Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 9
Оглавление3
Beim Bau von Rebecca Lowes neuem Haus in Ashton war darauf geachtet worden, es annähernd luftdicht zu gestalten. Da die Isolierung für einen Unterschied zwischen dem Luftdruck im Inneren und der Außenwelt sorgte, löste sich die Hintertür mit einem weichen, schmatzenden Geräusch von ihrer zugfreien Dichtung, wenn man sie öffnete. Die Luft im Freien war schwül, und es wimmelte von Gewitterfliegen. Die winzigen schwarzen Insekten bedeckten alles, wenn Rebecca nicht hinsah, und allein der Gedanke an sie verursachte ihr ein Kribbeln auf der Haut, sodass sie ständig das Bedürfnis verspürte, sich das Gesicht zu waschen.
Das Haus verfügte über eine Klimaanlage, die zu den Dingen gehörte, auf die Rebecca nach den Unannehmlichkeiten des vergangenen Sommers mit seinen Rekordtemperaturen bestanden hatte. Sie konnte die hohe Luftfeuchtigkeit einfach nicht ertragen, weil sie ihr Kopfschmerzen, pochende Schläfen und schweißnasse Hände bereitete. Sie hatte wochenlang schlecht geschlafen und jeden Morgen die Bettwäsche gewechselt. Das Poltern der Waschmaschine war zu einer andauernden Hintergrundbegleitung der langen Sommertage geworden.
In ihrem neuen Haus war es angenehm kühl. Parson’s Croft war innen mit Ytongsteinen errichtet worden, außen jedoch mit Sandsteinen aus der Region, damit es mit den älteren Gebäuden und der Landschaft verschmolz und den staatlichen Naturpark-Bauvorschriften entsprach. Das Grundstück war von einem Gürtel aus alten Ahorn- und Kastanienbäumen umgeben, die das Haus abschirmten und Schatten spendeten, wenn die Sonne im Westen stand. Doch die Klimaanlage funktionierte nur dann richtig, wenn sie alle Türen und Fenster geschlossen hielt. Manchmal roch die Luft im Haus verbraucht, als würde sie immer und immer wieder dieselbe Luft atmen. Das sorgte für eine ganz eigene Art von Schwüle, die sich fast ebenso schlecht anfühlte wie die Feuchtigkeit im Freien.
Ihre Hündin Milly spürte sie ebenfalls. Sie lag den ganzen Tag in ihrem Korb und döste unruhig, bis es Zeit für ihren Abendspaziergang war. Und selbst wenn sie nach draußen durfte, war sie noch schlecht gelaunt. Sie kläffte Fremde an und ängstigte sich übermäßig vor Stöcken oder Steinen, die am Rand der Wiese lagen.
Heute hätte sich Rebecca wahrscheinlich sogar über Regen gefreut, der für ein wenig Erfrischung sorgte. Nachdem sie mit dem Abwasch fertig war und sich die Hände abgetrocknet hatte, ging sie ins Wohnzimmer und blickte durch das doppelt verglaste Panoramafenster nach draußen. Sie sah hinunter ins Hope Valley und ließ den Blick an den Hängen des Bradwell Moor und des Abney Moor hinaufwandern, wobei er flüchtig den hohen Schornstein des Zementwerks in Pindale streifte. Am Himmel über den Mooren türmten sich graue Wolken auf, deren dunkle Flecken Blutergüssen glichen. Mit ein wenig Glück würde später ein Regenschauer niedergehen.
Das Klingeln des Telefons zerriss die bewegungslose Luft. Rebecca legte ihr Geschirrtuch aufs Fensterbrett, bevor sie abnahm, und erkannte sofort die vertraute Stimme.
»Mum, weißt du, was heute für ein Tag ist?«
»Montag«, entgegnete Rebecca. »Siehst du, ganz so verkalkt bin ich noch nicht. Stell mich mit was anderem auf die Probe.«
Sie hörte ihre Tochter am anderen Ende der Leitung seufzen und stellte sich vor, dass Andrea irgendwo in einem Café saß oder mit ihrem Mobiltelefon am Ohr durch eine Londoner Straße ging. Das unabhängige Leben in der Großstadt und ihr beruflicher Erfolg als Einkäuferin einer großen Einzelhandelskette hatten eine selbstbewusste junge Frau aus ihr gemacht.
