Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 12

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In Parson’s Croft brannte kein Licht, als Dawn Cottrill auf das Haus zufuhr – nicht einmal die Sicherheitsbeleuchtung ging an, als sie mit ihrem Wagen in die Einfahrt einbog und die Bewegungsmelder sie hätten wahrnehmen müssen. Das genügte bereits, um sie davon zu überzeugen, dass irgendetwas nicht stimmte.

Seit Andrea, die bereits in Panik war und sich das Schlimmste ausmalte, sie vor einer Stunde aus London angerufen hatte, hatte Dawn unentwegt versucht, ihre Schwester zu erreichen. Rebecca war weder an ihr Festnetztelefon noch an ihr Handy gegangen. Andrea hatte natürlich sofort die Polizei verständigen wollen, aber Dawn war es gelungen, sie davon abzubringen. Und das bereute sie jetzt. Hier oben in Aston, wo es keine Straßenbeleuchtung gab und alle Häuser durch Bäume voneinander abgeschirmt wurden, war es einfach ein bisschen zu dunkel. Rebecca vergaß nie, abends die Außenbeleuchtung einzuschalten.

Dawn war jedoch gut gerüstet. Sie tastete im Handschuhfach nach ihrer Taschenlampe, die sie immer dabeihatte, falls sie einmal eine Panne haben sollte. Schade, dass Jeff an diesem Abend auf einer Konferenz in Birmingham war, denn sie hätte ihn jetzt gerne bei sich gehabt. Manche Dinge musste sie aber auch allein schaffen, und nach ihrer Schwester zu sehen war eines davon.

Dawn war jedoch gut gerüstet. Sie tastete im Handschuhfach nach ihrer Taschenlampe, die sie immer dabeihatte, falls sie einmal eine Panne haben sollte. Schade, dass Jeff an diesem Abend auf einer Konferenz in Birmingham war, denn sie hätte ihn jetzt gerne bei sich gehabt. Manche Dinge musste sie aber auch allein schaffen, und nach ihrer Schwester zu sehen war eines davon.

Sie schloss den Wagen sorgfältig ab und ging zur Hintertür des Hauses. Diese Tür benutzte sie immer, wenn sie ihre Schwester besuchte, und außerdem besaß sie einen Ersatzschlüssel, damit sie die Blumen gießen oder den Hund füttern konnte, wenn Rebecca verreist war.

Dawn konnte sich nur zwei Möglichkeiten vorstellen. Am wahrscheinlichsten war, dass ihre Schwester irgendwohin gefahren war und vergessen hatte, ihr Mobiltelefon mitzunehmen. Da das Garagentor geschlossen war, konnte sie nicht sehen, ob Rebeccas Auto da war oder nicht. Jeder vergaß hin und wieder sein Handy. Es war sogar möglich, dass man sein Handy vergaß und nicht daran dachte, die Außenbeleuchtung einzuschalten, wenn man aus dem Haus ging.

Die andere Möglichkeit war, dass Rebecca krank war. Sie litt manchmal unter Migräne und hatte vielleicht ihre Tabletten genommen und sich ins Bett gelegt, um die Kopfschmerzen auszuschlafen. Wahrscheinlich hätte sie in diesem Fall das Telefon nicht gehört. Dawn stellte sich vor, wie ihre Schwester in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock lag, und wurde ein wenig ruhiger. Das war etwas, womit man umgehen konnte.

Als Dawn den Schlüssel ins Schloss steckte, klopfte sie an die Hintertür, obwohl sie wusste, dass das überflüssig war. Rebecca würde bestimmt nicht im Haus sitzen, wenn alle Lichter ausgeschaltet waren.

Doch der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Dawn zog ihn wieder heraus, betrachtete ihn im Licht der Taschenlampe, um sicherzugehen, dass es der richtige war, und versuchte es noch einmal. Sie bewegte ihn vor und zurück und stellte fest, dass er sich ziemlich leicht nach links und wieder zurückdrehen ließ. Die Tür war nicht abgesperrt.

