Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 11
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Der Bus von Ashbourne nach Edendale war fast leer. Mansell Quinn nahm an einem der hinteren Fenster Platz, wo ihn die anderen Fahrgäste nicht sehen konnten. Er beobachtete, wie die Szenerie nach und nach das vertraute White-Peak-Muster aus Feldern und Bruchsteinmauern annahm, bis schließlich in der Nähe der A6 eine Flut von Kalksteinbrüchen aus der Landschaft spross. Da sie am Rand des Nationalparks so deutlich ins Auge stachen, war Quinn überrascht, dass sie noch in Betrieb waren.
In Edendale machte er sich auf die Suche nach dem Brunnen in der Spa Lane. Aus dem Messingrohr lief noch immer Wasser, und die Leute standen mit Kunststoffkanistern Schlange. Ein Mann mit einem Kasten mit Zweiliterflaschen füllte Unmengen davon ab. Quinn wartete, bis alle gegangen waren, und beugte sich dann hinunter, um aus den hohlen Händen zu trinken. Er hatte erwartet, dass das Wasser kalt sei wie in einem Gebirgsbach. Doch es war seltsam lauwarm und hatte einen mineralischen Beigeschmack – ganz anders, als er es in Erinnerung hatte.
Während der gesamten Fahrt von Sudbury hatte er Mut gesammelt, ein Geschäft zu betreten. Auf dem Weg zum Brunnen war er an mehreren Benefizläden vorbeigekommen und hatte bemerkt, dass sämtliche Angestellte Frauen waren. Genauso wie die meisten Kunden. Er machte sich Sorgen, dass Frauen dazu neigten, aufmerksamer zu sein.
Als er zwei Frauen auf die Eingangstür des Oxfam-Ladens im Clappergate-Viertel zusteuern sah, trat er hinter den beiden ein und hängte sich dabei beinahe an ihre Rockzipfel, um über die Türschwelle zu gelangen. Er kaufte ein ausgeblichenes kariertes Hemd für zwei Pfund fünfzig. Ermutigt setzte er seinen Einkauf fort und fand in einem Scope-Laden ein paar Türen weiter Jeans in genau der richtigen Größe.
Bei der Auswahl einer Jacke musste er jedoch Vorsicht walten lassen. Sie sollte leicht, aber regendicht sein und eine Kapuze haben. Er würde sich viel im Freien aufhalten, wollte aber bei dieser Hitze nicht mit zu warmer Kleidung belastet sein. Quinn verspürte kurzzeitig Panik, als er bemerkte, dass dieselben Frauen, denen er in den Oxfam-Laden gefolgt war, auch bei Help the Aged waren. Doch die beiden schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit, und er vermutete, dass die Leute offenbar eine Art Rundgang von einem Benefizgeschäft zum nächsten machten. Der Mensch war eben ein Gewohnheitstier.
Bei Cancer Research neben dem Lieferanteneingang zum Clappergate-Einkaufszentrum fand er genau das Richtige: eine schwarze, zusammenlegbare Regenjacke, die wasserdicht und atmungsaktiv war, aber trotzdem leicht genug, um sie bei sich zu tragen. Sie besaß eine spitze Kapuze, die sich mit einem Klettverschluss am Rücken befestigen ließ, einen Windschutz-Kragen, den man bis übers Kinn zuknöpfen konnte, und eine Kordel, um die Kapuze zusammenzuziehen. Neu musste sie einmal dreißig bis vierzig Pfund gekostet haben. Sie hatte auf einer Seite einen kleinen Riss, und das Futter am Kragen war abgewetzt, doch das störte ihn nicht. Außerdem roch sie leicht nach Öl, als hätte sie jemand bei Arbeiten am Motor eines Autos getragen. Doch auch das war ihm egal.
Und dann entdeckte er im hinteren Teil des Ladens einen Rucksack. Er hatte ein dunkles Khakibraun, nicht eine der nutzlosen grellen Farben, die er in den Schaufenstern gesehen hatte, und sah aus, als stammte er aus ehemaligen Armeebeständen aus den 1950er-Jahren, war aber gut verarbeitet und solide genug für seine Zwecke.