»Heute ist der Tag, an dem er rauskommt, Mum«, sagte Andrea.
»Ja, das hab ich erfahren.«
»Bist du denn nicht beunruhigt?«
»Nein.«
»Nein? Aber, Mum, was ist, wenn er zu dir kommt?«
Rebecca blickte noch immer zum Wohnzimmerfenster hinaus. Sie sah nichts außer dem blühenden Kirschbaum und den Sommerfliedern im unteren Teil ihres Gartens sowie den zwei alten Linden. Rot-schwarze Schmetterlinge flatterten um den Flieder, der grell im Sonnenlicht leuchtete. Ein Fliegenschnäpper stach von seinem Hochsitz auf der Telefonleitung herab, schnappte sich im Flug einen Schnabel voll Nahrung und landete anschließend wieder auf der Leitung, alles in einer eleganten Bewegung.
»Ich glaube nicht, dass er hierherkommen wird«, sagte sie.
»Ein Namenswechsel wird ihn nicht an der Nase herumführen.«
»Natürlich nicht, Andrea.«
»Also, was wirst du tun, Mum? Welche Vorsichtsmaßnahmen ergreifst du?«
»Tja, ich hab Milly seit Tagen nicht mehr gefüttert«, erwiderte Rebecca leichthin.
»Mum, eine altersschwache Shih-Tzu-Hündin ist kein Schutz vor einem Eindringling, und wenn sie noch so ausgehungert ist.«
»Ich hab doch nur Spaß gemacht, Liebes.«
Rebecca ging ein Stück nach rechts und schob den Vorhang beiseite. Hinter den Linden konnte sie einen Teil des Feldes sehen, das an den Garten von Parson’s Croft angrenzte. Das Feld neigte sich zu einer gemauerten Scheune hin, wo der Farmer Heu als Winterfutter für seine Schafe lagerte.
»Damit ist nicht zu spaßen, Mum. Du denkst doch dran, die Alarmanlage einzuschalten, ja?«
»Oh, ja«, sagte Rebecca.
»Mum, wenn du keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifst, muss ich zu dir kommen und dafür sorgen.«
»Nein, das möchte ich nicht.« Doch dann hörte Rebecca, wie ihre Tochter Luft holte, und ihr wurde bewusst, dass sie vielleicht grob und undankbar geklungen hatte. »Das soll nicht heißen, dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen. Das tue ich immer, Liebes, ehrlich. Aber ich komme schon zurecht. Wirklich.«
»Was ist mit Simon? Er könnte kommen und eine Weile bei dir bleiben. Das weißt du doch, oder?«
»Ja, das hat er mir angeboten, aber ich hab abgelehnt. Er ist nicht weit weg, und ich kann ihn jederzeit anrufen. Aber ich will nicht, dass ihr beide glaubt, alles liegen und stehen lassen zu müssen. Ihr seid doch beide viel zu beschäftigt.«
Sie hörte ihre Tochter seufzen. »Aber Mum …«
»Hör mal, ich bin sicher, er wird nicht hierherkommen.«
»Mum, vergiss nicht, was passiert ist. Du erinnerst dich doch noch, was passiert ist?«
»Natürlich, Liebes. Ich war schließlich damals davon betroffen. Du nicht.«
»Nicht betroffen? Ich war zwölf Jahre alt. Du hast mir vielleicht nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich wusste genau, was los war.«
»Nicht genau«, sagte Rebecca. »Ich glaub nicht, dass du genau wissen konntest, was los war, oder?«
»Gut, okay. Aber sag mir bitte nicht, dass ich nicht betroffen war, Mum.«
Rebecca beugte sich nach links und berührte mit der Stirn die Fensterscheibe. So konnte sie das äußerste Ende vom Dachgiebel des Nachbarhauses sehen. Es war ebenfalls ein neues Haus, allerdings wesentlich größer als ihres, und verfügte über einen Fischteich, gepflasterte Terrassen und einen riesigen, völlig ebenen Rasen mit Sprinklern, die an heißen Tagen achtzehn Stunden lang liefen. Sie sprach nur selten mit ihren Nachbarn, die jedoch gelegentlich lächelten und winkten, wenn Rebecca mit Milly auf der Wiese spazieren ging und sie in ihrem Jaguar vorbeifuhren.