Mit einem unguten Gefühl drehte Dawn den Türknopf, drückte die Tür auf und erschrak ein wenig, als diese sich mit einem weichen Knirschen von der Dichtung löste. Erst dann kam ihr der Gedanke, dass sie durch die Vordertür hätte eintreten sollen, wo sich die Steuerung für die Alarmanlage befand. Doch inzwischen wusste sie mit absoluter Gewissheit, dass der Alarm nicht losgehen würde.

Tatsächlich herrschte im Haus völlige Stille. Dawn rief den Namen ihrer Schwester und lauschte dem Beben in ihrer Stimme. Sie rief abermals, diesmal etwas lauter, und bemühte sich, zuversichtlich zu klingen.

»Rebecca? Bist du zu Hause?«

Rebecca könnte auch vergessen haben, die Hintertür abzuschließen, dachte sie sich. Falls sie einen ihrer Migräneanfälle hatte und sich schlecht fühlte, war es durchaus möglich, dass sie nicht daran gedacht hatte. Andrea würde sehr wütend auf ihre Mutter sein, wenn sie es erfuhr.

Andreas Bedenken gingen Dawn weiterhin durch den Kopf. Obwohl sie wusste, dass es unlogisch war, musste sie allen Mut zusammennehmen, um den Lichtschalter im Haus zu betätigen. Sie stand in der Waschküche, und das Neonlicht flackerte und beleuchtete plötzlich die harmlosen Umrisse von zwei Gefriertruhen, einer Waschmaschine und einem Wäschetrockner. Durch die Tür am anderen Ende des Raums war die Küche zu sehen, in der es noch dunkel war, dahinter befanden sich der Flur und die Treppe. Sie hörte eine der Gefriertruhen brummen und glaubte, ein leises Tröpfeln zu vernehmen. Im Haus war es stickig und warm, deutlich wärmer als bei ihr zu Hause.

Dawn ging durch die Waschküche zur Küchentür und tastete nach dem Lichtschalter. Doch dann hielt sie inne. Das Brummen der Gefriertruhe war nicht das Einzige, was sie hörte. Da war noch ein anderes Geräusch, ganz in der Nähe. Es war kaum wahrnehmbar, nicht mehr als ein ganz schwaches Kratzen von etwas Hartem auf den Fliesen.

»Rebecca? Bist du da?«

Als Antwort erhielt sie einen Laut, der sie trotz der Wärme der Zentralheizung erschaudern ließ. Ein Winseln ertönte. Ein leises, erbärmliches Winseln, das ihr vermutlich entgangen wäre, wenn sie nicht völlig reglos dagestanden hätte. Es war nicht mehr als ein gedämpftes Wimmern, ein unfreiwillig ausgestoßener Laut in der Stille des Hauses. Dawn hätte sich durchaus einreden können, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Doch dann ertönte es noch einmal. Und es kam nicht aus der dunklen Küche vor ihr, sondern von hinten.

Dawn wirbelte herum und starrte auf die leuchtend weißen Wände der Waschküche und auf die Hintertür, die sie, wie ihr jetzt auffiel, offen gelassen hatte.

»Wer ist da?«, fragte sie mit einer Bestimmtheit und Autorität, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte.

Sie richtete ihre Taschenlampe auf die Hintertür, doch die Dunkelheit im Freien ließ sich davon nicht beeindrucken. Dann hielt sie den Atem an und lauschte angestrengt. Nach und nach richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf eine der Gefriertruhen.

Das Gerät stand einige Zentimeter von der Wand entfernt. Dawn glaubte, dass es schon immer so gestanden hatte, war sich allerdings nicht ganz sicher. Es war eine ziemlich große Gefriertruhe, da Rebecca gerne auf einer Farm in der Gegend Fleisch aus biologisch kontrollierter Zucht in großen Mengen kaufte. Wenn die Truhe voll war, bedurfte es sicher einiger Anstrengung, sie zu verrutschen. Deshalb war zwischen Gefriertruhe und Wand vermutlich schon immer ein schmaler Spalt gewesen.

Dawn warf einen Blick auf die Hintertür und beschloss, sie offen stehen zu lassen. Sie sah sich nach einer Waffe um, fand aber nichts Geeignetes. Stattdessen schloss sie die Finger fester um die Taschenlampe und ging auf die Gefriertruhe zu. Als sie gerade den Deckel öffnen wollte, hörte sie das Geräusch erneut. Ein leises Streifen an der Wand, ein Kratzen auf den Fliesen. Irgendetwas befand sich hinter der Gefriertruhe.

