Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 16
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In der Einsatzzentrale in Edendale sahen die Kriminalpolizisten sich mit einer Umkehrung ihrer normalen Routine konfrontiert: Anstatt eine Liste von Verdächtigen zu erstellen, fertigten sie eine Liste möglicher Opfer an.
Detective Chief Inspector Kessen beobachtete Hitchens einige Minuten lag dabei, wie er Ermittlungsteams zusammenstellte.
»Und was machen wir, sobald wir eine Liste mit Namen haben?«, erkundigte sich Kessen.
»Wir warnen sie vor der Gefahr, Sir.«
»Hören Sie, wir müssen vorsichtig sein. Wenn die Presse Wind davon bekommt, dass es weitere Morde geben könnte, wird in der Bevölkerung vielleicht Panik ausbrechen.«
»Das versteht sich doch von selbst.«
»Wirklich?«
»Ja, Sir.«
Ben Cooper hatte sich noch immer nicht ganz an DCI Kessen gewöhnt. Er war viel zu unauffällig. Genau genommen war er sogar so unauffällig, dass ihn seine Untergebenen in der West Street oft in der Tür stehen sahen, wenn sie sich umdrehten, ohne zu wissen, wie lange er sie schon beobachtet hatte oder was er dachte.
»Also gut, wen haben wir?«, fragte Kessen.
»Es gibt zwei Kinder aus der Ehe der Quinns«, sagte Hitchens. »Die Tochter, Andrea, ist sechsundzwanzig Jahre alt. Ich denke nicht, dass sie sich noch sehr gut an ihren Vater erinnern kann. Aber der Sohn, Simon, ist inzwischen achtundzwanzig. Er war also ungefähr fünfzehn, als sein Vater ins Gefängnis kam. Er müsste sich an ihn erinnern.«
»Das möchte ich doch meinen.«
»Aber ich glaube nicht, dass wir die Kinder als potentielle Opfer in Betracht ziehen müssen. Schließlich ist er ihr Vater.«
Kessen zuckte mit den Schultern. »Leider hat es schon genug Väter gegeben, die ihre Kinder umgebracht haben. Haben wir irgendwelche Hinweise, was für ein Verhältnis Quinn zu seinen beiden Kindern hatte?«
Er sah, wie Hitchens den Kopf schüttelte. »Nein.«
»Schicken Sie jemanden zur Gefängnisverwaltung. Heutzutage haben die Gefangenen jedes Trakts eigene Aufseher. Außerdem gibt es Berater und so weiter. Irgendjemand hat bestimmt mit Quinn über seine Familie gesprochen. Oder es zumindest versucht. Mal sehen, was wir aus ihm herausbekommen. Jeder Hinweis darauf, wie sein Gehirn funktioniert, wäre nützlich.«
»Ja, Sir.«
»Wo leben Quinns Angehörige?«
»Seine Tochter arbeitet in London. Aber sein Sohn, Simon, arbeitet beim Baureferat der Bezirksverwaltung. Er hat sich vor kurzem hier in Edendale ein Haus gekauft.«
»Da hat er Glück gehabt«, warf Gavin Murfin ein. »In dieser Gegend gibt es nicht viele Objekte für Immobilieneinsteiger.«
»Ja, da haben Sie Recht. Ich frage mich, wie er es schafft, den Kredit abzubezahlen.« Hitchens seufzte. »Es gibt eine Menge zu tun, Sir.«
»Wir brauchen vor allem Informationen«, sagte Kessen. »Wenn wir in Erfahrung bringen können, mit was für Leuten wir es zu tun haben und wie sie zu Quinn stehen, sind wir vielleicht in der Lage herauszufinden, was er vorhat.«
»Schon möglich. Aber wir können überhaupt nichts unternehmen, um diese Leute zu schützen, oder?«
»Wir können sie warnen, dass sie womöglich in Gefahr sind. Wen haben wir noch?«