»Tut mir leid, Andrea«, sagte sie. »Du hast Recht. Es muss wirklich traumatisch für dich gewesen sein.«
Ihre Tochter nahm ihr Telefon für ein paar Sekunden vom Ohr. Rebecca hörte Unterhaltungen im Hintergrund und fragte sich, ob Andrea mit den Lippen eine verärgerte Bemerkung über die unmögliche Verschrobenheit ihrer Mutter zu Hause in Derbyshire für jemanden formte, der neben ihr saß, wo auch immer sie war.
»Tja, also«, sagte Andrea, als sie das Telefongespräch fortsetzte, »worüber, in aller Welt, solltest du jetzt mit ihm sprechen müssen, Mum?«
»Es gibt da einige Dinge«, erwiderte Rebecca, »von denen man behaupten könnte, dass sie noch immer nicht geklärt sind.«
»Oh, Gott, Mum. Du treibst mich noch zur Verzweiflung.«
Rebecca lächelte. Ihre Tochter wusste tatsächlich nicht alles.
»Aber wie auch immer«, sagte Rebecca, »er wird sowieso nicht hierherkommen.«
Mit einiger Mühe lächelte und nickte Raymond Proctor und zwang sich, trotz des unguten Gefühls im Bauch freundlich zu sein. Schließlich waren diese Leute seine Gäste. Und davon gab es heutzutage zu wenige auf Wingate Lees. Bei diesen Gästen handelte es sich um eine Familie aus Hertfordshire – Mutter, Vater und zwei Kinder. Ihr Auto stand in der Nähe der Landstraße vor einem der Wohncontainer, bereit zur Abfahrt.
»Und, wo soll’s heute hingehen? Was Schönes vor? Das Wetter sollte mitspielen, nehme ich an.«
Die Frau hielt einen Moment inne und bugsierte ihre Kinder zum Auto. »Die Kinder möchten eine der Höhlen sehen«, sagte sie. »Wir haben uns gedacht, wir besichtigen die, die Sie uns gestern empfohlen haben. Die Peak Cavern.«
»Ah, den Teufelsarsch«, sagte Proctor grinsend.
»Wie bitte?«
»›Devil’s Arse‹, so wird sie heutzutage genannt. Man denkt vermutlich, das steigert ihren Marktwert.« Dann sah Proctor, dass sie nicht lächelte. »Entschuldigung.«
»Wir halten es nicht für angebracht, wenn die Kinder solche Ausdrücke hören.«
Proctor zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, Sie werden es auch auf den Schildern zu lesen bekommen.«
»Dann werden wir vielleicht doch woanders hinfahren. Es gibt ja noch die Speedwell-Höhle.«
»Ja, die ist auch interessant. Aber die Peak Cavern ist die beste. Lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen gefallen hat, wenn Sie zurück sind. Richten Sie dem Führer doch bitte Grüße von mir aus, wenn Sie dort sind. Und vergessen Sie nicht, ihn zu fragen …«
»Ja, vielen Dank.« Die Frau drehte sich zum Gehen um.
»War mir ein Vergnügen«, sagte Proctor, der noch immer lächelte. »Unter der Erde spielt das Wetter schließlich keine Rolle, nicht wahr? Ich hab gesagt, es spielt keine Rolle …«
Doch die Frau gab ihm keine Antwort. Sie zerrte an den Sicherheitsgurten der Kinder herum und schnauzte ihren Mann an, als sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
»Es sei denn, es regnet richtig, richtig stark«, sagte Proctor durch zusammengebissene Zähne, nachdem sie den Motor angelassen hatten. »Dann werden die Höhlen vielleicht geflutet, und ihr werdet alle ersaufen.«
Als er mit einem Fußtritt einen Goldlack köpfte, der in einem Blumenbeet neben der Telefonzelle wuchs, ließ ihn ein stechender Schmerz im Bein zusammenzucken. Da ihm seine Arthritis an diesem Morgen zu schaffen machte, würde es später wahrscheinlich tatsächlich regnen. Er ging langsam am Laden und am Fernsehraum vorbei und ärgerte sich wie jedes Mal über deren Blockhütten-Imitat-Fassaden. Die Außenverkleidung war Connies Idee gewesen – sie sagte, dass sie zum Stil der Bungalows passen und dem Campingplatz ein Thema verleihen würde. Doch Proctor fand, dass er dadurch aussah wie eine Wild-West-Stadt. Einfach viel zu geschmacklos für die Sorte von Gästen, die er nach Wingate Lees locken wollte.