Sie beugte sich über die Truhe und leuchtete mit der Taschenlampe in den Spalt. Auf der Rückseite des Geräts hatte sich Staub angesammelt, obwohl es noch gar nicht so lange dort stand. Zwischen den Rohren und Kabeln entdeckte sie etwas, das auf den ersten Blick aussah wie ein altmodischer Pelz-Muff, der in dem schmalen Spalt klemmte. Es war braunweiß, roch nach Urin und zitterte, als der Lichtstrahl es traf.

»Oh, mein Gott. Milly.«

Dawn brauchte ein paar Minuten, um die in die Jahre gekommene Shih-Tzu-Hündin hinter der Gefriertruhe hervorzuholen, wo sie sich zu einer unglaublich winzigen Kugel zusammengerollt hatte. Der Hund scharrte verzweifelt mit den Pfoten an den Fliesen, um sich dagegen zu wehren, ins Licht gezerrt zu werden.

»Milly, du armes kleines Ding. Was ist denn mit dir passiert?«

Soweit Dawn es beurteilen konnte, wirkte der Hund unverletzt. Als sie jedoch sah, wie verstört das Tier war, bestand für sie kein Zweifel mehr. Sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass ihre Schwester tot war.

Auf dem Rückweg von Castleton fuhr Ben Cooper am Hope-Zementwerk vorbei und über Pindale, um ins Eden Valley zu gelangen. Unterhalb von Pindale lag ein winziger Weiler mit einem restaurierten Minengebäude und einem Campingplatz. Allerdings nahmen nur wenige diese Route – die Straße war einspurig und zu steil und schmal für eine angenehme Fahrt, wenn man sie nicht gut kannte.

Ein Stück weiter überquerte er die Batham Gate, eine römische Straße, und fuhr südlich von Bradwell auf die B6049. Nach einigen weiteren Meilen erklomm er den letzten Hügel und blickte auf Edendale hinunter.

Das Eden Valley befand sich an einem geologischen Kollisionspunkt, an dem die beiden Hälften des Peak District aufeinandertrafen. Auf der einen Seite lagen die Kalksteinplateaus und bewaldeten Schluchten des White Peak mit seinem Mosaik aus Feldern und ruhigen Ortschaften. Diese wurden von drei Seiten wie von den Fingern einer Hand von den höher gelegenen Hängen des Dark Peak umrahmt. Über seine kargen Torfmoore waren erodierte Sandstein-Felsnasen verteilt, deren groteske und unheimliche Formen zahlreiche volkstümliche Legenden ins Leben gerufen hatten.

In Coopers Augen wohnte dem Dark Peak und dem White Peak ein unwiderstehlicher Symbolismus inne: Sie verkörperten Licht und Schatten, Gut und Böse. Aufgrund der Lage von Edendale hatte er manchmal das Gefühl, sich auf der Grenze zwischen Gut und Böse zu bewegen, wenn er in der Gegend unterwegs war. Doch diese Grenze war nicht so klar gezogen, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Jene dunklen, zerklüfteten Felsnasen neigten dazu, sich an Stellen aufzutürmen, wo man sie nicht erwartete. Unmittelbar unterhalb der Oberfläche schien immer etwas Dunkles zu lauern, das bereit war, sich den Weg ans Tageslicht zu bahnen.

Cooper fuhr ins Ortszentrum und kam bei seiner Wohnung in der Welbeck Street an. Er sah, dass von Westen Gewitterwolken nahten. Sie schienen eine Zeit lang am Horizont zu hängen, bis sich ausreichend viele von ihnen angehäuft hatten, und dann zogen sie weiter, um den Himmel zu verdecken. Als er aus dem Auto stieg, konnte er bereits spüren, wie die Luft schwerer und feuchter wurde. Bald würden die Leute mit einem Ton der Erleichterung in der Stimme zueinander sagen: »Es wird jeden Moment regnen.«

