Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 10
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Detective Inspector Hitchens hielt einen Papierstreifen in seinen Tischventilator. Die rotierenden Blätter fraßen ihn mit einem Geräusch, das dem einer Bohrmaschine glich.
»Ihr Name war Carol Proctor«, sagte er. »Eine ziemlich gut aussehende Frau, als sie noch am Leben war.«
Diane Fry sah durchs Bürofenster des Detective Inspectors hinaus und fragte sich, was ihre Schwester Angie gerade tat. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder schlafen gelegt und war fest in ihre Decke eingewickelt, während neben dem Bettsofa ein Becher Kaffee kalt wurde. Vielleicht war sie aber auch im Schlafzimmer und probierte Kleidungsstücke ihrer Schwester an. Mit etwas Glück würde ihr nichts davon passen. Doch das war herzlos. Und unwahrscheinlich.
»Ich hoffe, das wurde in ihrer Akte vermerkt«, sagte Fry. »Ihre Angehörigen haben sich dadurch bestimmt viel besser gefühlt.«
Hitchens warf ihr von seinem Ventilator aus einen bösen Blick zu, doch sie kehrte ihm weiterhin den Rücken zu. Sie wollte mit ihrem Boss nicht unbedingt in einen Streit über Kriminalpolizisten geraten, deren erste Reaktion am Tatort ein Kommentar über die sexuelle Attraktivität des Opfers war.
»Das war 1990«, sagte Hitchens.
»Aha, ich verstehe.«
»Carol Proctor war mit einem von Mansell Quinns engsten Freunden verheiratet. Aber Quinn hatte seit Jahren ein Verhältnis mit ihr.«
»War er selbst verheiratet?«
»Oh, ja. Den Quinns ging es ziemlich gut. Sie hatten sich ein hübsches kleines Einfamilienhaus in Castleton gekauft. Er war in der Baubranche tätig. Aber er war schlau, kein beschränkter, sonnengebräunter Maurer. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er sogar kurz zuvor seine eigene Baufirma gegründet. Klein, aber ziemlich erfolgreich, wie zu hören war. In dieser Gegend gibt es immer eine Menge zu tun – Anbauten, Modernisierungen und solche Sachen.«
»Sie sagten, die beiden hätten das Haus in Castleton gekauft«, merkte Fry an. »Er hat es also nicht selbst gebaut?«
»Nein, er musste von seinen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen. Das Haus war neu und gut ausgestattet. Ich hätte selbst nichts gegen etwas in dieser Art gehabt, aber heutzutage sind in Castleton keine Häuser mehr zu bekommen.«
Fry wandte sich vom Fenster ab, irritiert vom Geräusch des Ventilators, der mit einem weiteren Papierstreifen gefüttert wurde. Das Rattern erinnerte sie an ihren letzten Zahnarztbesuch.
»Gab es Kinder, Sir?«
»Die Quinns hatten zwei, einen Jungen und ein Mädchen. Klingt nach dem perfekten Familienglück, nicht wahr?«
»Aber diese Carol Proctor …«
»Ja, hier zerbricht das hübsche Bild. Die andere Frau.«
»Das klingt ziemlich vorhersehbar.«
»Vielleicht. Leider ist es uns nie gelungen herauszufinden, warum Carol Proctor an jenem Tag zum Haus der Quinns gegangen war. Sie wohnte in derselben Straße, also hat sie es vielleicht einfach ganz spontan gemacht, oder sie hatte Quinn etwas zu sagen, das nicht warten konnte. Worüber die beiden gestritten hatten, haben wir auch nie herausgefunden. Quinn selbst war alles andere als hilfsbereit.«
»Und die Affäre dauerte schon einige Zeit an, trotz seines schönen neuen Hauses, seiner zwei Kinder und seines Hundes?«
»Er hatte keinen Hund«, erwiderte Hitchens.
»Das war nur bildlich gesprochen.«
Hitchens beobachtete sie, als sie vom Fenster wegging und sich einen Stuhl suchte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Fry?«, erkundigte er sich. »Sie scheinen heute Morgen in einer seltsamen Laune zu sein.«
Fry rüttelte sich mental wach. »Mir geht’s gut. Entschuldigung.«
»Schön. Also, auf jeden Fall war Quinns Affäre eine langfristige Sache. Ich war damals wirklich erstaunt. Ich meine, wie kann man jemandem, mit dem man schon so lange zusammenlebt, etwas vorlügen, ohne dass es auffliegt? Irgendwann muss man sich doch verplappern, oder?«
»Das kann ich nicht beurteilen, Sir«, sagte Fry.