Die Konkurrenz der anderen Campingplätze im Hope Valley war groß, und Wingate Lees lag für den Durchgangsverkehr ein Stück weit weg vom Schuss. Die Leute mussten von der A625 abfahren, nach einer halben Meile die Killhill Bridge überqueren und dann unter den Gleisen durchfahren, um seine kleine Anlage zu finden, die in die Flanke des Win Hill eingebettet war. Die nächstgelegene Ortschaft war Aston, doch die einzige Möglichkeit, um vom Campingplatz dorthin zu gelangen, war, zu Fuß zu gehen – und zu tun gab es dort ohnehin nichts.
Der Ruf von Wingate Lees war wichtig, falls der Campingplatz überleben sollte. Da Proctor nicht unendlich viel Geld für Werbung übrig hatte, verließ er sich auf Mund-zu-Mund-Propaganda, um das Geschäft in Schwung zu halten. Seine Gäste mussten zufrieden sein. Allerdings war es bei manchen von ihnen weiß Gott schwierig, höflich zu sein, da sie eigentlich einen Tritt in den Hintern verdient hätten. Die meiste Zeit war ihm fast alles egal.
Proctor nahm an, dass er vielleicht anders über seinen Betrieb denken würde, wenn Alan da wäre, um ihn mit ihm zusammen zu führen. Jemanden zu haben, an den er ihn hätte weitergeben können – darum ging es. Doch er hatte nur Connie und ihre Kinder, und das war überhaupt nicht zu vergleichen. Nichts ließ sich mit dem eigenen Sohn vergleichen.
Er sah nach dem Mädchen, das im Laden aushalf, und kontrollierte die Münzwaschmaschinen. Dann starrte er über den Rasen auf Henry, den Hausmeister, der den Kies um die befestigten Stellplätze zusammenrechte. Da er an keinem etwas auszusetzen hatte, ging er weiter, vorbei an den Wohncontainern zu den Wohnwagen-Stellplätzen und weiter zum Teich, den er in seinen Werbe-Flyern als »Badesee« bezeichnete. Auf der anderen Seite des Teichs befanden sich eine Ansammlung von niedrigen Bäumen und eine Wiese, auf der die Gäste ihre Hunde ausführen konnten. Praktische Nutzflächen für Haustierbesitzer.
Hier standen vier alte Wohnwagen, ein gutes Stück vom übrigen Campingplatz entfernt und im Schatten der Böschung der Eisenbahngleise, die er nur dann an Gäste vermietete, wenn alles andere belegt war – was heutzutage nur selten vorkam –, oder wenn eine Horde Studenten auftauchte, deren Anblick ihm nicht gefiel. Wenn sie einen alten Wohnwagen ramponierten, war es viel billiger, für Ersatz zu sorgen, als bei einem der größeren Wohncontainer, die in gutem Zustand sein mussten, damit er seine Stammgäste nicht verlor.
Wenn Proctor Abstand von seiner Familie haben wollte, ging er dorthin. Von hier aus konnte er das Haus sehen und wurde im Voraus gewarnt, wenn Connie herumschlich.
Wegen mangelnder Nachfrage hatte er die alten Wohnwagen nicht ordentlich gewartet, und einige Fugen in ihrer Außenhaut waren undicht geworden. Dem jungen Mann, der regelmäßig vorbeikam, um die Wohnwagen zu waschen, musste das aufgefallen sein, da er diese beiden nicht sauber gemacht hatte. Auf ihnen wuchs bereits Moos, das grüne Flecken auf der Lackierung hinterließ. Die starken Regenfälle der vergangenen Tage hatten Streifen im Schmutz hinterlassen, was ihren heruntergekommenen Zustand noch offensichtlicher machte.