»Es gibt zwei Freunde von Mansell Quinn. Oder zumindest ehemalige Freunde. Die drei standen sich zum Zeitpunkt des Mordes sehr nahe. Beide wurden bei der Verhandlung als Zeugen vorgeladen, und beide weigerten sich, ihm ein Alibi zu verschaffen. Das gab mehr oder weniger den Ausschlag.«
»Wer braucht schon Feinde, hm?«
»Als Erstes haben wir Raymond Proctor, fünfzig Jahre alt, verheiratet. Er betreibt einen Campingplatz in der Nähe von Hope.«
»Familie?«
»Verheiratet, wie ich bereits sagte. Zwei halbwüchsige Kinder. Halt, nein – einen erwachsenen Sohn. Die beiden Teenager sind Stiefkinder aus der ersten Ehe seiner Frau. Der arme Kerl.«
Kessen sah ihn kühl an. »Proctor, sagen Sie?«
»Ja, das ist der Typ, dessen erste Frau von Quinn ermordet wurde – er hatte eine Affäre mit ihr. Also können wir dort nicht viel Zuneigung erwarten, nehme ich an.«
»Freund Nummer zwei?«
»Nummer zwei ist William Edward Thorpe, fünfundvierzig Jahre alt, ledig. Thorpe war Soldat und hat einen großen Teil seiner Zeit bei der Armee im Ausland verbracht. Er war beim örtlichen Regiment, den Worcestershire and Sherwood Foresters, aber er wurde letztes Jahr entlassen.«
»Derzeitiger Aufenthaltsort?«
»Unbekannt.«
»Sein Regiment müsste Bescheid wissen.«
»Wir haben dort schon angefragt«, sagte Hitchens. »Nach seiner Entlassung ging Thorpe für einige Zeit nach Derby. Er hat bei einem seiner alten Kameraden aus der Armee gewohnt, der seine Dienstzeit ein paar Monate vorher abgeleistet hatte. Doch dieser Freund behauptet, Thorpe sei nach ein paar Tagen wieder verschwunden, und er wüsste nicht, wohin er anschließend gegangen ist. Der Computer hat eine Anzeige gegen William Edward Thorpe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Trunkenheit ausgespuckt, die er vor zwei Monaten in Ashbourne bekommen hat, aber als Adresse ist ›kein fester Wohnsitz‹ angegeben.«
»Wir müssen ihn ausfindig machen. Quinn hat ein Motiv, ihn aufzusuchen.«
»Es gibt so viel zu tun«, stellte Hitchens fest.
Kessen tat seine Bemerkung mit einem Winken ab.
»Sudbury ist ein Gefängnis für den offenen Vollzug, nicht wahr?«, fragte Murfin.
»Ja.«
»Ist nicht vor kurzem jemand von dort ausgebrochen?«
»Wenn man das ausbrechen nennen kann. Er gehörte einem unbeaufsichtigten Arbeitstrupp auf der Gefängnisfarm an und kam am Abend einfach nicht mehr in seine Zelle zurück.«
»Ich versteh nicht, warum das jemand tut. In diesen offenen Gefängnissen schiebt man doch eine ruhige Kugel. Und wenn man geschnappt wird, stecken sie einen doch nur irgendwo hin, wo es unangenehmer ist.«
»Wenn man geschnappt wird.«
»Ich bitte Sie, Sir. Wann ist uns schon mal einer durch die Lappen gegangen, der aus dem Sudbury-Gefängnis abgehauen ist? Diese Typen gehen doch immer schnurstracks nach Hause. Die armen Schlucker wissen nicht, was sie sonst machen sollen.«
Cooper hob die Hand. »Gavin hat Recht, Sir. Mansell Quinn ist nicht ausgebrochen, aber er könnte genauso gedacht haben. Vielleicht ist er einfach nach Hause gegangen.«
»Verdammt richtig. Er ist im Haus seiner Frau aufgetaucht und hat sie umgebracht.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Das war nicht sein Zuhause. Er hat nie dort gewohnt.«
»Stimmt, da haben Sie Recht. Früher hat er in Castleton gewohnt, aber inzwischen wohnen dort andere Leute. Völlig Fremde, nehme ich an. Bitte prüfen Sie das nach, Murfin.«