»Nein?«
»Ich hab die meiste Zeit allein gelebt.«
»Ach so.«
Fry lebte seit langem allein, was der Detective Inspector ganz genau wusste. Doch sie war inzwischen dagegen abgehärtet. Bislang war es ihr gelungen, das aufkeimende Gefühl von Einsamkeit zu unterdrücken. Einen anderen Menschen um sich zu haben machte es schwierig für sie, ihre Angelegenheiten auf ihre eigene Art und Weise zu erledigen.
Seit Mitte Juni war ihr ständig bewusst, dass sich noch eine weitere Person in ihrer Wohnung aufhielt. Mit einem Mal waren ihr die schmuddeligen Teppiche und die Feuchtigkeitsflecken an den Wänden aufgefallen, als schämte sie sich, wie sie wohnte.
»Ich glaube, manchmal ist es durchaus von Vorteil, Single zu sein«, sagte Hitchens nachdenklich. »Ich meine, in beruflicher Hinsicht. Sie sind doch ehrgeizig, oder, Fry? Möchten Sie befördert werden?«
»Natürlich.«
»Inzwischen kann man in sieben Jahren zum Superintendent aufsteigen. Der Druck ist gewaltig, und die Wahrscheinlichkeit zu versagen ist hoch. Aber es ist möglich. Genau das hatte ich vor, wissen Sie? Manchmal kommt einem das Leben allerdings in die Quere.«
»Ja, Sir.«
Falls er an ihr Mitgefühl appellierte, verschwendete er seine Zeit. Fry erinnerte sich an die Art, wie sie gedacht hatte, als sie sich zur Polizei von Derbyshire hatte versetzen lassen. Sie hatte sich nicht viele Gedanken gemacht, abgesehen davon, wie schnell sie auf der Karriereleiter nach oben klettern konnte, wie sie am besten Eindruck bei ihren Vorgesetzten machen konnte und welcher ihrer neuen Kollegen ihr beim Erreichen ihrer Ziele am nützlichsten sein würde. Rückblickend wurde ihr jedoch bewusst, dass sie sich bemüht hatte, alle ihre Gedanken auf die Arbeit zu richten, um die Themen zu verbannen, über die sie nicht nachdenken wollte.
Damals hatte es nur eine einzige Ausnahme bei ihren selbst auferlegten Regeln gegeben, nur ein einziges Thema, das sie im Kopf hatte, wenn sie nicht im Büro war: ihre Schwester.
Bei Angies erstem Besuch in der Grosvenor Avenue, nachdem Diane sie völlig benommen aus der Ortschaft Withens im Dark Peak abgeholt hatte, hatte ihre Schwester die Wohnung kaum eines Blickes gewürdigt und angemerkt: »Deine Bude ist okay, nehme ich an.« Sie hatte kein Interesse daran gehabt, die Küche oder das Schlafzimmer zu sehen, geschweige denn die Absicht, das Durcheinander zu kritisieren oder die Schmutzwäsche, die auf dem Badezimmerboden herumlag. Warum also sollte ihre Anwesenheit Fry plötzlich ein so schlechtes Gewissen wegen der Unordnung machen?
»Sie ist genau richtig für mich«, hatte sie sich selbst sagen hören.
Und das stimmte auch. Sie verspürte kein Bedürfnis mehr nach einem Zuhause, keinen Wunsch mehr nach einem Ort, der ihr vielleicht irgendwann etwas bedeuten würde.
»Was für Leute wohnen denn sonst noch im Haus?«, hatte ihre Schwester gefragt.
»Studenten.«
»Meine Güte, Studenten. Die sind echt eine Plage.«
Und die Unterhaltung war einmal mehr in eine jener peinlichen Pausen gestolpert, als sei Angie nicht ihre Schwester, sondern eine völlig Fremde, mit der sie überhaupt nichts gemein hatte.