Proctor atmete schwer, als er in diesem Teil des Campingplatzes ankam. Seit seiner Hochzeit mit Connie war er übergewichtig geworden. Sie setzte ihm jeden Tag ungesundes Essen vor und sagte ihm dann, dass er mehr Sport machen solle.
Auf dem Weg hierher war er völlig ruhig gewesen, doch als er jetzt die Hand nach dem Türgriff des ersten Wohnwagens ausstreckte, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Er rüttelte hastig daran und zuckte dann zurück, als hätte er sich die Finger daran verbrennen können. Er legte die Hände aufs Fenster, um Lichtspiegelungen abzuschirmen, und spähte durch die orangefarbenen Vorhänge hinein. Anschließend ging er zum nächsten Wohnwagen und tat dasselbe.
»Was machst du denn da, Ray?«
Proctor zuckte schuldbewusst zusammen. Seine Frau stand auf der anderen Seite des Teichs. Sie trug ein weites weißes Sweatshirt und eine gelbe, dreiviertellange Sporthose, die ihre Oberschenkelmuskeln betonte. Ihre Füße steckten in lächerlichen Turnschuhen mit riesiger Zunge und Leuchten in der Sohle. Deshalb hatte er sie nicht kommen hören.
»Ich kontrolliere nur die alten Wohnwagen«, rief er ihr zu.
»Warum?«
»Falls wir sie brauchen.«
»Sieh dich doch mal um, Ray – der Platz ist halb leer.«
»Man kann nie wissen.«
Connie starrte ihn mit unverhohlenem Unglauben an. »Aha.«
»Ich vergewissere mich bloß, dass hier unten alles in Ordnung ist, das ist alles. Wir dürfen sie nicht zu sehr verwahrlosen lassen.«
Sie warf einen Blick auf den Schimmel und die Schmutzstreifen auf dem nächsten Wohnwagen. »Verwahrlosen? Du hättest sie bereits vor Jahren ausrangieren sollen. Wenn du schon was Sinnvolles machen möchtest, in Bungalow Nummer sechs ist noch ein Leck, das repariert werden muss.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich kümmere mich gleich darum.«
Connie blieb jedoch stehen und beobachtete ihn, bis er seufzte, sich in Bewegung setzte und zwischen den Bäumen hindurch zurückging. Sie hätte die Hände in die Hüften gestemmt wie eine Lehrerin vom alten Schlag – wenn sie Hüften gehabt hätte.
Eine lange Reihe von Blue-Circle-Zementwagons fuhr vom Hope-Zementwerk in südlicher Richtung über die Brücke. Als sie über den Steinbogen rollten, polterten sie wie ein herannahendes Gewitter. Der Lärm dauerte so lange an, dass Raymond sich nur schwer beherrschen konnte, nicht in Laufschritt zu verfallen.
Unten im Zementwerk hatte Will Thorpe die Abfahrt der Wagons beobachtet. Jetzt kroch vor der Nachmittagssonne die schwarze Silhouette eines Schaufelradbaggers über den Horizont, der sich den Weg am Rand des Steinbruchs entlangbahnte. Unter Thorpes Füßen knackten abgestorbene Farnzweige und ließen Wolken von Zementstaub aufsteigen. Am Boden lagen noch immer verfaulende Blätter vom letzten Herbst, die jedoch inzwischen weiß waren, als wären sie von einer Frostschicht überzogen.
Thorpe leckte sich über die Lippen. Die Sonne und der Staub hatten sie ausgetrocknet und spröde gemacht. Er wusste, dass er sich vom Hope-Zementwerk fernhalten sollte. Der Schleifstaub, der in der Luft hing, bereitete ihm schon genug Schmerzen in der Lunge. Hier glich die nächtliche Welt einem Fenster in eine andere Wirklichkeit. Das Zementwerk war erleuchtet wie eine Stadt in einem Science-Fiction-Film, voller glitzernder Türme und greller Lichter, mit treibenden Dampfwolken und rätselhaftem Gepolter und dem Kreischen verborgener Maschinerie.