»Ein bisschen warm zum Wandern, oder?«
»Was?«
Quinn hielt das Geld abgezählt in der Hand, da er den Gesamtbetrag berechnet hatte, bevor er zur Kasse gegangen war. Er hatte gedacht, er könnte bezahlen, seine Einkäufe nehmen und gehen, ohne der Frau hinter dem Ladentisch die Gelegenheit zu geben, sich irgendetwas an ihm zu merken.
»Wandern«, sagte sie. »Der Rucksack und die Regenjacke – ich nehme an, Sie gehen wandern?«
Die Frau legte die Jacke zusammen und suchte nach einer Plastiktüte, um sie einzupacken. Sie machte nur Smalltalk, und Quinn wusste, dass es irgendeine Antwort geben musste, die sie für völlig normal hielt.
»Ja«, erwiderte er, »aber nicht hier.«
Daraufhin sah sie zu ihm auf und lächelte. Quinn hatte das Gefühl, dass sie ihn zwang, etwas zu sagen.
»In Wales«, fügte er hinzu.
Das war das Erste, was ihm einfiel, doch er wusste sofort, dass es die falsche Antwort war. Wenn in den Zeitungen über ihn berichtet würde, stünde dort vielleicht, dass er aus Wales stammte.
»Dort waren wir letztes Jahr«, sagte die Frau. »In Aberystwyth. Ich würde in Wales allerdings nicht wandern gehen. Für meinen Geschmack gibt es dort viel zu viele Berge. Dafür werde ich langsam zu alt.«
Sie sah ihn forschend an. Quinn war sich darüber im Klaren, dass sie versuchte, sein Alter zu schätzen, und bald würde sie sich fragen, warum er allein wandern ging, mit einem uralten Rucksack und einer zerrissenen Regenjacke.
Er spürte, wie er wütend wurde. Seine Hände begannen zu zittern, seine Schläfen pochten, und er konnte ein Sausen im Kopf hören – das Geräusch von Blut, das in sein Gehirn strömte.
»Möchten Sie nicht das Geld nehmen?«, fragte er.
Er legte die Scheine auf den Ladentisch und nahm die Plastiktüte.
»Moment. Sie bekommen noch was raus«, sagte sie.
»Schon gut.«
Quinn blieb vor dem Laden stehen und prüfte seine Einkäufe, da er fürchtete, er könnte etwas liegen lassen haben. Instinktiv warf er noch einen Blick durch das Schaufenster und sah die Frau, die ihn bedient hatte, hinter ihrem Ladentisch stehen. Sie beobachtete ihn. Ihr Blick gab ihm das Gefühl, als hätte jemand genau durchschaut, was er vorhatte.
Er ging schnell von dem Laden weg. Vermutlich sah sie ihn überhaupt nicht an – höchstwahrscheinlich starrte sie auf irgendetwas hinter ihm auf der anderen Straßenseite oder bewunderte ihr Spiegelbild im Fenster. Dann fiel Quinn wieder ein, dass es ohnehin keine große Rolle spielte. Als er hundert Meter entfernt war, hatte er sich wieder beruhigt und ging langsamer.
Das Vine Inn gab es jedenfalls noch. Er hatte in diesem Pub ein- oder zweimal etwas getrunken, inzwischen war er jedoch renoviert worden, um eine bessere Kundschaft anzusprechen. Er war neu gestrichen worden, und auf den Tafeln im Freien wurden Spezialitäten von der Speisekarte angepriesen.
Dann bemerkte Quinn das Messingschild an einem der steinumrandeten Blumenbeete vor dem Pub, und die Inschrift fiel ihm ins Auge. Im Andenken an Sergeant Joseph Cooper. Er starrte die Worte an und las sie sich mehrmals vor, ehe er sich erinnerte, wo er war, und aufblickte. Im Andenken an Sergeant Joseph Cooper.
Zumindest konnte er jetzt die Stadt verlassen. Da er die letzten paar Gegenstände auf seiner Liste nicht in einem x-beliebigen Benefizgeschäft finden würde, musste er woandershin. Er musste ohnehin weiter. Es gab einiges zu erledigen. Und die Zeit drängte.