Diane war sich wie eine Idiotin vorgekommen, als sie mitten auf dem Wohnzimmerteppich stand und von einem Fuß auf den anderen trat, während sie versuchte, sich irgendetwas anderes einfallen zu lassen, was sie hätte sagen können.
Angie hatte sich auf das alte Bettsofa fallen lassen, mit einem Seufzen die Beine ausgestreckt und die Spitzen ihrer Turnschuhe angestarrt, die vom Regen in Withens noch immer feucht waren.
»Und, willst du mir nicht einen Kaffee oder so was anbieten, Schwester? Sogar Ben hat mir einen Kaffee angeboten, als ich bei ihm war.«
Fry hielt inne. Sie hörte sogar auf, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Sie wartete darauf, dass ihre Schwester ihr in die Augen sah, aber Angie hob nicht den Blick.
»Du warst zu Hause bei Ben Cooper?«
Angie hatte ihren Zehen ein verschwörerisches Lächeln geschenkt, als hätten sie irgendetwas ziemlich Cleveres getan.
»Ich bin nur eine Nacht geblieben.«
Fry ballte die Fäuste, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten. »Ich glaub nicht, dass ich das hören will.«
Angie zuckte mit den Schultern. »Nicht so wichtig. Frag mich einfach, wenn es dich irgendwann doch interessiert.«
Fry öffnete den Mund, begann erneut, von einem Fuß auf den anderen zu treten, und bemerkte den Schmerz in den Handflächen.
»Wie möchtest du deinen Kaffee?«, erkundigte sie sich.
Aus irgendeinem Grund lächelte Angie immer noch. Doch jetzt sah sie mit einem wissenden Ausdruck in den Augen zu ihrer jüngeren Schwester auf.
»Wir müssen noch eine Menge über einander erfahren«, stellte sie fest. »Nicht wahr, Schwester?«
Als Diane Fry das Büro des Detective Inspectors verließ, war ihr bewusst, dass sie nur einen Teil dessen aufgenommen hatte, was er ihr gesagt hatte. Und das sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Sie war stolz auf ihr gutes Gedächtnis für Details, wenn sie im Dienst war. Zu Hause konnte es durchaus vorkommen, dass das Leben zeitweise wie hinter einem Dunstschleier an ihr vorüberzog, aber nicht bei der Arbeit. Sie war scharfsinnig, aufmerksam und ihren Kollegen bei der Kriminalpolizei weit überlegen. Na ja, zumindest war sie das gewöhnlich. Vielleicht wurde sie krank.
Die Erinnerung an jenen Tag in Witchens war das, was sie abgelenkt hatte. Sie spürte noch immer den Schock des Augenblicks, als sie sich umgedreht und Ben Cooper hatte weggehen sehen. Stattdessen hatte ihre Schwester auf der Straße gestanden, als wären fünfzehn Jahre im Handumdrehen ausgelöscht worden. Seit jenem Tag konnte sie nicht mehr an ihre Schwester denken, ohne auch an Cooper zu denken. Dieser Mistkerl war in ihr Privatleben eingedrungen wie ein Holzsplitter unter ihren Fingernagel. Eines Tages musste sie die Wahrheit von ihm erfahren. Bis sie eine Erklärung dafür hatte, wie er in die Angelegenheit verwickelt war, fehlte ein Bindeglied. Und ohne das ergab die Rückkehr ihrer Schwester in ihr Leben einfach keinen Sinn.
Fry blieb im Flur stehen, griff zu ihrem Telefon und wählte erneut Coopers Nummer, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Doch alles, was sie hörte, war eine Tonbandstimme, die ihr sagte, dass er noch immer nicht erreichbar sei.
Sie steckte das Telefon wieder in die Tasche und ging weiter. Das war das Problem mit Gefühlen – sie konnten so zweideutig sein. Es ergab überhaupt keinen Sinn, enttäuscht und erleichtert zugleich zu sein.
»Der Devil’s Arse«, sagte das ältere der beiden Mädchen mit Überzeugung. »Wir wollen in den Teufelsarsch gehen.«
Ben Cooper lächelte eine alte Dame an, die sich umdrehte und sie anstarrte. Er versuchte, so etwas wie amüsierte Toleranz in das Lächeln zu packen, gemischt mit einer verlegenen Entschuldigung. Die alte Dame senkte den Kopf und flüsterte einer Freundin, die sich auf ein Gehgestell stützte, irgendetwas zu. Cooper stellte sich vor, was sie schlimmstenfalls gesagt haben mochte, und wurde rot.