»Quinns Mutter lebt in Hathersage«, sagte Cooper. »Vermutlich betrachtet er das als sein Zuhause.«
»Wir haben mit ihr gesprochen, nicht wahr? Detective Sergeant Fry?«
»Ja, Sir. Aber ich glaube, sie war nicht ganz ehrlich zu uns.«
»Dann üben Sie ein wenig Druck aus. Schicken Sie einige Polizisten in die Gegend, um sämtliche Nachbarn zu befragen. Wollen wir doch mal sehen, ob nicht irgendjemand Quinn beobachtet hat. Okay, Paul?«
Hitchens blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
»Und überprüfen Sie die öffentlichen Verkehrsmittel«, sagte Kessen. »Gibt es in der Nähe vom Sudbury-Gefängnis einen Bahnhof?«
»Wir kümmern uns darum, Sir.«
»Er könnte sich ein Auto gemietet haben«, sagte jemand. »Oder eines gestohlen haben.«
»Das sollten wir ebenfalls überprüfen«, sagte Hitchens. »Stimmt.«
»Falls Quinn ein Auto hat«, stellte Kessen fest, »wird es viel einfacher für uns. Ein registriertes Fahrzeug ist leichter ausfindig zu machen als eine Person, die zu Fuß unterwegs ist und im gesamten Peak District herumspazieren kann.«
»Dann hoffen wir auf die einfache Variante«, sagte Hitchens.
»Selbstverständlich. Uns interessiert also, ob in Aston in der Nähe des Hauses des Opfers irgendwelche Fahrzeuge gesichtet wurden.«
»Und wie sieht es mit Aufrufen an die Bevölkerung aus, Sir?«
»Die Pressestelle kümmert sich bereits darum. Am Spätnachmittag findet eine Pressekonferenz statt. Wir möchten, dass heute Abend in den Lokalnachrichten im Fernsehen ein Foto von Quinn gezeigt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass ein möglichst großer Teil der Bevölkerung Ausschau nach ihm hält.«
»Ich hab heute Morgen in Aston mit Nachbarn von Mrs. Lowe geplaudert«, sagte Murfin. »Sie haben behauptet, sie wären nur zufällig vorbeigekommen, aber sie waren natürlich aus Neugier da, weil sie wissen wollten, was los ist.«
»Die Nachbarn von nebenan?«
»Nein, von weiter oben im Ort. Sie haben gestern Abend nichts gesehen, aber von sich aus Mansell Quinns Namen erwähnt. Sie hatten gehört, dass seine Entlassung anstand.«
»Und wo haben sie das gehört?«
»Sie dachten offenbar, dass es jeder wusste.«
»An den Mordfall Carol Proctor erinnert sich bestimmt jeder aus der Gegend«, warf Hitchens ein. »Zumindest jeder, der 1990 hier in der Gegend gewohnt hat. Aber wir müssen die anderen ebenfalls erreichen – die neu Zugezogenen und auch die Tausende von Touristen.«
»Wenn nötig, werden wir etwas Geld in Plakate investieren. Sonst noch etwas, Paul?«
»Ich glaube, das wär’s im Augenblick, Sir.«
Doch Cooper hob die Hand. »Sir, wenn Quinn nach Rache sinnt, weil er sich bei seinem Prozess ungerecht behandelt gefühlt hat, frage ich mich, ob er es vielleicht auch auf diejenigen abgesehen hat, die beruflich involviert waren. Zum Beispiel auf den Richter, auf die Anwälte …«
»Oder auf die Polizisten«, fügte Kessen hinzu. »Ja. Insbesondere auf die Polizisten, die am Fall Carol Proctor gearbeitet und die Beweise gesammelt haben, die zu seiner Verurteilung führten.«
Der Detective Chief Inspector sah Hitchens an. »Sie sollten besser auch die ermittelnden Polizisten von damals auf Ihre Liste schreiben, Paul«, sagte er.
