Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 15
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Detective Inspector Hitchens legte sein bestes Benehmen im Umgang mit trauernden Angehörigen an den Tag, als er sich an die Lowes wandte. »Sind Sie bereit?«
Simon Lowe nickte. Bei Andrea war keine sichtbare Reaktion festzustellen. Allerdings schienen die beiden ein Stück näher zusammenzurücken, bevor sie an das Sichtfenster traten.
Andrea Lowe trug blaue Jeans und ein perlgraues Sweatshirt und hatte ihr dunkles Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie wirkte äußerst ruhig und gefasst. Doch Diane Fry hatte gesehen, dass sie beinahe vor ein Auto gelaufen wäre, als sie über den Parkplatz zur Leichenschauhalle gegangen war.
Ihr Bruder wirkte aufgewühlter. Er hielt sich an Andreas Hand fest und sah beinahe wie eine ältere Version von ihr aus, nur mit etwas hellerem Haar und ein Stück größer. Obwohl Fry zunächst dachte, Simon verfüge nicht über die Kraft, seine Mutter zu identifizieren, war er derjenige, der als Erster sprach.
»Ja, das ist sie. Das ist unsere Mutter.«
»Vielen Dank, Sir.«
Simons Stimme war sehr tief, und er bewegte beim Sprechen kaum den Mund, als sei alle Energie aus ihm gewichen. Seine Schwester sagte gar nichts, beugte sich jedoch näher zur Scheibe, so nahe es ging. Sie ließ die Hand ihres Bruders los und presste die Finger gegen das Glas wie ein kleines Kind, das ins Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts starrt. Ihr Atem beschlug die Scheibe, und sie berührte den feuchten Fleck mit der Stirn.
Auf der anderen Seite des Fensters zögerte der Mitarbeiter des Leichenschauhauses, da er nicht wusste, ob die Identifizierung bereits stattgefunden hatte und er die Verstorbene wieder zudecken konnte oder ob er den Hinterbliebenen noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick gewähren sollte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Lowe?«, erkundigte sich Fry.
Andrea nickte, aber Simon zog ihre Hand von der Scheibe weg und umschloss sie. Hitchens trat von einem Fuß auf den anderen und sah sich nach dem Familienbetreuer um, der dafür ausgebildet war, sich um trauernde Angehörige zu kümmern.
»Sie wissen ja, dass wir nach Ihrem Vater suchen«, sagte Hitchens. »Er wurde gestern aus dem Gefängnis entlassen.«
Dann geschah etwas Seltsames. Simon Lowes Gesichtsfarbe veränderte sich. Fry hatte das bereits häufiger bei Hinterbliebenen beobachtet, wenn sie ihre Liebsten identifizierten – aber in der Regel wurden sie blass oder im schlimmsten Fall grün im Gesicht. Doch Simon lief rot an, und zwar beinahe violett. Blut strömte ihm ins Gesicht und in den Hals, bis er Fry an den Leichnam eines Strangulationsopfers erinnerte, der vor wenigen Monaten auf demselben Leichentisch gelegen hatte wie Rebecca Lowe.
»Falls Sie Mansell Quinn meinen«, sagte Simon, »er ist nicht mein Vater.«
»Oh, aber ich dachte …«
Andrea wandte sich von der Scheibe ab, schlang die Arme um ihren Bruder und wurde im Handumdrehen wieder zur kleinen Schwester. Simon nahm einen tiefen Atemzug, der in seiner vor Emotionen angeschwollenen Luftröhre rasselte.
»Er war mein Vater. Aber jetzt ist er es nicht mehr. Er ist seit vierzehn Jahren nicht mehr mein Vater.«
»Ich verstehe«, sagte Hitchens.
»Ach ja?«
»Ich glaube, ich verstehe, wie Sie empfinden. Falls Sie trotzdem irgendeine Idee haben, wo sich Ihr … ich meine, wo sich Mr. Quinn derzeit aufhalten könnte, würden Sie es uns dann bitte wissen lassen?«
»Natürlich würden wir das«, erwiderte Simon.
»Und Sie, Madam?«
Hitchens wartete höflich auf eine Antwort von Andrea.