Das sind nicht meine Kinder, hätte er ihr am liebsten erklärt, brachte es aber nicht übers Herz.
Obwohl Montag war, waren die Straßen von Edendale voller Menschen. Im Peak District hatte die Sommerurlaubssaison begonnen. Es war sonnig genug, dass die alten Damen von ihren Ausflugsbussen zu den Cafés spazieren und jüngere Besucher sich einiger Kleidungsstücke entledigen und sich in der Nähe des Flusses ins Gras legen konnten. Cooper fand es zu schwül in der Stadt, wenn es warm war. Er hielt sich lieber an höher gelegenen Orten auf, wo er die kühle Brise spüren konnte, die über die Moore wehte.
In der Clappergate-Fußgängerzone gingen sie im Zickzack zwischen den Bänken, den steinumrandeten Beeten, den Laternen und den Fahrradständern hindurch. Ein Stück vor ihnen befand sich das Vine Inn, vor dem das Messingschild stand, das er so gut kannte: Im Andenken an Sergeant Joseph Cooper von der Polizei von Derbyshire, der hier in der Nähe im Dienst ums Leben kam.
Cooper versuchte, etwas schneller zu gehen. Vielleicht würde er sich wohler fühlen, wenn er dem Gedränge entkommen konnte.
»Das ist unanständig«, sagte Josie. »Ich benutze keine unanständigen Wörter.«
»Die Höhle heißt aber ›Teufelsarsch‹«, entgegnete Amy. »Also kann es nicht unanständig sein.«
»Ist es aber.«
»Ist es nicht. Frag doch Onkel Ben.«
Cooper blieb stehen. »Morgen«, sagte er fröhlich.
»Warum können wir dich nicht jetzt fragen?«, wollte Amy wissen.
»Nein, ich meine, wir gehen morgen hin.«
»Peak Cavern«, sagte Josie. »So heißt sie richtig. Wir gehen in die Peak Cavern.«
Cooper schwitzte. Und das lag nicht nur an der Schwüle. Eine Unterhaltung mit seinen Nichten glich in letzter Zeit einem Spaziergang über ein Minenfeld. Er wollte nicht, dass ihm Matt und Kate vorwarfen, er würde den Mädchen Wörter wie »Arsch« beibringen. Doch er konnte bereits hören, wie sie es verwendeten, wenn sie am Abend auf die Farm zurückkehrten. Onkel Ben sagt, dass wir »Arsch« sagen dürfen. Großartig.
»Aber du hast doch heute frei«, sagte Amy. Sie war die ältere der beiden und kannte sich mit Schicht- und Dienstplänen bei der Kriminalpolizei besser aus als er selbst.
»Ich habe diesmal zwei Tage frei«, sagte er. »Also können wir morgen gehen.«
»Aber …«
»Ja?«
»Aber was ist, wenn du angerufen wirst?«
Cooper seufzte. Er spürte eine Woge des Mitgefühls für alle Familienväter in der E-Division in sich aufsteigen. Für sie war es bestimmt immer so. Die ständigen Klagen wie: »Warum warst du nicht da, Dad?«, »Du solltest doch heute frei haben«, und: »Was ist, wenn du angerufen wirst?«
»Wenn ich angerufen werde«, sagte Cooper, »gehen wir ein andermal. Versprochen.«
Er konnte beinahe hören, wie die Mädchen den Wert seines Versprechens abwogen und seine Verlässlichkeit beurteilten. Sie waren viel zu klug, um dem Versprechen eines Erwachsenen zu trauen, wollten ihm jedoch glauben. Er öffnete den Mund, um hinzuzufügen: Ich hab euch doch noch nie enttäuscht. Doch er wusste, dass das nicht stimmte.
