Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 13
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Dienstag, 13. Juli
Ganz egal, wie viele Leichen Ben Cooper bereits gesehen hatte, die erste würde er niemals vergessen. Er war damals dreizehn Jahre alt gewesen, ein pubertierender Junge in zu weiten Jeans. Bis dahin war er vor den meisten Unannehmlichkeiten dieser Welt geschützt gewesen. Er war sich der schmutzigen menschlichen Realitäten nicht bewusst gewesen, die darauf warteten, ihn mit ihren spitzen Ellbogen anzurempeln und ihm ihren verbrauchten Atem ins Gesicht zu hauchen. Damals hatte er gedacht, er sei unsterblich. Und er hatte gedacht, dass alle Menschen in seiner Umgebung ebenfalls unsterblich seien. Doch die meisten Dinge, an die er geglaubt hatte, erwiesen sich als falsch.
Es war kurz vor Weihnachten gewesen, und die Bürgersteige in Edendale waren kalt und feucht gewesen. Ben und seine Mutter hatten in letzter Minute Geschenke und die riesigen Mengen von Essen eingekauft, die zu einer Weihnachtsfeier mit der ganzen Familie auf der Bridge End Farm gehörten. Der kleine Ben war müde und schlecht gelaunt gewesen und hatte geschmollt, weil er von einem Geschäft zum nächsten gezerrt wurde. Es war bereits am Spätnachmittag dunkel geworden, und an den Laternen hatten beleuchtete Weihnachtsmänner gehangen, während in allen Schaufenstern Plastikbäume gefunkelt hatten.
»Mum, wann gehen wir endlich nach Hause?«, hatte er immer wieder gefragt, ohne Hoffnung zu haben.
Und dann waren sie in die Bargate Street eingebogen und auf dem Bürgersteig zwischen dem Unicorn Pub und Marks and Spencers auf eine kleine Menschenansammlung gestoßen. Die Leute hatten miteinander und mit einem Polizisten diskutiert, während sie auf den Krankenwagen warteten.
Inmitten der Menschenmenge hatte ein Mann auf dem Boden gelegen, zugedeckt mit einem Tuch, das jemand aus dem Pub geholt hatte. Nur die in einem unnatürlichen Winkel verdrehten Sohlen seiner Stiefel waren zu sehen gewesen. Der feuchte Bürgersteig um den Mann hatte die Weihnachtsbeleuchtung reflektiert und ihre Farben zu einem Regenbogen gebrochen, als hätte er mitten in einer Ölpfütze gelegen.
Das war alles, was Ben wahrgenommen hatte, ehe seine Mutter ihn wegschob. Es waren kein Blut, keine Verletzungen, keine starrenden Augen und keine abstoßenden Körperflüssigkeiten zu sehen gewesen. Allein die Stiefel und ihr unwirklicher Winkel hatten ihm verraten, dass der Mann tot war.
Und jetzt, in Rebecca Lowes Haus, waren es wieder die kleinen Details, die die Geschichte eines gewaltsamen Todes erzählten, und nicht das Blut und die Flecken auf dem Küchenboden oder der unverwechselbare Geruch. Es war die Tatsache, dass ihr Kopf zu weit nach hinten geneigt war und in einem Winkel dalag, der ihr Probleme beim Atmen gemacht hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Es war die Stellung ihrer rechten Hand, die noch krampfartig gekrümmt war, als wollte sie sich am Fußboden festkrallen, wobei die Finger sich so fest in die Fliesen gegraben hatten, dass ihre Nägel zersplittert waren und der blasse Nagellack in glitzernden Schuppen herumlag. Und es war die einzelne blaue Sandale, die mit der Sohle nach oben ein paar Zentimeter neben dem Fuß der Toten lag. Ihre Zehen waren auf die Sandale gerichtet, als hätte sie in ihren letzten Momenten vergeblich versucht, sie wieder anzuziehen.
Ein Teil des Teams hatte sich über die integrierte Garage Zugang zum Haus verschafft und war über einen Durchgang ins Wohnzimmer und Esszimmer und weiter zur Treppe gelangt. Cooper hatte zusammen mit einigen Kollegen zehn Minuten in der Garage gewartet, in der es nicht genug Sauerstoff für alle gab, bis die Tür geöffnet wurde. Er hätte sein letztes Hemd für ein wenig frische Luft gegeben.
Im Haus blieb Cooper im Flur stehen und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Der Fußboden war von Wand zu Wand und von Tür zu Tür mit Teppich ausgelegt, der ohne Unterbrechung in den Flur hinausführte. Die Fenster waren von dicken Vorhängen verhüllt – genau genommen nicht nur die Fenster, sondern die ganze Wand von der Decke bis zum Boden. Die riesige Fläche aus braunem Samt sollte das Zimmer von der Außenwelt abschotten, als ob die Doppelverglasung mit dieser Aufgabe allein nicht fertig geworden wäre.