»Ich hab mit Mum gesprochen. Kurz bevor es passiert ist. Ich hab mit ihr telefoniert und sie gebeten, auf sich aufzupassen. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Situation nicht ernst genug nahm. Aber so war Mum nun mal – sie zog es vor, das Leben zu genießen, anstatt sich ständig wegen irgendwas Sorgen zu machen.«
»Wir müssen Sie bitten, eine Aussage zu machen«, sagte Hitchens. »Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
»Das möchte ich heute machen«, entgegnete sie.
»In der Zwischenzeit …«
»Wir werden Ihnen alles sagen, was helfen könnte, Inspector.«
Fry stellte fest, dass Simon wieder die Kontrolle übernommen hatte. Rebecca Lowes Kinder hingen aneinander, als wären sie unzertrennlich.
Der Viehmarkt, der sich früher an der Hauptstraße in Hope befunden hatte, war abgerissen worden. Vielleicht hatte er durch den Ausbruch der Maul- und Klauenseuche im Jahr 2001, als alle Viehmärkte für ein Jahr geschlossen worden waren, zu große Verluste hinnehmen müssen. Inzwischen waren auf dem Gelände Wohnungen gebaut worden.
»Mansell Quinn wurde zu zwanzig Jahren verurteilt«, sagte Ben Cooper. »Da er keine Bewährung bekommen hat, muss er bis zu seiner automatischen Entlassung zwei Drittel seiner Haftstrafe abgesessen haben. Das heißt, äh …«
»Dreizehn Jahre und vier Monate.«
Diane Fry sah kurz auf, als Cooper wegen eines Eichhörnchens abbremste, das über die Straße huschte. Doch wie üblich zeigte sie wenig Interesse an der Umgebung.
»Was denkst du, warum er seine Aussage zum Mord an Carol Proctor widerrufen hat?«, fragte Cooper. »Das hatte doch nur zur Folge, dass er keine Bewährung bekam und ihm sämtliche Hafterleichterungen gestrichen wurden.«
»Der Bewährungsausschuss hat bestimmt alle möglichen Faktoren in Betracht gezogen«, sagte Fry. »Sie wollten sicher wissen, was er nach seiner Entlassung vorhatte. Und er hatte mit einigen Problemen zu kämpfen – mit Wutausbrüchen.«
»Aha.«
Die Ortschaft Hope lag in der Mitte des Tals und wurde auf der einen Seite vom Lose Hill und vom Win Hill, auf der anderen vom Zementwerk eingerahmt. Als sie in das Tal hineingefahren waren, hatten sie den Schornstein des Zementwerks bereits vom Rising Sun Inn aus gesehen. Seine seltsame turmartige Bauweise erinnerte an die Ruinen einer Burg, in denen die gähnenden Löcher der Schießscharten klafften. Dahinter befand sich eine lange weiße Narbe aus Steinbrüchen, die sich tief ins Bradwell Moor hineingruben.
Cooper hatte sich zuvor das Portraitfoto von Mansell Quinn angesehen. Im Gefängnis musste Quinn sich lange Zeit wie jemand gefühlt haben, der unter Wasser die Luft anhält. Schlimmer noch, er hatte keine Ahnung gehabt, wie lange er sie noch anhalten musste. Es hatte bestimmt eine Zeit gegeben, als er hoffte, nach zehn Jahren auf Bewährung freizukommen. Doch dann war er als »zur vorzeitigen Entlassung ungeeignet« gebrandmarkt worden. Viele hätten in dieser Situation vielleicht aufgegeben, hätten aufgehört, die Luft anzuhalten, und der Verzweiflung freien Lauf gelassen. Doch Quinn hatte ausgeharrt.
»Ich nehme an, seine familiären Umstände entsprachen nicht den Anforderungen. Waren nicht geeignet, um seine Rehabilitation zu unterstützen.«
»Es ist nicht klug, seine Meinung darüber zu ändern, ob man schuldig ist oder nicht«, sagte Fry. »Damit stempelt man sich selbst zum Lügner ab. Die meisten, die im Gefängnis ihre Aussage widerrufen, tun es allerdings andersrum. Da Reue wichtiger ist als Unschuld, zeigen sie Reue und bekommen ihre Bewährung.«
In Hope, wo ein stetiger Strom von Lastwagen in beide Richtungen über die Brücke zum Zementwerk rumpelte, musste Cooper sich aufs Fahren konzentrieren.
