Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 6
ОглавлениеCastleton, Derbyshire, 9. Oktober 1990
Und dann war sie tot. Er hörte, wie das Röcheln endgültig in ihrer Kehle stecken blieb, und spürte ihren letzten Atemzug seine Wange streifen, als sei eine Rauchschwade durchs Zimmer geschwebt. Einen Augenblick lang hatte sie sein Leben wie eine zum Bersten gefüllte, schillernde Seifenblase in den Mund genommen. Und dann hatte sie diese mit einem Seufzen zum Platzen gebracht, mit jenem erstickten Keuchen. Mit ihrem letzten Atemzug hatte sie sein Leben zerstört.
Mansell Quinn wusste, er hatte sie sterben hören. Er ließ sie los und starrte auf das Blut, das seine Finger befleckte und sich in seinen Handtellern sammelte. Er drehte die Hände hin und her und beobachtete, wie es über die weiße Staubschicht auf seiner Haut lief. Es floss über seine Handgelenke und tröpfelte auf das weiche Fleisch seiner Unterarme, wo es die feinen Härchen kitzelte wie zärtliche Fingerspitzen.
Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, die wie Fliegen darin umherschwirrten. Ihm war bewusst, dass es Dinge gab, um die er sich kümmern musste. Dinge, um die er sich jetzt kümmern musste. Doch er konnte sich nicht mehr erinnern, welche Dinge. Quinns Verstand drehte sich im Kreis, und alles im Zimmer um ihn herum hatte begonnen, Schwindel erregend zu schaukeln. Schmerzhafte Adrenalinstöße durchzuckten seine Adern und rauschten durch seinen Körper, als wäre Gift in seinen Blutkreislauf gepumpt worden.
Die Wörter, die ihm durch den Kopf schossen, halfen ihm überhaupt nicht weiter. Mord. Die Kinder. Das Messer. Er wusste, was die Wörter bedeuteten, vermochte sie aber nicht in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Aus irgendeinem Grund trug sie den lindgrünen Pullover. Gerade noch hatte der Stoff sich dort, wo er sich über ihrer Brust öffnete, in seinen Händen gedehnt und verdreht. Neben dem Blut wirkte seine Farbe grell. Doch wenn ihn irgendjemand gefragt hätte, was sie sonst noch anhatte, hätte er es nicht sagen können. Der Pullover und das Blut waren das Einzige, was er sah.
Quinn sank zu Boden und kniete neben dem Leichnam nieder. Er spürte, wie Schweiß aus seinen Poren drang und ihm wie Tränen über das Gesicht lief. In seinem Magen rumorte es, bis er glaubte, sich übergeben zu müssen. Er hob das Messer auf, um es aus ihrer Reichweite zu bringen, es zu verstecken, es wegzuwerfen, es aufzubewahren. Er hatte keine Ahnung, was davon. Er griff nach ihrem Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen, obwohl er sie hatte sterben hören und wusste, dass sie tot war. Das Gefühl, ihre Haut zu berühren, und die Schlaffheit ihrer Gelenke ließen ihn zusammenzucken, und er ließ ihre Hand wieder zu Boden fallen, wo sie mit einem dumpfen Geräusch aufschlug. Dann bemerkte er die Blutspuren, die er auf ihrem Arm zurückgelassen hatte; sie bildeten ein Muster aus Klecksen und Streifen, das ihn an das Brandzeichen eines Tieres erinnerte.
Er blickte auf, sah sich blinzelnd im Zimmer um und versuchte einzuordnen, wo er sich befand. Ihr Tod hatte die Welt vollkommen verändert, sodass ihm nichts mehr vertraut erschien. Ein Wirrwarr von Eindrücken überflutete seine Sinne wie die Bruchstücke eines zersplitterten Bildes. Irgendwo spielte Musik, die er jedoch nicht erkannte. Vor ihm stand eine Tür offen, aber er konnte sich nicht erinnern, wohin sie führte. Durch die Türöffnung fiel Licht, obwohl es dahinter dunkel hätte sein müssen. In der Luft hing ein süßlicher Geruch, der ihm bekannt vorkam, aber er konnte ihn nicht beim Namen nennen. Er befand sich in seinem eigenen Haus, doch das hatte sich in einen Ort verwandelt, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Die Umgebung war fremd und in Blut gemalt.
Quinn blickte hinunter in ihr Gesicht, und der Schock traf ihn ein zweites Mal. Er spürte ein Aufkeimen von verzweifelter Hoffnung, dass es vielleicht möglich war, alles ungeschehen zu machen und die Uhr zurückzudrehen, als sei überhaupt nichts geschehen. Was wäre gewesen, wenn er etwas früher oder später nach Hause gekommen wäre? Oder wenn er nicht von der Baustelle in der Back Street aufgehalten worden wäre? Was wäre gewesen, wenn er sein Werkzeug im Auto gelassen hätte, anstatt in Ruhe die Tasche auszuladen und ins Haus zu tragen, weil er sich mehr Sorgen machte, dass nachts Diebe des Weges kommen könnten, als darüber, was in den nächsten Minuten geschehen würde.