Auf der letzten Etappe seiner Reise schloss Quinn die Augen und versuchte, sich auszuruhen. Als er wieder aus dem Fenster sah, befand er sich bereits im Hope Valley. Die vertrauten Hügel versammelten sich um ihn, hießen ihn willkommen und zogen ihn an.
Die Vertrautheit der Umgebung schnürte Quinn die Kehle zu, als er aus dem Bus stieg und durch ein Feld auf eine Reihe von Bäumen zuging. Winzige Fliegen stiegen aus den Rispen des langen Grases auf, als er sie im Gehen streifte. Er brach eine Rispe ab und steckte sie in den Mund, um auf ihr zu kauen. Sie schmeckte nach Nuss, erinnerte ihn aber zugleich an Hafer. Er dachte an eine Schüssel Müsli und daran, wie er morgens am Küchentisch saß, Milch einschenkte, Kaffee roch und hörte, wie die Kinder sich für die Schule fertig machten.
Und dann hörte er irgendwo ein Tor knarren. Er hätte das Tor reparieren sollen. Vor mehr als vierzehn Jahren hatte er versprochen, die Scharniere zu ölen. Das Geräusch genügte, um ihn ins Jahr 1990 zurückzuversetzen und die dazwischenliegenden Jahre zu verdrängen, als hätte es sie nie gegeben. Das Seitentor knarrte, und hier stand Mansell Quinn, lauschte dem Knarren und rechnete jeden Augenblick damit, die Stimme seiner Frau zu hören, die ihn daran erinnerte, dass er versprochen hatte, sich darum zu kümmern.
Quinn war kurzzeitig verwirrt. Er sah sich selbst das Garagentor öffnen und hörte sich verärgert seufzen, weil er von irgendetwas Wichtigerem abgelenkt wurde. Er hatte vor Augen, wie er eine Dose Rostlöser aus dem Regal nahm, hustete, als er einen Werkzeugkasten hochhob, ein altes Spinnennetz wegwischte und die Dübel fand, nach denen er gesucht hatte. Er konnte sich sogar an die Struktur der Ytongwand hinter dem Regal erinnern und sich ein Bild von ihrer Farbe machen – blassblau, da nach dem Streichen der Küche noch etwas Farbe übrig geblieben war. Er rief sich ins Gedächtnis, wie er den Rostlöser auf die Scharniere des Tors sprühte und beobachtete, wie sich das verrostete Metall dunkel verfärbte, als die Flüssigkeit eindrang und nach unten lief. Er konnte die alkoholischen Dämpfe riechen, als das Spray ihm ins Gesicht wehte.
Er hatte das Tor repariert. Trotzdem konnte er noch immer sein Knarren hören. Es war, als würde er einen Teil seines Lebens abermals durchleben – nicht von dem Augenblick an, als die Polizei ins Haus kam und ihn an seinem letzten Tag in Freiheit verhaftete, sondern von einem früheren Zeitpunkt an. Ihm schien, als sei er, kurz bevor alles angefangen hatte, schiefzugehen, wieder in sein eigenes Leben getreten.
Nach ein paar Minuten richtete Quinn sich auf. Es war nicht dasselbe Haus und nicht dasselbe Tor. Seine Erinnerungen hatten ihn in die Irre darüber geführt, was in die Vergangenheit und was in die unmittelbare Gegenwart gehörte.
Von einer Erinnerung wusste er jedoch, dass sie real war, und zwar von derjenigen, die ihm in den vergangenen vierzehn Jahren nie aus dem Kopf gegangen war. Bei ihr handelte es sich nicht um ein trügerisches Déjà-vu-Erlebnis, sondern um die Erinnerung an Blut – an Blut, das sich sammelte und durch ein goldfarbenes Feld strömte.
Es hatte zu regnen begonnen. Er hatte nicht bemerkt, dass die Wolken dichter geworden waren, hatte nicht einmal daran gedacht, einen Blick in den Himmel zu werfen. Er zog seine Jacke an und stülpte die Kapuze über. Doch sein Gesicht war bereits nass, und von den Bäumen tropfte noch mehr Wasser auf ihn herab.