Seit seine amerikanische Nachbarin ausgezogen war und niemand mehr im ersten Stock wohnte, war es im Haus merkwürdig still. Cooper hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, jeden Abend in eine leere Wohnung zu kommen, wo die Post auf dem Fußabstreifer lag und im Spülbecken eine benutzte Kaffeetasse vom Frühstück stand. Er hatte nicht viel von der Bridge End Farm mitgenommen, nur seinen Computer, ein paar Bilder und natürlich das gerahmte Foto über dem offenen Kamin, auf dem mehrere Reihen von Polizisten in Uniform zu sehen waren. Sergeant Joe Cooper stand in der zweiten Reihe. Es war bei irgendeinem formellen Anlass einige Jahre vor dem Tod seines Vaters gemacht worden.

Allein zu leben hatte viele Vorteile. An seinen freien Tagen hielt es Cooper kaum für nötig, sich anzuziehen oder zu rasieren. Er konnte so lange er wollte in einem alten T-Shirt und Jogginghosen herumschlurfen. Er konnte den ganzen Vormittag am Küchentisch sitzen, Kaffee trinken und Toast essen, wenn ihm danach zumute war. Außerdem war es heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr, allein zu leben. Bald würde fast das halbe Land allein leben.

Trotzdem konnte er nicht umhin, sich jedes Mal zu freuen, wenn er seine Wohnung betrat und das Erste, was er sah, sein schwarzer Kater war, der mit seinem warmen Fell und seinen erwartungsvoll leuchtenden gelben Augen aus der Küche auf ihn zukam. Randy hatte seinen Winterpelz abgelegt und war jetzt schlank und dunkel und ganz offensichtlich keine so große Katze, wie er jeden glauben machen wollte.

Das Donnern, das Cooper jetzt hören konnte, wurde nicht von einem Sturm begleitet, sondern war eher eine Warnung, dass Regen kommen würde. Und der kam tatsächlich, und zwar binnen Sekunden. Es begann unvermittelt so stark zu regnen, dass es sich anhörte, als ob der Fluss über seine Ufer getreten sei, durch die Gärten strömte und drohte, die Häuser am unteren Ende der Straße zu überfluten.

In der Küche war der Lärm des Regens ohrenbetäubend, da er auf das Glasdach des Wintergartens prasselte. Neben dem Geräusch der Tropfen hörte Cooper die hölzernen Fensterrahmen knarren, als sie abkühlten und sich zusammenzogen. Er fütterte Randy und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Zweite, was er an diesem Abend in seiner Wohnung zur Kenntnis nahm, war das blinkende grüne Licht seines Anrufbeantworters. Es blinkte ihn auf eine Art und Weise an, die nur eines bedeuten konnte. Einmal mehr war ein kleines Stück Dunkelheit kurz davor, sich den Weg ans Tageslicht zu bahnen.

Raymond Proctor kam an diesem Abend spät nach Hause. Bevor er das Haus abschloss, sah er sich noch einmal auf dem Campingplatz um. Er betete, dass an diesem Abend nicht noch in letzter Minute Neuankömmlinge eintreffen würden. Falls doch welche kommen sollten, hoffte er, dass sie einen vorübergehenden Stellplatz finden würden, ohne ihn zu stören und ohne zu viel Aufhebens darum zu machen. Sollten die Idioten doch einmal allein zurechtkommen.

Proctor wäre gerne zum Teich hinuntergegangen, um noch einmal den Teil der Anlage zu kontrollieren, wo die alten Wohnwagen standen. Aber nicht im Dunkeln. Die Hauptbeleuchtung deckte nur den zentralen Bereich des Campingplatzes um das Büro und den Laden ab. In ihrem Licht wirkte der Blockhütten-Effekt grotesk und heruntergekommen wie die Kulissen eines billigen Horrorfilms. Außerhalb des erleuchteten Bereichs sah er nur die erhellten Rechtecke der von Vorhängen verdeckten Fenster, hinter denen Familien sich für die Nacht verbarrikadiert hatten.