Er hatte erlebt, wie Männer nach ihrer Entlassung das Gefängnis verließen und sich zu Fuß am Straßenrand auf den Weg in die nächstgelegene Ortschaft machten, mit all ihren Habseligkeiten in einer einzigen Tasche und einer nur äußerst vagen Vorstellung von ihrer Zukunft. Dabei hatte er sich oft gefragt, ob sie weiter kamen als bis zum nächsten Pub, wenn sie dem Duft von Freiheit folgten, der durch ein Kneipenfenster strömte.
»Wenn ich in dieser Lage wäre, würde ich alles tun, um rauszukommen, und wenn ich dazu das Blaue vom Himmel lügen müsste. Ich meine, wenn ich tatsächlich unschuldig wäre, würde ich es schließlich wissen, auch wenn es sonst niemand weiß. Also bräuchte ich auch kein schlechtes Gewissen zu haben …« Cooper hielt inne. »Quinn hat ganz bestimmt nicht vor, wieder ins Gefängnis zu gehen.«
»Das dachte ich eigentlich auch«, sagte Fry.
Ein paar Minuten später standen Cooper und Fry am unteren Ende von Rebecca Lowes Garten von Parson’s Croft. Der Wind hatte stark aufgefrischt, und Cooper beobachtete, wie er durch die Bäume auf den Hängen des Win Hill fegte.
Die Spurensicherung arbeitete noch immer im Haus, und mehrere Polizisten suchten auf allen vieren den Garten und die Einfahrt nach Spuren ab, die der Mörder auf seinem Weg zum Haus womöglich hinterlassen hatte. Cooper fiel auch hier eine Garten-Zierfigur auf, bei der es sich allerdings nicht um ein Eichhörnchen oder um einen Hasen handelte, sondern um einen Beton-Reiher, der auf einem Bein in der Mitte des Rasens stand, als wartete er auf einen Teich.
»Sie denken, er könnte eine Zeit lang unter den Bäumen gewartet haben, bevor er sich dem Haus genähert hat«, sagte Fry, die mit dem Chef der Spurensicherung gesprochen hatte. »Er wollte vermutlich sichergehen, dass sie allein war.«
»Hier?«, fragte Cooper.
»Ein paar Meter weiter am Zaun. Siehst du die Markierungen? Er muss das Haus eine Weile beobachtet haben, bevor er es betreten hat. Das ist der beste Platz, wenn man unentdeckt bleiben will, aber trotzdem gute Sicht aufs Haus haben möchte.«
Cooper blickte zu dem Baum neben sich auf. Die meisten seiner Blätter waren dunkelgrün und hatten die charakteristische Spitze von Lindenblättern. Doch etliche Zweige waren spärlicher und heller belaubt. Er streckte sich ein wenig und war dadurch in der Lage, einen Ast zu packen und ihn zu schütteln. Ein Schauer von kleinen Wassertropfen ergoss sich von den Blättern, gefolgt von einer kleinen Wolke brauner Teilchen, die in Frys Haar und auf ihren Schultern landeten und an den Ärmeln von Coopers Hemd hängen blieben.
»Was soll das denn?«, fauchte Fry.
Cooper nahm eines der Teilchen von seinem Hemd und sah es sich an. Es handelte sich um eine winzige runde Blüte auf einem kurzen, vertrockneten Stängel.