Eine Gruppe von Wanderern ging vorbei. Ihre Bekleidung war leuchtend bunt, und ihre Gehstöcke verkörperten den neuesten Stand der Technik auf dem Gebiet der Stoßdämpfung. Sich für einen Tag in den Hügeln von Derbyshire auszurüsten wurde immer mehr zu einer Übung in Modebewusstsein, und alle Accessoires mussten genau passen. Bald würden die Leute ihre Rucksäcke nach ihrer Augenfarbe aussuchen.
In der Fußgängerzone kam ein weißhaariger Mann auf sie zu. Das Erste, was Cooper an ihm auffiel, war sein über die Glatze gekämmtes Haar. Jedes Mal, wenn Ben jemanden mit einer solchen Frisur sah, hoffte er, dass er schlau genug sein würde, sich das Haar anders zu kämmen, falls es ihm einmal ausgehen sollte. Einen kahlen Kopf zu haben oder einen Hut zu tragen – alles war besser als über die Glatze gekämmtes Haar.
Der Mann war mit einem silbergrauen Sportsakko und einem blauen Seidenhemd bekleidet, das er über der Hose trug. Er hatte leuchtend weiße Turnschuhe an und einen buschigen weißen Schnurrbart, der vermutlich der letzte Schrei gewesen war, als er noch schwarz war. Sein Haar war lang und wurde sogar den Anforderungen seiner Frisur gerecht. Er sah aus wie ein alternder britischer Charakterschauspieler, der in die Rolle eines abgehalfterten Gigolos geschlüpft war.
Cooper war von dem Einkäufer so abgelenkt, dass er zunächst nicht bemerkte, wie ein Mann in der Uniform eines Sicherheitsdienstes vom Eingang zu einer W.H.-Smith-Buchhandlung in seine Richtung gestikulierte. Er war Polizist im Ruhestand, der in die expandierende private Sicherheitsbranche gewechselt hatte und jetzt eine bessere Uniform tragen durfte.
»Ich glaub, hier drin waren gerade zwei von den Brüdern Hanson«, sagte er. »Richtige Dreckskerle sind das. Die werden beide steckbrieflich gesucht. Ich kenn sie zwar nicht persönlich, aber die beiden sahen aus wie auf den Fotos.«
Cooper blieb stehen. »Ich kenne sie, aber …«
»Vielleicht könnten Sie nach ihnen Ausschau halten. Wahrscheinlich sind sie irgendwo in der Nähe der High Street.«
Amy und Josie sahen den Mann an und lauschten interessiert.
»Sehen Sie, ich bin nicht im Dienst«, sagte Cooper.
Erst jetzt bemerkte der Wachmann die Mädchen. »Oh, natürlich. Sie haben Ihre Kinder dabei.«
»Das sind nicht meine eigenen.«
»Verstehe.«
»Das sind meine Nichten. Die Kinder meines Bruders.«
Schon bevor Cooper stehen geblieben war, um mit dem Expolizisten zu sprechen, war ihm aufgefallen, dass er genau das richtige Alter hatte, um mit seinem Vater zusammengearbeitet zu haben. Er stellte fest, dass er sofort unruhig wurde und weitergehen wollte, ehe wieder Erinnerungen ausgegraben wurden, Geschichten über gemeinsame Spätschichten als junge Polizisten, weil darauf recht bald die Versicherungen folgen würden, wie sehr alle Sergeant Joseph Cooper geschätzt und gemocht hätten und wie erschüttert sie alle gewesen seien, als es passierte.
Auf dem Revier in der West Street in Edendale war das heutzutage weniger ein Problem – am schlimmsten waren die pensionierten Polizisten. Die Typen, die die Tage und Stunden gezählt hatten, bis sie nach dreißig Dienstjahren die volle Pension kassieren konnten. Trotzdem vermittelten sie jetzt den Eindruck, sie seien gezwungen worden, die glücklichsten Tage ihres Lebens hinter sich zu lassen.
»Wir müssen weiter«, sagte Cooper. »Hat mich gefreut, Sie zu treffen.«
»Hey, dann sind das ja Joe Coopers Enkel.«
Aber Cooper winkte und lächelte nur, als er den Abstand zwischen sich und dem Eingang zur Buchhandlung vergrößerte. Josie musste laufen, um ihn einzuholen.
