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Ein Kinderleben

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Mein Leben auf diesem verrückten Planeten begann 1968. In der Schweiz war auf dem Land von den gesellschaftspolitischen Aufbrüchen und Veränderungen jener Zeit vorerst wenig zu spüren. Meine Eltern gehörten zwar altersmäßig zu jener Generation, die eine alternative Lebensweise und die freie Liebe proklamierten. Sie bewegten sich aber beide weiterhin innerhalb der damals eng gesteckten Grenzen, die einerseits den Gepflogenheiten eines konservativ bürgerlichen Milieus entsprachen und andererseits mit den Geschichten der jeweiligen Familien zu tun hatten. Die Seetaler Gemeinde, in der wir lebten, gehört zum Kanton Aargau. Das Dorf mit seinen rund dreihundert Einwohnern ist noch heute ländlich geprägt. Damals gab es allerdings nur zwei Beizen, einen Verein und natürlich eine Kirche, die mitten im Dorf stand.

Bereits die Ehe zwischen einem katholischen und einem reformierten Ehepartner galt in gewissen Landstrichen als Skandal. So war es auch bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Als sie im Jahr 1946 im Kloster Mariastein heirateten, mussten zwei Mönche als Trauzeugen aufgeboten werden. Die Hochzeit wurde in der Folge durch die reformierte und die katholische Verwandtschaft boykottiert. Die Großmutter, eine liebenswürdige und gottesfürchtige Katholikin, versuchte die fünf Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Sie geriet aber wohl mehr als einmal in die Bredouille, da ihr Mann von ihrer religiösen Ausrichtung wenig hielt. Außerdem war mein Großvater, also ihr Mann, reformiert. Nach dem Erlebnis mit der besagten Hochzeit wandte er sich ganz ab von der Religion.

Mein Vater, so erfuhr ich erst viel später, pflegte ebenfalls ein zwiespältiges Verhältnis zur Religion. Im aargauischen Freiamt – dem sogenannten «schwarzen Erdteil» – aufgewachsen, erlebte er in seiner Kindheit und Jugend verbale und körperliche Gewalt durch Geistliche.

Trotz dieser Umstände waren beide Elternteile darauf bedacht, meine drei Jahre ältere Schwester und mich in der Tradition christlicher Werte zu erziehen. Obschon gerade in ländlicher Umgebung die soziale Kontrolle funktioniert und sich manche «Verfehlungen» wie ein Lauffeuer verbreiten, ließen Mutter und Vater die Sonntagsmesse regelmäßig sausen. Dem Pfarrer entging unsere Abwesenheit nicht, und am Montag erkundigte er sich im Religionsunterricht vor der ganzen Klasse, warum die Familie Rey am Sonntag nicht in der Kirche gewesen sei. Er hatte allerdings nicht mit der Gewitztheit meiner Eltern gerechnet. Sie halfen uns Kindern nämlich proaktiv mit der Formulierung von Notlügen, und so antworteten wir beispielsweise: «Wir haben die Großeltern auf dem Gasthof in den Bergen besucht.» Diese Besuche fanden zwar regelmäßig statt, denn meine Mutter war im dortigen Hotel arbeitstätig und trug somit zum Familieneinkommen bei. Wir saßen also in Tat und Wahrheit am Sonntag gemütlich in der guten Stube und unsere Ausflüge dienten als willkommene Ausrede für die geschwänzten Kirchenbesuche.

Warum zum Teufel Ritalin?

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