Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 8
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Sudbury-Gefängnis, Derbyshire
Früher hatte es in jedem Getreidefeld Mohnblumen gegeben – sie waren leuchtend rot gewesen wie frische Blutspritzer. Mansell Quinn war sich sicher, dass er sie im Sommer immer gesehen hatte. Nach Sonnenaufgang tauchten sie überall in kleinen Gruppen auf, lugten zwischen den gelblichen Halmen hervor, nickten mit ihren blutroten Köpfen im Sonnenlicht und warteten darauf, dass der Mähdrescher sie niedermähte. Für ein paar heiße Tage im Jahr war ein Feld unten im Tal mit roten Flüssen von Mohnblumen durchzogen, die sich langsam in der Brise hin und her wiegten.
An diesem Morgen fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sich unmittelbar auf der anderen Seite der Straße ein Getreidefeld befand, dessen bräunliche Stängel gerade begonnen hatten, Samen zu tragen. Das Feld war mit Stacheldraht umzäunt. Quinn hielt nach Mohnblumen im Getreide Ausschau, weil er sich nach ihrem roten Leuchten sehnte. Aber es waren keine Mohnblumen zu sehen.
Als Quinn mit einer Plastiktüte und seiner Entlassungsurkunde in der Hand auf das äußere Tor zuging, wurde ihm bewusst, dass selbst seine Entlassungsbekleidung zu weit und zu steif war, um bequem zu sein. Er hatte in den vergangenen vierzehn Jahren abgenommen, und sein Körper hatte sich verhärtet, als sei eine Hornhaut auf ihm gewachsen, die auch sein Herz überzogen hatte.
Hinter dem Pförtnerhaus drehte er sich um und warf einen letzten Blick zurück. Auf einem mit Blumen bewachsenen Wall stand ein weißes Schild mit der Aufschrift Betreuter Gewahrsam und der Philosophie der Institution: Der Rehabilitation und Wiedereingliederung von Häftlingen verpflichtet.
Halb neun war die Zeit für den allmorgendlichen Abtransport von Häftlingen zum Gericht. Genau in diesem Moment bog ein Gefangenentransporter, der mit seinen vergitterten Fenstern und verstärkten Türen aussah wie ein gepanzerter Mannschaftstransportwagen, durchs Tor ein und hielt vor der Bremsschwelle an. Als Quinn auf den Rasen trat, um ihn vorbeifahren zu lassen, warf ihm der Fahrer einen argwöhnischen Blick zu, obwohl der Transporter an diesem Morgen noch leer war und seine Gitterzelle nach zu viel Desinfektionsmittel roch.
»Ich bin in einer Stunde oder so zu Hause. Und ich kann’s kaum erwarten. Was ist mit dir?«
Der Mann, der neben Quinn in Gleichschritt fiel, war ungefähr Mitte zwanzig und damit mindestens zwanzig Jahre jünger als er selbst. Er hatte kurzes, gegeltes Haar und eine Tätowierung seitlich am Hals, und er sah frisch rasiert und gewaschen aus. Er hätte sich an einem Samstagabend in der Stadt unter jede beliebige Gruppe junger Männer mischen können – was er am heutigen Abend auch bestimmt noch tun würde.
»Bei mir wird es etwas länger dauern«, erwiderte Quinn.
»Hm?«
»Etwas länger, bis ich zu Hause bin.«
»Oh? Du klingst aber, als wärst du aus Derbyshire.«
»Genau das bin ich auch.«
»Aha.«
Doch Quinn war in Wales geboren worden. Dort hatten Mohnblumen seine Sommer gefüllt. Er vermutete, dass sie sich unter die Samen gemischt hatten, die die Bauern aussäten, oder verborgen im Boden schlummerten, bis sie vom Pflug geweckt wurden. Dann blühten sie, bevor der Weizen reif war, und gediehen heimlich zwischen Saat und Ernte. Für den jungen Mansell Quinn war der Anblick dieser Mohnblumen wie ein kurzes Sichtbarwerden des Bösen, das dort existierte, wo es nicht existieren sollte.
Nachdem sich sein Vater jedoch eine neue Stelle als Förster auf einem Landsitz in der Nähe von Hathersage gesucht hatte, war seine Familie nach Norden ins Hope Valley gezogen. Zwischen den Sandsteinhügeln und Schiefertälern des Dark Peak gab es keine Getreidefelder.
Der junge Mann lachte. »Soll das heißen, du lässt die alte Heimat gleich hinter dir? Das kann ich dir nicht verdenken, Mann. Ganz und gar nicht.«
Quinn hatte keine Ahnung, wer der Bursche war. Trotzdem standen sie sich in gewisser Weise ebenso nahe wie Brüder. Bestimmte Dinge schufen eine Verbindung – Bande, über die man in den wenigen Minuten zwischen dem Gefängnistor und der Außenwelt nicht zu sprechen brauchte.