»Diese Linde trägt Samen«, stellte er fest. »Da oben sind Tausende von diesen Dingern. Wenn der Mörder auch nur für ein paar Minuten hier gestanden hat, müssen sie an seinen Klamotten genauso hängen geblieben sein wie an unseren.«
»Und in seinen Haaren«, sagte Fry und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Okay, wenn wir Quinn finden, wird er sie also noch mit sich herumtragen. Ich gehe nicht davon aus, dass er sich oft umzieht.«
»Wir sollten der Spurensicherung vorschlagen, dass sie an den Sachen aus dem Haus, die sie eingetütet haben, nach Samen suchen sollen.«
»Das würde nicht wirklich was beweisen. Rebecca Lowe hat vielleicht selbst Samen ins Haus getragen. Der Hund könnte sie auch reingeschleppt haben oder sonst irgendjemand.«
»Ja, da hast du Recht.«
Fry starrte ihn an. Sie war es nicht gewöhnt, gesagt zu bekommen, dass sie Recht hatte. Doch Cooper hatte ein Bild vor Augen. Er stellte sich vor, wie der Mörder dort unter der Linde stand und das Haus beobachtete. Er hatte sich dem Haus nicht sofort genähert, sondern einige Zeit gewartet. Aber worauf hatte er gewartet?
»Es war bereits dunkel, nicht wahr?«, fragte Cooper. »Seit etwa einer Stunde.«
»Ja, natürlich war es dunkel.«
Sie sah ihn verwundert an, als er die Hand nach oben ausstreckte und den untersten Ast des Baumes erneut schüttelte. Diesmal zog er etwas fester an, und der Ast senkte sich. Mehr Wasser tropfte auf sie herab. Fry bekam einen Spritzer ins Gesicht und wischte ihn mit den Fingern fort, während sie Cooper anstarrte.
»Ich frag mich«, sagte er, »ob es bereits zu regnen begonnen hatte.«
»Ich hab keine Ahnung, Ben.«
Cooper blickte auf den Boden. Er sah die reife Rispe eines Grashalms, die von einer Maus oder etwas Ähnlichem angekaut worden war. Daneben befanden sich mehrere Markierungen, die von der Spurensicherung auf der feuchten Erde platziert worden waren.
»Fußspuren«, stellte Cooper fest.
»Von Stiefeln, so wie es aussieht. Schön deutliche Abdrücke.«
»Hilfreich.«
Zwischen den Linden und dem Haus erstreckten sich zwei leicht abschüssige Rasenflächen, die von Blumenrabatten eingerahmt waren und durch einen gepflasterten Weg voneinander getrennt wurden. Der Weg schlängelte sich ein wenig, ehe er vor einer Sonnenuhr auf einem Steinsockel endete. Cooper sah keine weiteren weißen Markierungen, und die Spurensicherung war inzwischen zur Einfahrt und zur Garage vorgerückt.
»Zwischen hier und dem Haus gibt es keine Abdrücke, obwohl das Gras ziemlich lang ist und nicht frisch gemäht wurde.«
Fry zuckte mit den Schultern. »Dann muss er auf dem Weg gegangen sein.«
»Ach ja. Er hatte Angst, mit seinen großen Stiefeln den Rasen zu zertrampeln. Und was ist mit dem Zwei-Meter-Satz zur Sonnenuhr?«
»Ben, im Gras haben sich die Abdrücke einfach nicht gehalten, das ist alles.«
»Hätten sie aber tun müssen«, sagte Cooper, »wenn es nass war.«
Cooper beobachtete Gavin Murfin, der sich neben dem Haus umsah und über die dichte Hecke ins Nachbargrundstück spähte. Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal seit Monaten mit Diane Fry allein war, ohne dass Murfin oder irgendjemand anderer dabei war und mithörte, worüber sie sich unterhielten, oder sich einmischte. Fry versuchte ausnahmsweise einmal nicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie schien zu sehr in Gedanken versunken zu sein.
»Diane …«, sagte er.
»Was ist?«
Der veränderte Tonfall seiner Stimme alarmierte Fry, und sie sah ihn argwöhnisch an. Manchmal wünschte sich Cooper, ein besserer Schauspieler zu sein.