Hitchens schien sich unbehaglicher zu fühlen denn je. »Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Sie brauchen nicht gewarnt zu werden.«
Kessen lächelte ihn an. »Vielleicht sollten Sie uns lieber verraten, warum, Detective Inspector Hitchens. Ich glaube, einige von uns hier wissen es nicht.«
»Tja, einer dieser Polizisten«, sagte Hitchens, »war ich.«
Rebecca Lowe war zwar alleinstehend gewesen, hatte jedoch ein ziemlich aktives Leben geführt. Das Ermittlungsteam hatte bereits damit begonnen, anhand ihres Tagebuchs, ihrer Adressbücher und anderer Beweismaterialien aus ihrem Haus ihre Unternehmungen, ihre regelmäßigen Aktivitäten und ihre engsten Kontakte zu rekonstruieren. Später würden noch ihre Telefonverbindungen, ihre Briefe und ihre Kontoauszüge überprüft werden, in der Hoffnung, irgendwelche Verbindungen herzustellen, die auf ein Motiv, einen Verdächtigen oder eventuelle Zeugen hindeuten könnten.
Neben den forensischen Untersuchungen und der Obduktion gehörte all das zu der Routine, die eingehalten werden musste, um zu demonstrieren, dass ordentlich gearbeitet wurde. Dennoch wusste jeder, dass gleichzeitig eine andere Prozedur eingeleitet worden war, und zwar die intensive Suche nach dem Mann, der bereits als Hauptverdächtiger galt: Mansell Quinn.
Ben Cooper war beauftragt worden, unverzüglich eine Befragung durchzuführen. Rebecca Lowe hatte mindestens einmal pro Woche ein Fitnessstudio besucht, das sich im Industriegebiet von Edendale befand. Ihrer Schwester Dawn zufolge hatte sie in Erwägung gezogen, stattdessen einem neu eröffneten Fitnessstudio in Hathersage beizutreten, da es näher war. Doch sein Fitnessstudio zu wechseln war ungefähr dasselbe, als würde man von einer Religion zu einer anderen konvertieren. Man riskierte dabei, gesagt zu bekommen, dass alles, was man bislang in seinem Leben getan hat, falsch sei. Vielleicht war Rebecca ein wenig festgefahren gewesen. Sie hatte dem Fitnessstudio in Edendale die Treue gehalten.
»Eine unserer reiferen Damen«, sagte die Trainerin von Valley Fitness. »Aber sie war besser in Form als die meisten anderen. Auf dem Trimmfahrrad hat sie sogar länger durchgehalten als viele der jüngeren Frauen. Außerdem hatte sie keine Angst davor, neue Sachen auszuprobieren. Sie hatte sich für eine Pilates-Probestunde angemeldet.«
»Hat sie jemals über ihren Exmann gesprochen?«
»Lassen Sie mich überlegen – er ist gestorben, nicht wahr?«
»Entschuldigung, ich meinte den Ehemann davor.«
»Ein früherer Ex? Nein, ich wusste nicht, dass sie einen hatte. Dann hat sie also einiges erlebt, unsere Rebecca. Zwei Ehemänner verabschiedet, aber sich trotzdem in Form gehalten. Tja, gut für sie.«
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Am Montagvormittag. Sie kam jeden Montagvormittag zum Trainieren. Ohne Ausnahme.«
Das stimmte mit der Fotokopie einer Seite aus Rebecca Lowes Wochenplaner überein, die Cooper bei sich hatte.