Ein Auto kam durch das Haupttor hereingefahren. Es sah aus wie der weiße Audi der jungen Familie, die in einem der Bungalows untergebracht war. Als der Wagen auf den Kiesweg einbog, erfassten die Scheinwerfer die Silhouette einer Gestalt, die in der Nähe der Wasserhähne übers Gras ging. Proctor kniff die Augen zusammen, aber die Scheinwerfer waren längst weg, bevor er erkennen konnte, um wen es sich handelte. Um einen Mann, dessen war er sich sicher. Vermutlich war es einer der französischen Lehrer gewesen, die auf dem Weg nach Schottland waren und zwei Nächte auf dem Campingplatz bleiben wollten. Allerdings hätte es ebenso gut irgendjemand anderer sein können.

Proctor humpelte ins Haus und kontrollierte sämtliche Riegel an den Fenstern und Türen. Er ließ ein Licht im Flur und die Außenlampe über der Hintertür brennen. Connie saß im Wohnzimmer und sah fern. Sobald er das Haus betrat, konnte er den Lärm einer Schießerei und quietschender Reifen hören.

»Mach leiser«, rief er ihr aus dem Flur zu.

»Gibt’s ein Problem?«

»Nein. Mach einfach leiser.«

Connie kam in den Flur, was er nicht beabsichtigt hatte. Sie war bereit, ins Bett zu gehen, und trug ihren Morgenmantel sowie die Pantoffeln mit dem blauen Pelzrand. Sie starrte ihn an und schnüffelte argwöhnisch.

»Mit wem hast du getrunken?«

»Mit niemandem.«

»Blödsinn.«

»Ich hatte nur zwei Bier.«

»Du schwitzt, Ray. Du kannst dich kaum ruhig halten. Ich merke, wenn du zu viel getrunken hast.«

»Geh wieder fernsehen, Herrgott noch mal. Ich hab dein ewiges Genörgel satt.« Ein krachendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es klang, als sei eine Tür umgefallen, die jemand eingetreten hatte. »Und mach bitte die Glotze leiser, ja?«

Sie deutete mit dem Finger auf ihn. »Wenn du noch einmal in diesem Ton mit mir sprichst, Raymond Proctor, wirst du es bereuen. Du weißt, ich wollte, dass wir heute alle gemeinsam zu Abend essen, aber du musstest auf Sauftour gehen. Dann hat mich Jason wieder gepiesackt, und jetzt schmollt er in seinem Zimmer.«

Proctor hielt die Idee eines Essens mit der ganzen Familie für völlig verrückt. Er erinnerte sich, dass Alan sich in Jasons Alter ganz genauso benommen hatte. Seltsamerweise war es bei seinem eigenen Sohn schwieriger zu tolerieren gewesen. Es musste irgendetwas mit Schuldgefühlen zu tun haben.

»Ich will doch nur, dass wir eine richtige Familie sind«, sagte Connie. »Dass wir Sachen gemeinsam machen und miteinander auskommen.«

»Ich hab Neuigkeiten für dich, Connie. Richtige Familien kommen nicht miteinander aus.«

Sie starrte ihn plötzlich hasserfüllt an. »Du musst es ja wissen. Schließlich hast du schon eine Familie verloren. Eine Frau und einen Sohn – das war leichtfertig, nicht wahr, Ray?«

»Lass mich doch in Ruhe«, erwiderte Proctor.

Sie hatte Recht, dass er schwitzte. Im Haus war es unglaublich heiß, aber er würde heute Abend auf keinen Fall mehr nach draußen gehen.

»Und lass dir einen Rat von mir geben«, sagte Connie, als sie sich umdrehte, um zu ihrem Spielfilm zurückzukehren. »Sei in Zukunft vorsichtiger, mit wem du trinkst. Bier ist dir noch nie bekommen. Es bringt dich immer in Schwierigkeiten.«

Raymond Proctor blieb noch ein paar Minuten im Hausflur stehen und beobachtete das Spiel von Licht und Schatten auf den Glasscheiben der Eingangstür. Er war mit diesem Effekt vertraut, der durch die Bewegung der Bäume vor den Lampen der Zufahrt entstand. Doch heute schien es auf Wingate Lees mehr Schatten als Licht zu geben.

Das Ye Olde Cheshire Cheese befand sich an der Hauptstraße von Castleton, in der Nähe des Peak Hotel. Es war bereits spät, als Mansell Quinn dort ankam, nur eine gute Stunde bevor es schloss. Doch es gelang ihm, ein Zimmer zur Straße mit Aussicht auf den Parkplatz zu bekommen – wenngleich er sich keine Sorgen machte, dass an diesem Abend jemand kommen und ihn finden könnte.