Er ging davon aus, dass das Haus vollständig abgedichtet worden war: Der offene Kamin hatte vermutlich keinen Schornstein, die Türen waren wahrscheinlich isoliert, und das Dach war bestimmt von innen mit Glaswolle verkleidet. Parson’s Croft glich einem warmen Kokon.
Cooper fand es unnatürlich, sich so vor der Außenwelt zu verstecken. Wer sich selbst von der Sonne und der frischen Luft abschottete, musste sich vorkommen wie im Gefängnis. Und als der Mörder Rebecca Lowe aufgesucht hatte, hatte ihr Haus ihr auch keinen Schutz bieten können.
Eine Stunde zuvor war Cooper am Treffpunkt an der äußeren Absperrung vor dem Tor zu Parson’s Croft auf Diane Fry gestoßen.
»Ah, Ben«, hatte sie gesagt. »Wie schön, dich zu sehen. Tja, streng genommen wird so was wie das hier als Tatort bezeichnet. Und an einer wichtigen Untersuchung wie dem Mordfall, in dem wir derzeit ermitteln, ist in der Regel mindestens eine Person beteiligt.«
»Ich bin doch hier, oder etwa nicht?«
»Ich hab heute Vormittag versucht, dich anzurufen. Dein Handy war ausgeschaltet.«
»Heute Vormittag? Da war ich in einer Höhle«, protestierte Cooper.
»Warum mich das wohl nicht überrascht?«
Cooper sah zum Haus. Im Erdgeschoss waren alle Fenster erleuchtet, und die Eingangstür stand offen. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten einen sicheren Pfad markiert. Er sah, wie sie in ihren weißen Schutzanzügen mit Kapuze im Haus hin und her liefen.
»Die Leiche liegt in der Küche, im hinteren Teil des Hauses«, sagte Fry.
»Ist ihre Identität bekannt?«
Fry sah in ihrem Notizbuch nach. »Der Name des Opfers ist Rebecca Lowe. Neunundvierzig Jahre alt. Sie hat allein gelebt. Offenbar hat sich der Täter durch die Hintertür, die in die Waschküche neben der Küche führt, Zugang zum Haus verschafft.«
»Ein Eindringling? War es ein missglückter Einbruch?«
»Das lässt sich im Moment noch nicht sagen. Es gibt keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Die Hintertür war nicht abgeschlossen, als die Schwester des Opfers beim Haus ankam.«
»Wer leitet die Ermittlungen?«
»Mr. Kessen natürlich.«
Cooper sah Detective Chief Inspector Oliver Kessen hinten im Kleinbus der Spurensicherung sitzen, wo er sich Videoaufnahmen ansah. Einige Ermittlungsleiter hätten in diesem Stadium gründlich Ordnung schaffen wollen. Ein oder zwei von ihnen hätten sogar das gesamte Zimmer, in dem das Opfer gestorben war, einpacken und ins Labor bringen lassen. Sie hatten panische Angst, dass am Tatort irgendetwas übersehen werden könnte. Aber Detective Chief Inspector Kessen war dafür bekannt, gezielter vorzugehen. Vermutlich hoffte er, bereits früh eine Theorie entwickeln und so die Anzahl der forensischen Untersuchungen einschränken zu können, indem er sich das Video vom Tatort ansah.
Sie traten zur Seite, um eine Gruppe von Polizisten vorbeizulassen, unter denen auch ein Kollege von der Spurensicherung im Schutzanzug war, der eine Aluminiumleiter trug.
»Wozu ist die Leiter?«, erkundigte sich Cooper.
»Um an die Küchendecke zu gelangen.«
»Wie bitte?«
»Die Decke«, sagte Fry. »Blutspritzer an der Decke. Wach auf, Ben.«
»Ach so.«
Ein flatterndes Band an der offenen Eingangstür markierte die innere Absperrung, die den eigentlichen Tatort sicherte. Da die größte Angst Verunreinigungen galt, wurden vorerst alle auf Abstand gehalten, einschließlich überzähliger Detectives.