»Und sie war gestern Vormittag ganz sicher hier?«
»Ja, von zehn bis elf. Sie hat einen Scherz darüber gemacht, dass sie die Ausschweifungen des Wochenendes abarbeiten müsse. Ich glaube, sie hat gern mal eine Flasche Wein getrunken.«
Cooper warf einen Blick auf die Einträge der vorangegangenen zwei Tage. Mittagessen mit ihrer Schwester am Samstag. Eine Dinnerparty mit Freunden am Sonntagabend.
»Und schien Mrs. Lowe in normaler Verfassung zu sein?«
»Wie meinen Sie das?«
»Schien sie sich wegen irgendetwas Sorgen zu machen? Erwähnte sie irgendetwas, das sie beunruhigte?«
»Ich hab mich nicht viel mit ihr unterhalten, aber sie wirkte vollkommen zufrieden. Ganz wie immer. Warten Sie, obwohl …«
»Ja?«
Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment lang still. Cooper hörte eine Reihe seltsamer Geräusche im Hintergrund und stellte sich das Laufen, Dehnen und Strampeln vor, das aller Wahrscheinlichkeit nach während ihres Gesprächs vor sich ging. Bei dem Gedanken daran fühlte er sich müde.
»Es war von einem Mann die Rede, der jetzt irgendwann aus dem Gefängnis entlassen werden sollte«, sagte die Trainerin. »Stimmt das? Jemand, den Rebecca sehr gut kannte.«
»Ja, das stimmt. Hat Ihnen das Mrs. Lowe erzählt?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Oh.«
»Das muss irgendjemand anderer erwähnt haben. Ein alter Mordfall, nicht wahr? Vielleicht war es aber auch nur ein Gerücht. Mag sein, dass ich mich an seinen Namen erinnere, wenn Sie mich kurz nachdenken lassen.«
»Nicht nötig. Ich nehme an, er lautete Quinn.«
»So hieß er! Dann stimmt es also? Ist er draußen?«
»Ja, ich fürchte schon.«
Als Cooper den Hörer auflegte, reichte ihm jemand ein Foto. Es war eine neuere Aufnahme von Rebecca Quinn, und zwar diejenige, die sie auch in den Medien veröffentlichen wollten. Sie war darauf für draußen gekleidet, mit einer grünen Thermoweste und Jeans, und hatte einen Hund neben sich – ein kleines Ding mit buschigem Schwanz und zerknittertem Gesicht. Rebecca selbst hatte ein eher schmales Gesicht, Falten um die Augen, aber beneidenswerte Wangenknochen. Ihr Haar war blond, wenngleich sie es bestimmt gefärbt hatte, da sie bereits neunundvierzig Jahre alt war.
Die Trainerin aus dem Fitnessstudio hatte Recht gehabt: Rebecca Lowe schien gut in Form gewesen zu sein. Aber hatte sie tatsächlich zwei Ehemänner verabschiedet? Es sah so aus, als sei einer der beiden zurückgekommen.
Eine Zeit lang wartete Cooper darauf, dass ihm jemand sagte, was als Nächstes zu tun war. Die Ermittlungen in einem Mordfall waren ein strikt reglementiertes Unterfangen mit genau definierten Verantwortlichkeiten und boten kaum Möglichkeiten, auf eigene Faust zu handeln. Er ging davon aus, dass er dem Team zugeteilt werden würde, das im Außendienst ermittelte. Irgendjemand musste den praktischen Teil der Nachforschungen übernehmen, selbst wenn sich der Leiter der Ermittlungen dafür entschied, auf die Datenbank von Scotland Yard zurückzugreifen.
Selbstverständlich bedauerte Cooper es, dass er Amy und Josie enttäuschen und den Besuch der Höhlen verschieben musste. Aber sie würden es verstehen – sie verstanden es immer.
Schließlich sah er Fry zwischen den Tischen im Büro auf sich zukommen.
»Du hast doch heute eigentlich deinen freien Tag, oder, Ben?«, sagte sie.