Gelegentlich dachte Cooper über das Älterwerden nach, wobei es sich dabei allerdings meistens nur um eine kurze Spekulation darüber handelte, ob er länger leben würde als sein Vater. Er verspürte kein großes Bedürfnis, selbst Vater zu sein. Zumindest noch nicht. Doch wer würde sich um ihn kümmern, wenn er alt war, wenn er hilflos war, wie seine Mutter es jetzt war? Wie es im Augenblick aussah, würde niemand für ihn da sein.
Doch bis dahin würden noch Jahrzehnte vergehen; momentan brauchte er sich deshalb keine Sorgen zu machen. Der Grund, weshalb er über das Älterwerden nachdachte, war allein der, dass er bald Geburtstag hatte. Und diesmal war es nicht nur irgendein Geburtstag.
Joe Cooper hatte ebenfalls im Juli Geburtstag gehabt. Das bedeutete, dass sie beide vom Sternzeichen Krebs waren, die Krabbe in ihrem Panzer. Ein Astrologe wäre vermutlich hocherfreut gewesen, zu erfahren, dass Cooper so lange gebraucht hatte, bis er von der Bridge End Farm in eine eigene Wohnung gezogen war. Der Widerwille, das Heim der Familie zu verlassen, das Bedürfnis, sich in seinem Panzer zu verkriechen. Am Samstag würde er tatsächlich dreißig Jahre alt werden.
Was seinen Job betraf, war Cooper sich sicher, dass man ihn in Kürze bitten würde, in anderen Bereichen Erfahrung zu sammeln, und er der Kriminalpolizei für eine Weile auf Wiedersehen sagen musste. Irgendjemand würde mit einem scharfen Messer auftauchen und seinen Panzer aufstemmen.
»Du hättest uns diesem Mann vorstellen sollen«, sagte Amy. »Er kannte Granddad.«
»Ich dachte, ihr wolltet zum Mittagessen gehen?«
»Das war nicht sehr höflich.«
»Du bist auch nicht höflich«, sagte Josie zu ihrer Schwester. »Du sagst ›Arsch‹.«
Cooper dachte einen Augenblick darüber nach, ob er sich egoistisch verhielt. Er hatte die Geschichten eines pensionierten Polizisten über seinen Vater nicht hören wollen. Genau genommen hatte er befürchtet, dieser Expolizist könnte zu denen gehören, die zum Schauplatz von Sergeant Coopers Tod gerufen worden waren, und würde deshalb ein Bild von seinem Leichnam in einer Blutlache im Kopf herumtragen. Und das wollte er auf keinen Fall sehen.
Amy und Josie dagegen hätten vielleicht gerne mit jemandem über ihren Großvater gesprochen, der ihn gekannt hatte und nicht zur Familie gehörte. Unter Umständen würde ihnen das helfen zu verstehen, was geschehen war.
Ecke High Street Clappergate, nur wenige Meter vor McDonald’s, sah Cooper auf der anderen Straßenseite zwei der Brüder Hanson. Er erkannte sie auf den ersten Blick, da er sie selbst schon einmal verhaftet hatte und mit ihrem ältesten Bruder sogar zur Schule gegangen war. Die beiden waren nicht vor Gericht erschienen, nachdem ein milder Richter sie gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt hatte, und hatten Gerüchten zufolge Derbyshire verlassen, aus Angst, wieder hinter Gittern zu landen. Cooper griff automatisch nach seinem Mobiltelefon und stellte erst jetzt fest, dass er vergessen hatte, es nach der Höhlenrettungsübung wieder einzuschalten.
Dann bemerkte er, dass Amy ihn mit einem Gesichtsausdruck ansah, zu dem nur ein Kind imstande war, einem Gesichtsausdruck, der aus ihrer natürlichen moralischen Überlegenheit gegenüber Erwachsenen resultierte.
»Du bist nicht im Dienst«, sagte sie. »Du musst heute keine Verbrecher finden.«
Cooper sah sie an und verharrte mit dem Finger auf der ersten Taste. Er sollte mit den Mädchen zu McDonald’s gehen und ihnen ein Happy Meal kaufen, bevor er sie wieder zur Bridge End Farm brachte, vorzugsweise sicher und unverdorben.
»Ja, ich weiß«, sagte er. »Aber manchmal finden sie mich. So ist das eben.« Und er fuhr fort zu wählen.