Quinn hatte zwei Jahre zuvor begonnen, Pläne zu schmieden, und zwar an dem Tag, als er erfuhr, dass er ein letztes Mal verlegt werden würde. Es war an einem Morgen Anfang April gewesen, an einem Tag, als die Birken, die vom Hof des Gartree-Gefängnisses zu sehen waren, bereits ihre Form und Farbe veränderten und die ersten Anzeichen des Frühlings ihre Äste verschwimmen ließen.
»Sie werden in den offenen Strafvollzug verlegt«, hatte ihm der Gefängnisdirektor mitgeteilt. »Her Majesty’s Prison Sudbury. Das ist in Derbyshire. Damit sind Sie Ihrem Zuhause viel näher, Quinn. Ihre Familie kann Sie dann leichter besuchen.«
Quinn hatte den Mann angestarrt, als spräche er eine Fremdsprache. Und das hätte auch durchaus sein können, so wenig Sinn ergab das, was er sagte. Quinn wartete auf die Übersetzung, doch es kam keine. Der Gefängnisdirektor warf einen Blick auf die Akte, die auf seinem Tisch lag, sah allerdings nicht, dass Quinn im Gartree-Gefängnis keine Besuche von Familienangehörigen bekommen hatte, nicht einen einzigen in acht Jahren.
»Freut Sie das denn nicht, Quinn?«
»Oh. Doch, Sir.«
»Sie können froh sein, hier rauszukommen. Ich weiß, dass es nicht immer leicht für Sie war. Sie haben eine ziemlich harte Zeit hinter sich, nicht wahr?« Der Gefängnisdirektor blätterte eine Seite der Akte vor ihm um. Er versuchte nicht, sie zu lesen. Er tat nicht einmal so. Er blätterte sie nur mit seinen langen, weißen Fingern um, als könne er Quinns Erinnerungen der Vergangenheit übergeben, indem er eine Seite umblätterte, eine Akte schloss und sie in die Schublade eines Büroschranks legte. War denn alles dort auf dieser Seite seiner Akte, zusammengefasst in ein paar Absätzen, die eine Gefängnissekretärin getippt hatte?
»Eine ziemlich harte Zeit. Ja, Sir.«
Der Gefängnisdirektor sah Quinn unsicher an, entspannte sich aber, als er sah, wie ruhig sein Häftling war.
»Sie werden feststellen, dass das Leben im Sudbury-Gefängnis um Welten einfacher ist. Und es ist natürlich ein weiterer Schritt in Richtung Ihrer Entlassung.«
Er lächelte hoffnungsvoll. Doch irgendetwas ging in Quinn vor sich. Sein Körper schien sich mit einer Wolke giftigen Gases zu füllen, die von irgendwo tief in seinem Bauch aufstieg und sich durch seine Gedärme schlängelte, seine Lunge flutete und in sein Gehirn sickerte. Er wartete irritiert, dass die Wolke sich verflüchtigte, ehe er sprechen konnte.
»Vielen Dank, Sir.«
Ein weiteres Lächeln, diesmal allerdings ein anderes. Ein ironisches Lächeln. »Vorausgesetzt, Sie zeigen sich von Ihrer besten Seite, Quinn. Sie möchten doch nicht wieder hier landen, oder?«
Der Gefängnisdirektor wartete ein paar Sekunden auf eine Antwort, dann wurde ihm unbehaglich. Er schloss die Akte mit einem leichten Rascheln und einem Klicken. »Vielleicht wird es eine Weile dauern, bis Sie es begriffen haben. Das verstehe ich schon, Quinn. Falls Sie mit irgendjemandem darüber sprechen möchten, geben Sie einfach Mr. Jeavons Bescheid, dann lässt sich das schon arrangieren. Sie wissen ja, dass Ihnen Betreuer zur Verfügung stehen. Ein Geistlicher vielleicht …«
Quinn versuchte, den Kopf zu schütteln, aber die Muskeln in seinem Hals bewegten sich kaum. Er hatte das Gefühl, als sei sein Gesicht zu monströsen Ausmaßen angeschwollen und pendle zwischen den Wänden des Büros hin und her wie ein Heißluftballon. Seine Haut brannte wie Feuer, und vor seinen Augen war ein Vorhang gefallen, der verhinderte, dass er den Gefängnisdirektor klar sehen konnte. Dennoch verharrte Quinn bewegungslos auf seinem Stuhl, die Hände auf den Oberschenkeln ruhend, während er der Stimme des Mannes lauschte.