»Ja, aber …«
»Dann solltest du das, was noch davon übrig ist, auch wahrnehmen.«
»Brauchst du mich denn nicht?«, fragte Cooper. Er bemerkte, wie seine Stimmlage vor Überraschung anstieg, und glaubte, einen Anflug von Enttäuschung darin zu hören.
»Heute nicht. Sieht so aus, als würde sich die Sache von selbst lösen. Wir müssen nur herausfinden, wo sich Mansell Quinn aufhält, und ihn einfangen.«
»Bist du dir da sicher, Diane?«
»Anweisung von oben.«
»Na ja, ich hab nichts dagegen, weil ich einiges vorhabe. Ich hab nur ein ungutes Gefühl bei der Sache, das ist alles.«
Fry zuckte mit den Schultern. »Wir tun schließlich nur, was uns gesagt wird, oder?«
Cooper hatte ein komisches Gefühl dabei, das Büro zu verlassen und nach Hause zu gehen, wenn ein wichtiges Ermittlungsverfahren anstand. Doch wenn er blieb, würde er Überstunden machen. Irgendjemand in der Chefetage traf harte Etat-Entscheidungen und spekulierte auf eine baldige Lösung des Falles.
Bevor Cooper das Gebäude verlassen konnte, streckte Detective Inspector Hitchens den Kopf zur Tür hinaus und rief ihn zu sich.
»Detective Constable Cooper.«
»Ja, Sir?«
»Hätten Sie noch ein paar Minuten Zeit, bevor Sie gehen?«
Hitchens machte eine Kopfbewegung zu seinem Büro, und Cooper folgte ihm hinein.
»Machen Sie die Tür zu.«
Hitchens wirkte ernst. Cooper hatte ihn seit langer Zeit nicht mehr so ernst gesehen – nicht seit der Detective Inspector beim Bewerbungsgespräch für den Posten als Chief Inspector durchgefallen war. Außerdem fühlte er sich offenbar etwas unbehaglich und hielt an seinem Schreibtisch inne, als wollte er sich setzen, stellte sich schließlich aber doch ans Fenster. Abgesehen von dem Fußballplatz, gab es draußen nicht viel zu sehen, nur die Dächer der Häuser in den Straßen, die hinunter ins Zentrum von Edendale führten.
Cooper wartete, bis der Detective Inspector seine Gedanken geordnet hatte.
»Ich dachte mir, ich sage Ihnen das lieber unter vier Augen, Ben, als während einer Teambesprechung.«
Jetzt begann Cooper, sich unwohl zu fühlen. Er ahnte, dass ihn schlechte Nachrichten erwarteten. Würde er wegen irgendetwas gerügt werden? Hatte er einen Verstoß begangen, der gravierend genug war, dass ihm ein Disziplinarverfahren drohte oder Schlimmeres? Cooper schluckte. Er wusste, dass er das getan hatte. Aber inzwischen war einige Zeit vergangen, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass er nichts mehr zu befürchten hatte. Es gab nur eine Person, die ihn verpfiffen haben könnte.
Er studierte das Gesicht des Detective Inspectors und versuchte abzuwägen, wie ernst die Situation war. Hitchens hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die so genannte Positiv-Negativ-Positiv-Methode zu benutzen, die Führungskräften beigebracht wurde. Er hätte Cooper zuerst für irgendetwas loben müssen, ehe er das heikle Thema in Angriff nahm, um seine Moral nicht zu zerstören. Vielleicht bedeutete das, dass es um etwas anderes ging. Eine Versetzung vielleicht. Cooper hatte noch ein paar Jahre bei der Kriminalpolizei vor sich, doch das hieß nicht, dass man dort nicht früher auf seine Dienste verzichten konnte.