»Blutspritzer«, sagte Cooper. »Mit welcher Art von Tatwaffe haben wir es zu tun?«
»Wahrscheinlich mit einem Küchenmesser.«
»Die sind einfach zu praktisch.«
»Offenbar hatte Mrs. Lowe ein ganzes Sortiment davon«, sagte Fry. »Aber jetzt liegen sie überall auf ihrem Küchenboden verstreut.«
Cooper beobachtete, wie der Chef der Spurensicherung in den Kleinbus stieg, um mit Mr. Kessen zu sprechen. Nach Ansicht der Forensiker war Verunreinigung etwas, das ausschließlich nach der Sicherung des Tatorts stattfand. Davor durfte nur das »normale Prozedere« stattfinden: die verzweifelten Versuche, das Leben eines verletzten Menschen zu retten, sowie die fieberhafte Suche nach der Leiche eines weiteren Opfers oder nach einem Gewalttäter, der sich möglicherweise noch vor Ort aufhielt. Das normale Prozedere.
Cooper drehte sich wieder zu Fry um.
»Wann wurden wir alarmiert?«
»Um elf Uhr achtunddreißig.«
»Da war ich längst wieder aus der Peak Cavern raus. Du hättest mich erreichen müssen.«
»Nein, ich hab früher versucht, dich anzurufen.«
»Früher? Aber …«
»Nicht jetzt, Ben.«
Und schon war sie wieder weg und ging am Rand des Gartens auf das geschäftige Treiben um den Kleinbus der Spurensicherung zu. Cooper sah ihr verwundert nach. Aber schließlich gelang es Diane Fry immer wieder, ihn zu verwundern.
Detective Constable Gavin Murfin tauchte neben Cooper auf. Murfins Kleidung roch leicht nach warmem Teig, und Cooper stellte sich vor, dass die Taschen seiner Jacke voller Obstkuchen waren. Vielleicht hatte der Geruch sich aber auch inzwischen einfach im Stoff festgesetzt. Kein Wunder, dass Murfin ständig Hunger hatte. Kein Geruch ließ einem so sehr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Murfin stieß Cooper an und nickte mit dem Kopf in Frys Richtung, als sie bei dem Kleinbus ankam und sofort in eine Unterredung mit einigen der leitenden Kriminalbeamten verwickelt war.
»Hey, Ben, stimmt es eigentlich, was man sich erzählt – dass ihre Schwester bei ihr eingezogen ist?«
»Wer erzählt das, Gavin?«
Murfin zuckte mit den Schultern. »Alle. Du weißt doch, wie das ist.«
»Ich versteh nicht, woher das alle wissen wollen. Diane spricht grundsätzlich nicht über ihr Privatleben.«
»Außer mit dir vielleicht«, erwiderte Murfin und zog eine Augenbraue hoch. »Das erzählt man sich zumindest.«
Cooper trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, sagte aber nichts.
»Ich hab sogar gehört, dass ihre Schwester nicht zufällig aufgetaucht ist«, sagte Murfin. »Es heißt, du hättest da eine Hand im Spiel gehabt und hinter Madams Rücken ein Treffen arrangiert. Das stimmt doch nicht etwa, oder?«
»Doch, ich fürchte schon. Das ist allerdings eine ziemlich lange Geschichte. Und eine ziemlich, na ja … komplizierte.«
»Daran hab ich keinen Zweifel.«
»Tut mir leid, aber ich kann dir nicht mehr sagen, Gavin. Das ist eine persönliche Angelegenheit. Für Diane, meine ich.«
»Nein, nein. Erspar mir die schmutzigen Details. Ich versteh allerdings nicht, Ben, warum du dich überhaupt eingemischt hast. Also wenn du mich fragst, ist das ungefähr das Gleiche, als würde man einen schlecht gelaunten Grizzlybären mit einem spitzen Stock piksen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Cooper. »Damals schien es das Richtige zu sein.«
»Berühmte letzte Worte, mein Freund. Du wirst sie zum Besten geben, bevor man deine sterblichen Überreste ins Leichenschauhaus befördert.«
»Jetzt ist es sowieso zu spät.«
»Hm? Wenn ich du wäre, würde ich mich so schnell wie möglich versetzen lassen, bevor Madam sich entscheidet, wie sie sich rächen kann. Und zwar am besten weit weg. Ich glaub, auf den Shetlandinseln kann es ganz nett sein. Zu dieser Jahreszeit bekommt man dort sogar ein bisschen Tageslicht ab.«
Cooper seufzte. Warum hatte er sich eingemischt? Das war genau die Frage, die er sich seit Wochen stellte. Aber würde er irgendetwas anders machen, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte? Vermutlich hätte er Angie Fry fortschicken sollen, als sie an jenem Abend vor seiner Tür aufgetaucht war. Aber Diane hatte ihre Schwester finden wollen, oder etwa nicht? Wie hätte er Angie fortschicken können, da er das wusste? Irgendwo entlang der Route, der er gefolgt war, mochte es einen Augenblick gegeben haben, in dem er etwas Besseres, Vernünftigeres hätte tun können. Allerdings gab es keine Garantie dafür, dass er diese Gelegenheit ergriffen hätte, nur weil es vernünftig gewesen wäre.