»Ihre Verlegung wurde für nächste Woche anberaumt. Sie können Ihre Angehörigen wissen lassen, wo Sie sich in Zukunft befinden, damit sie Sie besuchen können.«
Seine Stimme klang weit entfernt wie die Stimmen in seinen Träumen, die Worte gedämpft, aber bedrohlich.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Quinn?«
»Ja, Sir. Danke, Sir.«
»Das wär’s dann. Sie können jetzt gehen.«
Als Quinn anschließend wieder in seine Zelle geführt worden war, hatte er den Aufseher, der ihn an seinem Ellbogen hielt, und die Türen, die sich hinter ihm schlossen, kaum zur Kenntnis genommen, ebenso wenig wie den vertrauten Lärm in seinem Trakt und die Stimmen der Häftlinge, die auf den Treppenabsätzen widerhallten wie die Schreie von Tieren in einem fernen Dschungel.
Quinn hatte nichts von alledem gehört, weil er viel zu tief in Gedanken versunken war. Er hatte an all die Menschen gedacht, die mit diesem Zeitpunkt in seiner Vergangenheit in Verbindung standen, die Menschen, die seit so vielen Jahren seine Träume bevölkert hatten. Und er hatte bereits beschlossen, wer von ihnen sterben sollte.
Rebecca Lowe hatte eingeatmet, um zu schreien, doch es war zu spät. Sie hatte das Gefühl, als pressten ihr riesige Fäuste die Brust zusammen, um die Luft aus ihr herauszudrücken wie aus einer Plastiktüte, für die es keine Verwendung mehr gab.
Der Schock ließ Rebeccas Muskeln einige Sekunden lang erstarren. Tief in ihrem Bauch spürte sie, dass ihr Zwerchfell hilflos zuckte wie ein amputierter Körperteil, der sich weigerte zu sterben, bis die Nervenenden aufhörten, sich zusammenzukrampfen. Die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr verursachte ihr Schwindelgefühle, und sie versuchte, die dunklen Schatten, die sich vor ihren Augen formten, durch blinzeln zu vertreiben. Tief aus ihrem Rachen drang ein Geräusch – ein Stöhnen, das in ihrem Kopf dröhnte, es aber nicht schaffte, an die Luft zu gelangen.
Dann spürte sie ihre Zwerchfellmuskeln plötzlich wieder zurückschnellen. Sie lockerten den Griff, mit dem sie ihre Lunge gepackt hatten, und ein Luftschwall strömte in ihre Brust. Das Geräusch, das dabei entstand, glich einem Todesröcheln, jenem letzten Atemzug, bevor man stirbt. Doch niemand hört seinen eigenen letzten Atemzug.
Rebecca Lowe öffnete die Augen. Ihr wurde bewusst, dass sie auf dem Fußboden ihrer Küche lag. Sie spürte die Fliesen unter dem Rücken und die Feuchtigkeit, die durch ihre Bekleidung drang. Sie hatte den Boden erst vor einer Stunde gewischt, und der Geruch des Putzmittels war überwältigend. Als sie vorsichtig eine Hand bewegte, hörte sie das klickende Geräusch eines ihrer Ringe auf den Fliesen. Doch ihre Hand schien weit von ihrem Gesicht entfernt zu sein, und sie verstand nicht, warum ihr Arm in einem derart merkwürdigen Winkel dalag.
Dann wurde ihr bewusst, wie sehr ihr Kopf schmerzte. Es war, als habe der Sauerstoff, den ihre Lunge eingeatmet hatte, letztendlich ihren Kopf erreicht und dort den Schmerzschalter umgelegt, der die Nervenzellen auf die Botschaft des Aufschlags auf den Boden aufmerksam machte, und diese kreischten jetzt wie ein Feueralarm. Wogen von unerträglichem Schmerz rollten vom hinteren Teil ihres Schädels nach vorn, explodierten in ihren Augen und zwangen sie, die Augenlider gegen das Licht zu schließen.