»Es geht um den Mansell-Quinn-Fall«, sagte Hitchens zu Coopers Überraschung. »Ich meine, um den Mord an Carol Proctor.«
»Ja, Sir?«
»Es ist schon komisch, dass ausgerechnet Sie die Gefahr angesprochen haben, die für diejenigen besteht, die beruflich in diesem Fall involviert waren. Ich denke da vor allem an die Polizisten.«
»Sie waren einer der beteiligten Polizisten, Sir.«
»Ja, das war ich, Cooper.«
»Aber was hat das mit mir zu tun? Gibt es irgendetwas, das ich tun soll?«
Hitchens lächelte.
»Denken Sie etwa, ich könnte Sie bitten, mich zu beschützen? Das ist sehr nett von Ihnen, Ben, aber ich werde das Risiko eingehen.«
Dann setzte sich der Detective Inspector endlich hin und verschränkte die Hände, indem er nervös seine langen Finger ineinanderschob.
»Die Angelegenheit ist ziemlich kompliziert, Cooper«, sagte er. »Doch zunächst dürfen Sie nicht vergessen, dass der Mord an Carol Proctor fast vierzehn Jahre her ist. Ich war damals Detective Constable bei der Bezirkskriminalpolizei, so wie Sie es heute sind. Ich war zwar ein bisschen jünger als Sie, aber ebenso hochmotiviert. Da es mein erster Mordfall war, erinnere ich mich noch ganz genau daran. Ich habe mir zu allem Notizen gemacht. Selbstverständlich waren die Methoden damals etwas anders.«
Cooper nickte. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte.
»Alle ranghöheren Polizisten, die an dem Fall gearbeitet haben, sind längst im Ruhestand«, sagte Hitchens. »Der Leiter der Ermittlungen starb vor drei Jahren. Herzinfarkt.«
»Das tut mir leid. War er ein guter Detective, Sir?«
Cooper wusste, dass der erste Ermittlungsleiter, für den man an einem bedeutenden Fall arbeitete, ebenso einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte wie ein einflussreicher Lehrer in der Schule. Er selbst erinnerte sich noch immer gerne an Detective Chief Inspector Tailby, für den er ein paar Mal gearbeitet hatte.
»Ein guter Detective? Nicht unbedingt«, erwiderte Hitchens. »Er war ein Polizist der alten Schule, von denen es Anfang der Neunziger noch einige gab. Er hatte ganz eigene Vorstellungen davon, wie vorzugehen war. Tja, aber da war er natürlich nicht der Einzige.«
»Nein, Sir.«
»Mein ehemaliger Detective Sergeant ist noch im Dienst, aber er ist inzwischen Ausbilder in Bramshill«, fuhr Hitchens fort. »Damit bleibe nur noch ich aus dem Hauptermittlungsteam übrig, das Mansell Quinn hinter Gitter gebracht hat. Allerdings wurde die Verhaftung selbst nicht von der Kriminalpolizei, sondern von uniformierten Polizisten vorgenommen. Der Verdächtige war noch am Tatort, als die ersten Polizisten eintrafen, deshalb haben ihn die FOAs verhaftet. Sie fanden auch das Messer. Offensichtlich hatte Quinn keinen Gedanken daran verschwendet, sich eine Geschichte zurechtzulegen, bevor die Streife auftauchte.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Ich verstehe noch immer nicht, Sir.«
Hitchens seufzte. »Ich weiß, wie nahe Ihnen der Tod Ihres Vaters gegangen ist, Ben. Ich glaube, Sie leiden noch immer sehr darunter, habe ich Recht?«
»Ja, Sir.« Cooper brachte die Worte kaum heraus, weil sein Mund sich taub anfühlte. Seine Gedanken bissen sich an dem Akronym FOA fest: First Officers to Arrive, die ersten Polizisten am Tatort. Eine uniformierte Streife, die auf einen Notruf reagierte. Er hatte kaum noch Zweifel daran, was der Detective Inspector als Nächstes sagen würde. »Also war im Mansell-Quinn-Fall …?«
Hitchens nickte. »Ja. Nach der Ermordung von Carol Proctor hat Sergeant Joe Cooper die Verhaftung vorgenommen.«