Wenn Thorpe die Hand flach auf den Boden legte, spürte er die Erschütterungen, die den Lärm begleiteten. Sie erinnerten ihn an die Fahrt einer Kolonne von Panzern über eine Wüstenstraße, deren Ketten den Boden zu Staub zermalmten und deren Geschützrohre geschwollen und schwer waren wie reife Früchte. Die Erinnerung war so klar, dass er beinahe den Sand im Mund schmecken und die Sonne im Nacken unterhalb seines Baretts spüren konnte.
Thorpe wäre gerne in der Lage gewesen, eine andere Wirklichkeit zu betreten. Wenn das überhaupt irgendwann einmal möglich war, dann jetzt. Er hatte das Datum überprüft, als er tagsüber in Castleton gewesen war, und wusste, dass heute der zwölfte Juli war. Irgendwie hatte er sich eingeredet, dass dieser Tag niemals kommen würde, doch jetzt war er da.
Will Thorpe hatte bereits genug Tod gesehen, um davon überzeugt zu sein, ihn in der Luft wittern zu können, wenn er nahte. Nicht den langsamen, langwierigen Tod, der einen im Krankenhausbett heimsuchte, wenn man mit Schmerzmitteln vollgepumpt am Tropf hing, sondern den plötzlichen, gewaltsamen Tod, der vom Himmel fiel oder aus dem Boden schoss und einen bluttriefend aus dem Leben riss. Die Art von Tod, die er selbst bevorzugt hätte, wenn er die Wahl gehabt hätte.
Thorpe schloss die Augen vor den Schmerzen in seiner Brust und vor dem, was er im dunklen Schatten zwischen den Bäumen und den Felsbrocken an den Hängen des Steinbruchs sah.
»Oh, Scheiße, oh, Scheiße«, murmelte er.
Er wünschte sich, er hätte den ständigen bitteren Geschmack im Rachen ebenso leicht ausspucken können, wie er den Zementstaub ausspucken konnte. Doch der Geschmack von Gewalt war in seine Drüsen gesickert und floss jetzt mit jedem Tropfen Speichel in seinen Mund.
Thorpes Hände zitterten. Er wusste, dass dieses Zittern auf seinen Hunger zurückzuführen war, nicht auf seine Angst. Eigentlich hatte er nie Angst gehabt, nicht einmal in den schlimmsten Momenten, als seine Kameraden unmittelbar neben ihm in Stücke gerissen wurden, als seine Gesichtsmaske so dick mit Blut bespritzt war, dass er den Feind nicht mehr sehen konnte. Er wusste, dass andere Männer Angst hatten, wenn sie ins Gefecht zogen, aber aus irgendeinem Grund hatte ihn das Wissen, jeden Augenblick sterben zu können, nie gestört. Genau genommen hatte er überhaupt keine Angst vor dem Tod. Das Leben war es, das ihm Schmerzen verursachte.
Thorpe lächelte und spürte, wie sich die mehrere Tage alten Bartstoppeln in seinem Gesicht bewegten. Man lernte, die richtigen Instinkte zu entwickeln, weil sie vielleicht das Einzige waren, das einen selbst und seine Kameraden am Leben hielt. Die Sinne wurden schärfer, sodass man genau wusste, wo die Mitglieder der eigenen Einheit positioniert waren, und einen Teil des Geländes wie auf einem Fernsehbildschirm vergrößert sah, auf dem jede Bewegung sofort zu erkennen war. Genau das spürte er in diesem Moment – eine Bewegung irgendwo in den Hügeln. Irgendetwas, das sich auf ihn zubewegte.
Es war gefährlich, die eigene Position preiszugeben. Er hatte gesehen, wie andere Männer dumme Fehler machten und sich selbst verrieten. Diese Männer überlebten nicht lange. Schlimmer noch, sie brachten ihre Kameraden in Gefahr.
Das laute Kreischen der Maschine, die hoch oben am Rand des Steinbruchs arbeitete, hallte über dem Zementwerk wider wie die Stimme eines Wüstendämons. Ein riesiger Muldenkipper war über den Grat gekommen und fuhr die Böschung hinunter. Thorpe konnte ihn noch nicht sehen, aber er spürte das Vibrieren des Bodens, lange bevor er in Sichtweite war.