so vor, als spüre Theo über diese weite Entfernung doch etwas von ihrem Schmerz. Sie fühlt sich reich beschenkt und überlegt, ob sie ihn überraschen soll, indem sie ihn vom Flughafen in München abholt. Froh gelaunt geht sie zu ihrem Schreibtisch und öffnet die Schublade. Sie holt das chinesische Buch heraus und liest, was sie über ihren kleinen Sohn vor zehn Jahren geschrieben hat.