Quinn fühlte sich so sicher, dass er sich sogar eine Weile in die Bar setzte und ein Tonic Water bestellte. Das war das erste nicht-alkoholische Getränk, das ihm einfiel, und er wollte einen klaren Kopf behalten. Der süßliche Geruch von Bier war allerdings verlockend.

»Sind Sie im Urlaub?«, erkundigte sich der Barkeeper, als er sein Getränk auf den Tresen stellte.

»Ja, könnte man so sagen.«

»Gehen Sie ein bisschen wandern?«

»Ja.«

Der Barkeeper war ein Mann mittleren Alters – ungefähr genauso alt wie er selbst, stellte Quinn fest. Er starrte den Mann einen Moment lang an und empfand ein plötzliches, beängstigendes Bedürfnis, mit ihm zu reden und ihm alles zu erzählen, was ihm durch den Kopf ging. Er warf Geld auf den Tresen, ließ den Barkeeper die Münzen einsammeln und zog sich in eine Ecke der Bar zurück.

Quinn versteckte die Hände unter dem Tisch, bis sie aufhörten zu zittern. Er war wieder wütend, aber diesmal auf sich selbst. Deshalb blickte er sich in der Bar um und suchte nach einer Ablenkung. Es gab dort so vieles, woran er sich nicht mehr erinnerte. Er war sich nicht sicher, ob sich die Kneipe verändert hatte oder ob nur sein Gedächtnis versagte und nicht mehr in der Lage war, auf die Welt zurückzugreifen, die er vor vierzehn Jahren hinter sich gelassen hatte.

Er konnte sich zum Beispiel nicht an die Abzüge der uralten Fotografien an den Wänden erinnern, die zeigten, dass das Cheshire Cheese früher ein belebtes Kutschen-Gasthaus gewesen war. Doch zu Zeiten von Pferdekutschen hatte auf dem Schild nur »Cheshire Cheese« gestanden. Das »Ye Olde« musste also eine Ergänzung aus dem zwanzigsten Jahrhundert sein.

Dort drüben, im hinteren Teil des Raumes, hatte er oft mit Ray Proctor und Will Thorpe gesessen. Sie hatten auch an jenem Tag vor fast vierzehn Jahren dort gesessen, wobei der Tisch und die Stühle inzwischen sicher ausgetauscht worden waren. Hatte es damals vier Plätze am Tisch gegeben? Quinn war überrascht, wie verschwommen seine Erinnerungen an jene Zeit waren. Die Ereignisse hätten sich eigentlich in sein Gedächtnis einprägen müssen, doch es gab Lücken in seiner Erinnerung, die er nicht schließen konnte. Einiges davon war ihm beinahe willkürlich in den Tagen und Wochen nach seiner Verhaftung wieder eingefallen, wenn durch eine Frage der Polizei oder einen Fetzen Musik aus dem benachbarten Zimmer plötzlich ein genaues Detail aus seinem Gedächtnis hervorgekramt wurde. Aber nicht alles. Einige der Auslöser, die er brauchte, fehlten noch immer, und er wusste nicht, wo er sie finden konnte.

Quinn warf dem Barkeeper einen Blick zu, um herauszufinden, ob dieser ihn beobachtete, und nahm einen Schluck von seinem Tonic Water, das scharf und bitter schmeckte wie Säure. Nach einer Weile gewann er seine Fassung zurück und bemerkte die Essensgerüche, die aus der Küche kamen. Seit dem Gefängnisfrühstück am Morgen vor seiner Entlassung um halb neun hatte er nichts mehr gegessen. Er fand eine Speisekarte auf dem Tisch und bestellte Scampi mit Pommes frites.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte der Barkeeper, als er das Essen brachte, »aber möchten Sie Sauce Tartare dazu?«

Als um elf Uhr die Sperrstunde nahte, trank Quinn aus und ging auf sein Zimmer. Er blieb im Gang stehen, um den Angestellten zu lauschen, die sich in der Küche unterhielten und mit Kochutensilien klapperten, und fragte sich, ob sie über ihn sprachen. Auf dem Treppenabsatz ging er unter dem Objektiv einer Überwachungskamera vorbei, die auf sein Zimmer ausgerichtet war. Am nächsten Tag würde er auf dem Weg nach draußen abermals daran vorbeigehen.