»Hast du jemanden, der zu Hause auf dich wartet?«, fragte Quinn.
»Und ob. Ich hab ihr versprochen, dass wir heiraten, wenn ich rauskomme. Das ist auch gut so, den Kindern zuliebe. Wir haben vom Sozialamt ein Haus gekriegt.«
»Glück gehabt.«
»Ja. Ich geh da nicht mehr zurück, so viel ist sicher.«
Quinn hatte aufgehört zuzuhören. Seine Gedanken waren bei einem anderen Haus und einer anderen Familie.
»Manchmal«, sagte er, »muss man zurückgehen.«
»Man muss was? Was soll das heißen? Du weißt doch gar nichts über mich, Mann.«
»Nein«, entgegnete Quinn. »Nichts.«
Der Unmut des jungen Mannes legte sich wieder. Es war nur die Anspannung, die von der Furcht vor dem Ungewissen herrührte.
»Ich bin Rick. Und du?«
»Quinn.«
»Ich glaub, ich hab dich schon mal gesehen. Aber ich hab noch nie mit dir geredet.«
»Dann nutz die Gelegenheit.«
Die beiden gingen vom Tor über die Straße. Es war eine Sackgasse, die nur zum Gefängnis führte und beim Bau der Umgehungsstraße von Sudbury angelegt worden war. Vor ihnen lag der Eingang zu einer betonierten Unterführung.
»Und, wo willst du hin?«, erkundigte sich Rick.
»Burton on Trent. Irgendein Wohnheim, das mein Bewährungshelfer ausgesucht hat.«
Die Unterführung, ein düsterer Tunnel, der auf einen Fleck Licht zuführte, war feucht und stank. Ihre Stimmen hallten von den Wänden wider, während der unbefestigte Boden das Geräusch ihrer Schritte dämpfte.
»Morgen früh«, sagte Rick, »fahr ich als Allererstes ins Meadowhall-Einkaufszentrum und kauf mir einen Haufen neue Sachen. Das heißt, nachdem ich den Kater von heute Abend ausgeschlafen hab. Mich zu besaufen hat Vorrang.« Er lachte. »Ich wette, du machst das auch.«
»Was mache ich auch?«
»Dir ein paar neue Klamotten besorgen.«
Quinn blickte an sich hinunter auf seine Kleidung. Zu den ersten Dingen, die er erledigen sollte, gehörte, eines der Benefizgeschäfte aufzusuchen, in denen für ein paar Pfund gebrauchte Bekleidung verkauft wurde – Läden, die er während seiner bewachten Freigänge gesehen hatte: Oxfam, Cancer Research, Help the Aged. In einem solchen Geschäft konnte er sich Jeans und ein paar Hemden besorgen, vielleicht auch eine alte Jacke, die nach Zigarettenqualm roch, sowie ein Paar Stiefel. Wahrscheinlich würde es sich dabei um die Sachen eines Verstorbenen handeln, aber wen störte das schon? Darin würde er weniger auffallen. Er hatte sein Entlassungsgeld in der Tasche, brauchte aber vielleicht auch noch für andere Dinge Geld. Vorerst konnten Tote für seine Bekleidung sorgen. In gewisser Weise passte das ja auch.
»Ich hab sogar schon einen Job in Aussicht«, sagte Rick. »Was für ein Glücksfall, hm? Das hat mein Bewährungshelfer für mich eingefädelt. Der Typ ist echt in Ordnung. Ein bisschen Geld in der Tasche zu haben ist schon ein großer Vorteil. Deine eigenen vier Wände und deine Familie um dich herum. Ich werd mein Leben schon in den Griff bekommen, wart’s nur ab.«
»Schön für dich.«
»Ich bin erst fünfundzwanzig – ich hab meine ganze Zukunft noch vor mir. Außerdem darf man sein Leben nicht verplempern, wenn man Vater ist. Ich will, dass meine beiden Kinder eines Tages stolz auf mich sind. Sie sollen doch nicht denken, ihr Dad wäre ein Taugenichts, weil er den größten Teil seines Lebens im Knast verbracht hat, oder?«
»Nein.«
»Dann hast du also selber Kinder?«
Mansell Quinn zog eine Grimasse und biss die Zähne zusammen. Er schwieg. Aber der junge Mann hatte gar kein Interesse an einer Antwort.
»Ich wünsch mir, dass sie einen besseren Weg einschlagen, als ich es getan hab«, sagte Rick. »Ich will, dass sie sich reinhängen und es im Leben zu was bringen. Deshalb werd ich von jetzt an ein Vorbild für sie sein. Das hab ich Sharon versprochen. Mein Junge will Arzt werden, ich werd ihm dabei helfen.«
Die A50 war staubig, und der vorbeirollende Verkehr stank nach Benzin und heißem Metall. In der letzten Viertelstunde hatte Quinn mehr schlechte Luft eingeatmet als in den vergangenen vierzehn Jahren. Er wünschte sich, in dem Feld hätte es Mohnblumen gegeben. Das wäre ein gutes Omen gewesen – Blut im Feld passend zum Blut in seinen Gedanken. Doch ihre Abwesenheit beunruhigte ihn. Ihm wurde zum ersten Mal bewusst, dass sich das Leben in der Außenwelt in vielerlei Hinsicht geändert haben könnte, während er fort gewesen war.