Wenn er nur einen kleinen Schritt zurück in der Zeit machen könnte, würde ihre Leiche vielleicht nicht auf dem Wohnzimmerboden liegen, und das Blut würde womöglich wie von Zauberhand vom Teppich verschwinden wie in einem Werbespot für ein Wunder-Reinigungsmittel. Sie würde vielleicht aufstehen, lachen und ihm erklären, warum sie sich tot gestellt hatte. Und das Leben wäre wieder wie früher.
Doch Quinn hatte sie sterben hören. Das Geräusch ihres letzten Atemzugs hatte ihn überzeugt, nicht der Anblick des Blutes oder ihre schlaffen Gelenke. Und er wusste, dass er seinen Fehler schon viel früher begangen hatte – vor Jahren, als er sie kennen gelernt und die ganze Sache angefangen hatte. Jetzt würde sein Leben nie wieder normal sein.
In einem Moment der Stille wurde Quinn sich seiner eigenen Atmung bewusst. Ihr Klang schien das Zimmer auszufüllen, rau und hastig wie das Keuchen eines gehetzten Tiers, eines Hasen in den Fängen eines Hundes. Er hatte noch nie seiner Atmung gelauscht. Er hatte noch nie gespürt, wie seine Lunge nach Luft rang, oder das flache Keuchen gehört, das über seinen Gaumen huschte wie ein eisiger Wind, der durch seinen Kopf wehte. Das Geräusch gefiel ihm nicht, und er war froh, als wieder Musik die Stille im Haus füllte.
Was war das für Musik? Warum spielte sie? Quinn nickte jemandem zu, obwohl sich außer ihm niemand im Zimmer befand. Er erinnerte sich, dass er noch nicht gefunden hatte, wonach er suchte. I still haven’t found what I’m looking for – diese Worte ersetzten die anderen in seinem Kopf. Aber er hatte nicht nach dem lindgrünen Pullover gesucht. Der hätte nämlich überhaupt nicht hier sein sollen.
Dann bemerkte er, dass an seinen Knien Feuchtigkeit durch seine Jeans drang. Er stand auf und starrte die dunkelroten Flecken auf dem Stoff und das Blut an, das sich unter den Sohlen seiner Stiefel ausbreitete. Es war so viel, dass es aus dem Teppich hervorquoll, wenn er die Füße bewegte.
Er ging unsicher um den Leichnam und betete, er möge aus einer anderen Perspektive anders aussehen. Doch alles, was er jetzt sah, waren seine Fußabdrücke im Blut. Der Teppich hatte einst ein goldfarbenes Muster gehabt – er hatte zu den ersten Dingen gehört, die Rebecca und er beim Einrichten des Hauses ausgesucht hatten. Sie würde wütend sein, dass der Teppich ruiniert war.
Quinn betrachtete abermals seine Hände, und das Blut erinnerte ihn daran, was er zu tun hatte. Das Telefon stand auf einem Tisch neben der Tür. Er wählte die Nummer des Notrufs und schaffte es sogar, sich an seine Adresse zu erinnern.
»Ja, Pindale Road 82. Einen Krankenwagen, bitte.«
Er bemühte sich, der Stimme in der Telefonzentrale zu lauschen, obwohl ihn der metallische Geruch des Blutes an seiner Hand und das Gefühl des rutschigen Hörers in seinen Fingern ablenkten.
»Polizei? Ja, wahrscheinlich.«
Nachdem das erledigt war, hatte er das Gefühl, dass ihn seine Beine nicht mehr trugen. Er bahnte sich den Weg zurück über den Teppich und ließ sich in einen Sessel fallen. Sein Blick wurde auf die Uhr an der Wand über dem Kaminsims gelenkt. Er wusste, dass die Uhr aus irgendeinem Grund wichtig war. Er lauschte ihrem Ticken und wartete darauf, dass es den Nebel durchdrang, der sich über seine Gedanken gelegt hatte, und ihm sagte, was sonst noch zu tun war.
Schließlich fiel Quinn die wichtigste Sache von allen ein. Die Kinder. Und er hätte das Messer verstecken sollen. Das Messer war gefährlich.
Doch die Erschöpfung überwältigte ihn, und sein Kopf sank nach hinten gegen die Sessellehne. Als die ersten Polizisten im Haus eintrafen, fanden sie Mansell Quinn schlafend vor. Er träumte, dass die ganze Welt ihn atmen hören konnte.