»Ich weiß, dass es mich nichts angeht«, sagte er und verstummte wieder, als sie verärgert die Augen verdrehte, wenngleich sie sich nicht vom Fleck rührte. »Aber ich hab gehört, dass Angie bei dir wohnt.«
»Hast du am Kaffeeautomaten getratscht oder was?«
»Ist das wahr, Diane?«
»Wie du bereits gesagt hast, Ben: Es geht dich nichts an.«
»Ich war schließlich beteiligt, in gewisser Weise …«
»In gewisser Weise? Viel zu stark beteiligt, wenn du mich fragst.«
»Ja, ich weiß, ich weiß. Aber ist Angie nur zu Besuch da, oder ist sie bei dir eingezogen? Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust, Diane?«
»Ben, möchtest du, dass ich dir gleich das Genick breche, oder willst du mich vorher noch ein bisschen nerven?«
Fry durchquerte mit steifer Haltung den Garten. Cooper hatte sie schon oft so von ihm weggehen sehen. Er schüttelte den Kopf, und mehr Wassertropfen und braune Teilchen fielen aus seinem Haar. Dann eilte er hinter Fry her und verfiel neben ihr in Gleichschritt.
»Hast du Rebecca Lowes Kinder schon gesehen?«, erkundigte er sich.
»Sie waren heute da, um den Leichnam zu identifizieren«, erwiderte Fry. »Sie wussten natürlich bereits, dass Mansell Quinn entlassen wurde. Andrea hat gesagt, sie hätte ihre Mutter gebeten, besonders vorsichtig zu sein.«
»Andrea und … Simon?«
»Das ist richtig.«
»Gibt es auch Kinder aus ihrer zweiten Ehe?«
»Zu diesem Zeitpunkt war sie schon zu alt, Ben.«
»Ich meinte damit, ob ihr zweiter Ehemann Kinder hat. Stiefkinder von Mrs. Lowe.«
»Nein.«
»Dann hat sie also allein gelebt?«
»So ist es.«
»Aber wenn Mansell Quinn auf Rache aus war«, sagte Cooper, »warum an seiner Exfrau? Was hat sie getan?«
»Das wissen wir nicht. Und es gibt noch etwas, das wir nicht wissen: Wen er noch aufsuchen könnte.«
»Was?«
»Was ich damit sagen will, Ben, ist: Wer ist der Nächste?«
Will Thorpe hatte sich angewöhnt, andere Leute beim Atmen zu beobachten. Für die meisten war das mühelos und geschah automatisch. Sie waren sich nicht einmal der Tatsache bewusst, dass sie atmeten. Er sah gerne zu, wie sich ihre Brust leicht hob und senkte, und stellte sich vor, wie Luft sanft in ihre Lunge hinein- und wieder herausströmte. Er starrte auf ihren Mund, wenn sie sprachen oder aßen, und versuchte, sich an die Zeiten zu erinnern, als er noch in der Lage gewesen war, gleichzeitig zu sprechen und zu atmen wie diese Leute. Er neigte den Kopf zur Seite und lauschte, konnte sie jedoch nicht atmen hören.
Natürlich gab es auch einige, die sich verrieten. Hin und wieder hörte er ein Keuchen oder Husten und drehte sich um, weil er herausfinden wollte, woher es gekommen war. Sie waren sich ihrer Atmung ganz sicher bewusst – wenn nicht, würden sie es bald sein. Andere dagegen beobachtete er so lange, bis er zu der Überzeugung kam, dass sie überhaupt nicht atmeten. Vielleicht saugten sie mit ihren Poren Sauerstoff ein oder nahmen ihn mit dem Sonnenlicht auf, wie Bäume es mit ihren Blättern taten.
Diese Leute verstanden nicht, was atmen war. Es war die wichtigste Sache auf der Welt, ein Privileg, um das es jede Minute zu kämpfen galt, tagsüber und nachts. Vor allem nachts.
Thorpe saß in einer kleinen, grasbewachsenen Mulde mit Blick auf den Zugang zum Cavedale-Tal. Unter ihm befanden sich mehrere zerklüftete Kalkstein-Vorsprünge, die er erklommen hatte, um seinen Aussichtspunkt zu erreichen. Dazu hatte er einige Zeit gebraucht, weil er häufig stehen bleiben, nach Atem ringen und mit den Schmerzen in seiner Brust kämpfen musste.