Vermutlich behandelten die Landwirte ihre Saat heutzutage mit Chemikalien, damit die Mohnblumen starben und jeder Getreidehalm, den sie anpflanzten, vollkommen rein und goldfarben wurde, absolut rein und steril. Es gab kein Scharlachrot mehr inmitten des Gelbs, kein Blut mehr in den Getreidefeldern. Jetzt floss nur noch in seiner Erinnerung Blut.
Rick sah Quinn an und verließ für einen Augenblick seine eigene Phantasiewelt.
»Du warst eine ganze Weile drin, oder?«
»Dreizehn Jahre und vier Monate.«
»Dreizehn Jahre? Das ist hart.«
Quinn konnte sehen, wie er rechnete. Das lernte man im Gefängnis: Bewährungsfristen und automatische Entlassungstermine zu kalkulieren, all die Dinge, die das System hinter Abkürzungen verbarg, als wären sie nichts weiter als Buchstaben auf dem Papier eines Berichts, anstatt Tage in Freiheit für einen Menschen. Rick konnte es sich selbst ausrechnen. Dreizehn Jahre und vier Monate bedeuteten, dass er zu mindestens zwanzig Jahren verurteilt worden sein musste, auch wenn er keine Bewährung bekommen hatte.
»Ein Lebenslänglicher also?«
Sie waren aus der Unterführung wieder ins Licht aufgetaucht. Quinn drehte sich langsam um und versuchte, sich zu orientieren. Das stark befahrene Stück Fernverkehrsstraße über ihm war neu, und er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung die Unterführung verlief. Es war beinahe so, als existierte das Gefängnis in seinem eigenen kleinen, seltsamen Universum, das es vom Rest der Welt trennen sollte.
»Ja, ein Lebenslänglicher.«
Er wusste, dass Rick die nächste Frage stellen wollte, doch irgendetwas hielt ihn davon ab – vielleicht lenkte ihn der leichte Luftzug zwischen ihnen ab, der aus der Unterführung wehte und den Staub zu ihren Füßen aufwirbelte. Rick öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann trübte ein Ausdruck des Zweifels seinen Blick, und er stellte die Frage nicht.
Wen hast du umgebracht?, wollte er fragen, aber er fragte nicht.
Und das war auch gut so, denn Mansell Quinn hätte es ihm vielleicht nicht sagen können.
Auf der A50 musste es eine Ausfahrt für Busse geben, da sich ganz in der Nähe der Unterführung eine Haltestelle befand und auf der anderen Straßenseite eine weitere. Tatsächlich kam genau in diesem Augenblick auf ihrer Straßenseite ein Bus, der nach Burton upon Trent fuhr.
»Na bitte, wer sagt’s denn.«
Ricks Finger schlossen sich fester um seine Tragetasche. Er spuckte in den Rinnstein und sah zu, wie sein Speichel im Staub versickerte.
»Viel Glück, Kumpel«, sagte Quinn.
Sein Begleiter warf ihm einen verwunderten Blick zu, war jedoch von dem herannahenden Bus abgelenkt. Als dieser an der Haltestelle stehen blieb und die Türen sich öffneten, sprang er hinein.
Plötzlich trat Quinn einen Schritt von der Haltestelle zurück. Er starrte den Fahrer mit leerem Blick an, als dieser ihn erwartungsvoll ansah. Rick drehte sich um, beobachtete ihn, ohne zu verstehen, was vor sich ging, und wirkte beinahe ein wenig beleidigt. Dann schlossen sich die Türen, und der Fahrer fuhr von der Haltestelle weg.
Quinn sah dem Bus nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwand. Obwohl alle Fahrzeuge über ihm auf der Hauptstraße vorbeifuhren, herrschte ohrenbetäubender Verkehrslärm. Er warf einen kurzen Blick auf den Ausgang der betonierten Unterführung, auf die Stacheldrahtzäune und auf die tristen Getreidefelder. Dann bückte er sich, hob einen Stein auf, der von der Böschung heruntergefallen war, und schleuderte ihn auf das Wartehäuschen der Bushaltestelle. Eine Glasscheibe brach und zersplitterte, und die Scherben prasselten wie zerstoßenes Eis auf den Asphalt.
Einen Augenblick lang lächelte Quinn über das Krachen, das den Verkehrslärm übertönte. Dann setzte er sich in Bewegung. Hinter ihm schienen noch immer vier Worte inmitten des Geräuschs von zerberstendem Glas widerzuhallen: Wen hast du umgebracht?