Er hatte bereits in Edendale angefangen, sich Gedanken wegen Kameras zu machen, nachdem er das Videoüberwachungssystem im Einkaufszentrum bemerkt hatte. Er hatte beobachtet, wie die Kameras auf ihren hohen Masten hin und her schwenkten, und sich vorgestellt, wie die Männer vom Sicherheitsdienst irgendwo in einem Raum saßen – so ähnlich wie im Gartree-Gefängnis, wo jede seiner Bewegungen vom Kontrollraum aus überwacht worden war, wenn er sich nicht in seiner Zelle befand. Doch in Edendale wurde jeder überwacht. Und das schien niemanden zu stören.

Quinn zählte nach, gegen wie viele Bewährungsauflagen er bereits verstoßen hatte. Er hatte den Termin bei seinem Bewährungshelfer versäumt, er wohnte nicht dort, wo er hätte wohnen sollen, und er hatte seinem Bewährungshelfer nicht gesagt, wohin er fuhr. Außerdem gab es Leute, mit denen er nicht in Kontakt treten durfte. Doch wie es so schön hieß: wennschon – dennschon.

Er besaß nur das bisschen Geld, das er als Häftling bei der Feldarbeit verdient hatte, sowie sein Entlassungsgeld. Letzteres war so bemessen, dass es ihm eine Woche über die Runden helfen würde, bis er Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung bekam. Zumindest hatte er sich keine Sorgen zu machen brauchen, beim Verlassen des Gefängnisses gleich wieder verhaftet zu werden, was so viele Häftlinge befürchteten, wenn ihre Entlassung anstand. Die Polizei hatte keinerlei Interesse an ihm gezeigt.

Sein Zimmer im Cheshire Cheese wurde fast vollständig von einem Doppelbett ausgefüllt. In einer Ecke stand eine Duschkabine, und zwei Stufen führten in eine Nische hinunter, in der sich eine Toilette und ein Waschbecken befanden. In Deckennähe war ein kleiner Fernseher mit einer Halterung an der Wand angebracht. Quinn ging eine Zeit lang im Zimmer auf und ab. Da es draußen inzwischen dunkel war, zog er die Vorhänge zu. Auf dem Fensterbrett entdeckte er einen kleinen Teddybären, der auf einem Drehstuhl saß und eine schwarz-weiße Katze auf dem Knie hatte.

Er spielte mit einer Lampe mit Dimmer auf dem Nachttisch, dann legte er sich aufs Bett und drückte Knöpfe auf der Fernbedienung des Fernsehers. Es lief eine Spielshow, die er sich ansah. Er beobachtete die Gesichter der Kandidaten, ohne auf ihre Stimmen zu hören. Es schien sich um Familien zu handeln, die jeweils aus Mutter, Vater und zwei Kindern im Teenageralter bestanden. Sie grinsten und lachten über die Witze des Moderators. Doch Quinn wusste, dass es auf dem Heimweg im Auto zu Streitereien kommen würde. Tränen, Vorwürfe, aufgestauter Ärger und endlose Beschimpfungen, die stets wiederholt wurden.

Nach kurzer Zeit wurde er müde. Seine Wutausbrüche raubten ihm in der Regel sämtliche Energie. Er streifte seine Kleidungsstücke aus den Benefizgeschäften ab und stieg unter die Dusche, da er wusste, dass es vermutlich für lange Zeit seine letzte sein würde. Das heiße Wasser fühlte sich angenehm auf seiner Haut an.

Als Quinn sich ins Bett legte, konnte er noch immer das bittere Tonic Water und die scharfe Sauce Tartare im Mund schmecken. Die beiden Geschmacksrichtungen vermischten sich beim Einschlafen in seinen Gedanken. Schärfe und Bitterkeit, Bitterkeit und Schärfe. Der Geschmack von Blut und Küssen.

Der Rache dunkle Saat

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