Von hier oben konnte er auf die Leute hinabblicken, die das Tal an dem Ende, an dem Castleton lag, durch eine schmale Kluft im Kalkstein betraten. Hinter ihm schirmte eine Gruppe von Ulmen und Ahornbäumen die Dächer der Cafés und Pensionen in der Nähe der Cavedale-Cottages ab. Wenn er sich still hielt, würden ihn nicht einmal die Wanderer, die durch das Tal gingen, in seiner Mulde bemerken. Nachdem sie den Bergfried der Burg passiert hatten, sahen sie nicht mehr nach oben, sondern richteten den Blick auf den Boden, um nicht über lockere Steine zu stolpern.
Nach ein paar Minuten zündete Thorpe sich eine Zigarette an. Zwei Jungen betraten das Tal, die sich laut miteinander unterhielten und nicht merkten, dass sie beobachtet wurden. Vermutlich gehörten sie zu der Gruppe von Schülern, die er im Ort dabei beobachtet hatte, wie sie auf ihren Arbeitsblättern Dinge abhakten, die sie finden sollten.
Die beiden hatten das Cavedale-Tal gefunden, gaben sich aber nicht damit zufrieden, es einfach nur von ihrer Liste zu streichen. Sie kletterten die Felsen auf der anderen Seite des Tals gegenüber von Thorpe hinauf und blieben vor dem Eingang zu einer der kleineren Höhlen in der Kalksteinwand stehen. Sie sah dunkel und geheimnisvoll aus, doch Thorpe wusste, dass sie nach wenigen Schritten endete. Obwohl der Hügel vom Peak-Cavern- und vom Speedwell-Höhlensystem durchsetzt war, gab es vom Cavedale-Tal aus keinen Zugang.
Die beiden Jungen sahen sich um und bemerkten ihn. Vielleicht hatte der Rauch seiner Zigarette ihnen seine Anwesenheit verraten.
»Entschuldigen Sie, ist diese Höhle sicher?«, rief einer der Jungen.
Thorpe war von höflichen Kindern immer beeindruckt. Sie schafften es jedes Mal, ihn zu überraschen.
»Sicher?«
»Gibt es da drin Fledermäuse oder irgendwas anderes?«
»Nein, ich denke nicht, dass es da drin Fledermäuse gibt. Oder Bären.«
»Vielen Dank. Wir gehen rein und sehen sie uns an.«
»Wenn ihr in einer Stunde noch nicht wieder draußen seid, ruf ich die Höhlenrettung«, sagte Thorpe.
Die Jungen verschwanden. Thorpe lachte, hustete und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Die Mulde war ein ziemlich sonniger Fleck, und die Wärme fühlte sich gut auf seiner Haut an. Vorübergehend konnte er sogar das ständige Ringen um Luft ignorieren. Sobald er diese Last aus seinen Gedanken verdrängt hatte, konnte er endlich wieder normal atmen. Kein Staub oder Gift ließ seine Lunge versagen, keine Löcher taten sich in seiner Brusthöhle auf. Er konnte mit Leichtigkeit einatmen, so wie alle anderen auch. Mehr wollte er nicht.
»Wussten Sie, dass sie so klein ist?«, rief eine Stimme.
Thorpe sah auf. Die beiden Jungen waren wieder aus der Höhle gekommen und wirkten enttäuscht. Dann gab es dort drin also keine Fledermäuse. Nur ein paar Quadratmeter feuchten Sandboden und eine mit Graffiti besprühte Felswand.
»Nein, das wusste ich nicht. Tut mir leid.«
Die Jungen glaubten ihm offenbar nicht. Doch Thorpe war der Ansicht, dass man in diesem Leben einige Dinge selbst herausfinden musste. Man musste aus Enttäuschungen lernen, denn später kamen noch größere auf einen zu.
Er sah den Jungen nach, als sie den felsigen Pfad hinunterkletterten und zurück nach Castleton marschierten. Was stand wohl als Nächstes auf dem Arbeitsblatt? Die Kirche, die Jugendherberge, die Schule?
In der Ferne hörte Thorpe einen Hammer auf Stein klopfen, die Pfeife eines Fußballschiedsrichters und das Geschnatter von Kindern auf dem Marktplatz. Er legte sich zurück ins Gras, ließ eine blaue Rauchwolke in den Himmel aufsteigen und schloss die Augen. Dann begann er, sich im warmen Sonnenlicht zu entspannen und war fast schon eingeschlafen, als Mansell Quinn ihn fand.