Rebecca wusste, dass die Schmerzen noch schlimmer werden würden, wenn sie den Kopf bewegte. Also versuchte sie, stattdessen ein Bein zu bewegen. Das schien der am weitesten entfernte und sicherste Teil ihres Körpers zu sein. Zunächst war sie sich nicht sicher, welches Bein sie bewegte, da beide Beine ineinander verschlungen waren. Doch dann löste sich ein Bein von dem anderen und schlug auf dem Boden auf. Erst als sie die Feuchtigkeit an ihrem Fuß spürte, bemerkte sie, dass sie einen Schuh verloren hatte. Sie hatte ihre Flip-Flops getragen, was auf dem feuchten Boden ein Fehler war, da ihre Sohlen glatt und rutschig waren.
Rebecca begann automatisch, den Kopf zu heben, um nach dem Schuh Ausschau zu halten. Sie schrie und hörte nicht auf zu schreien, als der Schmerz in ihrem Gehirn einschlug, von der Schädeldecke abprallte und ihren ganzen Körper durchflutete, wobei er jeden Muskel und jeden Nerv zu durchtrennen schien. Ihr Kopf fiel auf den Boden zurück, und der Kreislauf der Qualen begann aufs Neue. Ihre Finger krümmten sich, scharrten an den Fliesen und hinterließen willkürliche Muster auf der feuchten Oberfläche. Ihr Magen krampfte sich zusammen und beförderte schubweise Gallenflüssigkeit in ihren Mund. Tränen sammelten sich in ihren Augen und liefen ihr an den Wangen hinunter.
Rebecca stellte fest, dass ihre Atmung abgehackt und keuchend war, und versuchte, sie zu beruhigen. Irgendwie musste sie eine Lösung finden. Ihr war klar, dass sie schwer verletzt und allein im Haus war. Sie konnte um Hilfe rufen, aber nicht lauter, als sie bereits vor Schmerzen geschrien hatte. Ihr Schreien hallte ihr noch immer in den Ohren wider.
Das Haus war annähernd luftdicht und gut isoliert. Niemand würde sie hören, es sei denn, jemand stand unmittelbar vor einem der doppelt verglasten Fenster. Und ihre nächsten Nachbarn wohnten fast dreihundert Meter entfernt. Rebecca lauschte, ob auf der Straße ein Auto vorbeifuhr, doch alles, was sie hörte, waren der Wind und der Regen.
Sie wusste, ihre einzige Chance war, sich zum Telefon zu schleppen. Doch allein der Gedanke daran ließ sie vor Schmerzen zusammenzucken. Es bestand keinerlei Hoffnung, dass sie das nächste Zimmer erreichen würde, ohne vor Schmerzen ohnmächtig zu werden und sich vielleicht noch mehr Schaden zuzufügen. Hätte sie doch nur ihr Mobiltelefon in der Tasche gehabt. Aber sie wusste, dass es noch dort war, wo sie es zuvor hingeräumt hatte – in ihrer Handtasche auf dem Esszimmertisch.
Jeder Gedanke bereitete ihr Kopfschmerzen. Ihre Tränen flossen schneller, als ihr klar wurde, dass sie vermutlich warten musste, bis jemand zum Haus kam und sie fand. Doch sie rechnete damit, die ganze Nacht und den ganzen morgigen Tag allein zu sein.
Langsam wurde Rebecca bewusst, dass noch irgendetwas nicht stimmte. Sie dachte an ihre Hündin Milly, die in der Waschküche geschlafen hatte. Sie hätte aufwachen oder in irgendeiner Weise auf ihr Schreien reagieren müssen. Wenn sie Milly doch nur hätte berühren können, ihre Nähe hätte spüren können. Die Gegenwart eines anderen Lebewesens hätte ihr bestimmt ein klein wenig Sicherheit gegeben.
Doch im Haus herrschte eine Stille, die nicht normal war. Trotz ihrer Schmerzen hatte Rebecca den Eindruck, dass diese Stille sie auf irgendein Detail hinwies, das durch den Sturz aus ihrem Gedächtnis verdrängt worden war – irgendetwas, das sie nicht ganz begreifen konnte, weil sie nicht mehr imstande war, sich richtig zu konzentrieren.
Dann fiel ihr das Geräusch ein, das sie gehört hatte, kurz bevor sie stürzte. Es war das weiche, schmatzende Geräusch gewesen, mit dem sich die Hintertür öffnete.