»Und, was sagst du zu dieser Sache?«, erkundigte sich Murfin und bedachte Parson’s Croft mit einem noch energischeren Kopfnicken. »Sind da Überstunden für uns drin? Meine Kreditkartenrechnung ist diesen Monat nämlich wieder mal am Limit. Ich werd noch zehn Jahre brauchen, bis ich meinen Türkeiurlaub abbezahlt habe.«
»Keine Ahnung«, sagte Cooper. »Wir müssen abwarten, was sich aus den Videoaufnahmen ergibt.«
»Madam wird zweifellos ihre eigenen Vorstellungen haben.«
»Sie hat oft Recht«, erwiderte Cooper.
Murfin sah ihn argwöhnisch an. »Ben, du magst sie doch nicht wirklich, oder?«
»Na ja … nein.«
»Bist du dir da sicher?«
»Nicht ganz.«
»Dachte ich’s mir doch! Wie, in aller Welt, kann man die mögen?«
»Ich hab nicht behauptet, dass ich das tue, Gavin.«
»Ich merk es, wenn jemand einer Frage ausweicht. Ich hab schon genug Politikjournalisten in Aktion gesehen. Also, beantworte mir die Frage, Minister. Was magst du an ihr?«
»Ich bin nur der Meinung, dass viele Leute hier Diane Fry ein wenig falsch verstehen.«
»Oh, mein Gott.« Murfin richtete den Blick vor Entsetzen zum Himmel. »Du willst sie doch hoffentlich nicht zu einem deiner persönlichen Anliegen machen? Hast du vielleicht vor, eine ›Lasst uns alle Detective Sergeant Fry lieben‹-Kampagne zu starten?«
»Hör doch auf, Gavin.«
»Tja, für mich ist sie eine Giftschlange. Und ich kenn mich mit Giftschlangen aus. Du hast meine Frau doch kennen gelernt, oder?«
Diane Fry hatte Detective Inspector Hitchens am Tatort eintreffen sehen. Er hatte seinen Wagen draußen auf der Straße parken müssen, weil die Einfahrt bereits mit anderen Fahrzeugen zugestellt war. Hitchens wirkte beunruhigt, als er auf den Kleinbus der Spurensicherung zuging. Als er Fry sah, winkte er sie zu sich. Dann kletterte Mr. Kessen ungelenk aus dem Kleinbus.
»Was gibt’s, Paul?«
»Ich glaube, wir haben einen Verdächtigen, Sir«, sagte Hitchens.
»Schon? Wie das?«
Fry beobachtete, wie sich der Detective Inspector mit der Hand übers Gesicht fuhr. Er sah an diesem Abend müde aus, obwohl die Ermittlungen noch gar nicht richtig in Gang gekommen waren.
»Wie Sie wissen, wurde Mansell Quinn entlassen«, sagte Hitchens. »Er bekam lebenslänglich für einen Mord in Castleton im Jahr 1990, hat aber seinen automatischen Entlassungstermin erreicht und heute Morgen das Sudbury-Gefängnis verlassen.«
»Ja. Und?«, erwiderte Kessen.
»Er ist nicht in seiner Unterkunft aufgetaucht, und er hat sich heute Vormittag nicht bei seinem Bewährungshelfer vor Ort gemeldet.«
»Dann hat er also gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen«, stellte Kessen fest. »Es ist dumm, das zu tun, aber was sagt das schon? Wegen eines häuslichen Tötungsdelikts, das vierzehn Jahre zurückliegt, kann man ihm nicht alles anhängen, was im Umkreis von fünfzig Meilen passiert.«
»Nein. Das ist nicht der Punkt.«
»Das müssen Sie mir erklären.«
Hitchens holte tief Luft und warf einen Blick auf das Haus am anderen Ende des Gartens. Der Helikopter-Suchtrupp hatte gerade damit begonnen, die Gegend in nördlicher Richtung zu durchkämmen, und kundschaftete mit seinem dreißig Millionen Candela starken Suchscheinwerfer das offene Gelände hinter Aston aus. Das würde wenig bewirken, außer die Anwohner zu belästigen.
»Das Opfer, Rebecca Lowe«, sagte Hitchens, »ist die ehemalige Rebecca Quinn. Sie war 1990, zum Zeitpunkt des Proctor-Mordes, mit Mansell Quinn verheiratet.«