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Gut bürgerlich

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Mein Vater war 1972 mit dem Aufbau seiner Schreinerei beschäftigt. Die ersten Jahre erwiesen sich dabei als besonders beschwerlich. Wie bei vielen selbstständigen Handwerkern üblich, lauerte immer die Gefahr von Auftragsflauten, was konkret bedeutete, dass man die guten Zeiten für Rücklagen nutzen musste, um die mageren Jahre überstehen zu können.

Die schweren Zeiten kannte er aus seiner eigenen Kindheit nur zu gut: Mein Großvater väterlicherseits verstarb früh als mein Vater gerade mal 8 war und die Mutter stand mit den vier Kindern, ein fünftes war unterwegs, alleine da. In jenen Jahren gab es keine Witwenrenten oder anderweitige soziale Auffangnetze, und man kann es aus heutiger Sicht als Wunder betrachten, dass die Kinder nicht verdingt werden mussten. Das war, wie ich später erfuhr, zu weiten Teilen der Dorfgemeinschaft zu verdanken, die der Familie in jeder Hinsicht zur Seite stand. Es hatte aber auch mit der Anpassungsfähigkeit meiner Großmutter zu tun, die mit den Kindern in die Hauswartswohnung in der Schule zog und dort nach dem Rechten sah. Das Geld reichte natürlich bei Weitem nicht. So kam es, dass die sechsköpfige Familie am Sonntagmorgen in den Wald pilgerte, Beeren und Brennholz sammelte und danach schwer bepackt nach Hause zurückkehrte, um rechtzeitig in die nachmittägliche Christenlehre zu gelangen, die im Nachbardorf stattfand.

Mein Vater arbeitete wohl auch deshalb so hart, weil er sich an die eigene beschwerliche Kindheit erinnerte. Er wollte, dass es uns Familienmitgliedern an nichts fehlte. Ich erinnere mich ausschließlich an tolle Geburtstagsfeste und festlichen Weihnachtsfeiern. Wir unternahmen viele Ausflüge, besaßen einen Fernseher und es reichte sogar für ein Auto. Die existenziellen Nöte, die sich mit der Ölkrise Mitte der 1970er-Jahre verschärften, gingen an den Eltern nicht spurlos vorbei und führten innerhalb der Familie zu Spannungen. Wie so oft ging es um das liebe Geld. Mein Vater kritisierte das Haushaltsgeld, das seiner Meinung nach zu hoch war, meine Mutter hielt ihm dafür den «teuren» Schießsport vor. Das alles sorgte für enorme Spannungen, die ich als Kind mit ADHS kaum aushalten konnte. Trotz allem waren Mutter und Vater wild entschlossen, sich einen Traum zu verwirklichen: Sie wollten sich und der Familie ein Haus bauen.

Bis es soweit war, blieben wir in unserem Dorf, wo wir bestens integriert lebten. Meine Mutter hatte Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig traf, und auch mein Vater verfügte über ein gut funktionierendes soziales Umfeld. Ich besuchte während dieser Zeit die erste Klasse. Ziemlich schnell entwickelte ich mich zum Klassenclown, redete viel und störte den Unterricht nachhaltig. Mein Tischnachbar war auch ein bevorzugter Gesprächspartner während der Schulstunde. Zur Strafe musste ich mich immer wieder in die Ecke stellen. Ich schämte mich zwar für mein Label «Klassenclown», aber der Rest der Klasse nahm mir meine Ausreißer nicht übel, denn ich war trotz oder gerade deswegen ihr Liebling. Ich konnte mir das allerdings nie recht erklären, dass man jemanden gernhaben konnte, der sich schämen soll. Aber offenbar fanden die anderen Kinder mein Benehmen belustigend und bereichernd. Solche Vorfälle und die Gründe dafür wurden zwar regelmäßig thematisiert, mein positives Selbstbild, das mir Eltern und Lehrer vermittelten, wurde davon allerdings nicht beeinträchtigt.

In unserer Klasse gab es sieben Schüler, vier Knaben und drei Mädchen. Obwohl unsere Lehrerin noch zwei andere Klassen betreuen musste, hatte sie genügend Zeit und Energiereserven zur Verfügung, um sich um jedes einzelne Kind persönlich zu kümmern. Der Unterricht verlief relativ altmodisch. Es waren die 1970er-Jahre. So etwas wie Frühförderung gab es nicht, und ich erinnere mich auch nicht an Nachhilfeunterricht. Neue Lehrmittel oder moderne Ansätze waren de facto inexistent.

Die Schulstunden gingen für meinen Geschmack recht gemütlich und gemächlich vonstatten. Meinen inneren Turbo konnte ich ja durch permanentes Schwatzen beruhigen. All diese Voraussetzungen schienen mir jedenfalls zu entsprechen, denn meine schulischen Leistungen waren gut. Die Freizeitgestaltung hatte auch nur ein einziges Kriterium zu erfüllen: Sie sollte Spaß machen.

Warum zum Teufel Ritalin?

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