Читать книгу Der Rache dunkle Saat - Stephen Booth - Страница 14
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In Hathersage war Gala-Woche. Die Hauptstraße der Ortschaft war mit bunten Fahnen geschmückt, und ein auf dem Bürgersteig geparktes Wohnmobil war mit Plakaten beklebt, die die Ereignisse der Woche ankündigten. Cooper mochte Gemeinde-Galas. Er sah, dass sie das Konzert der Blaskapelle verpasst hatten, doch wenn sie bis Samstag warteten, konnten sie zum schottischen Unterhaltungsabend gehen oder beim Hügel-Rennen zusehen.
»Wir müssen in die Moorland Avenue«, sagte Diane Fry vom Rücksitz des Wagens. »Ich dachte, du kennst in dieser Gegend jede Stadt und jedes Dorf wie deine Westentasche, Ben.«
»Wenn wir irgendwo anhalten können, sehe ich auf der Karte nach.«
Aus irgendeinem Grund saß an diesem Morgen Gavin Murfin am Steuer. Er war nicht der weltbeste Autofahrer, da er dazu neigte, bei jeder Pommesbude, die er sah, abrupt zu bremsen. Aber vielleicht war es Frys Strategie, ihn vom Essen im Wagen abzuhalten, während sie unterwegs waren.
Murfin hielt am Straßenrand an. Einige Meter entfernt stiegen ein paar Dutzend weißhaarige Damen vor dem George Hotel aus einem Bus. Hathersage war heutzutage in erster Linie ein Touristenstopp auf dem Weg ins Hope Valley, und das Ortszentrum schien überwiegend aus Outdoor-Spezialgeschäften, Cafés und Kunsthandwerkläden zu bestehen. Cooper kurbelte das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen, doch es drang nur der Geruch von Kerzen und Aromatherapieölen in den Wagen. Und seltsamerweise der Gestank von Fisch.
»Denkt dran, dass wir die alte Mrs. Quinn wahrscheinlich mit Samthandschuhen anfassen müssen«, sagte Fry. »Jede Mutter ist davon überzeugt, dass ihr geliebter Sohn keiner Fliege was zuleide tun könnte.«
»In diesem Fall ist der geliebte Sohn allerdings ein verurteilter Mörder«, erwiderte Murfin und neigte dabei den Kopf, um ihr im Rückspiegel einen Blick zuzuwerfen.
»Das macht keinen Unterschied, Gavin. Dann ist sie eben der einzige Mensch auf der Welt, der den Mistkerl für unschuldig hält.«
Als Cooper sich nach der gesuchten Straße umsah, fielen ihm verschiedene Beispiele dafür ins Auge, was man seiner Ansicht nach als Gemeinde-Kunst hätte bezeichnen können. Ein Bushäuschen war zur »Hathersage-Reisemaschine« umgebaut und mit Rädern und Fotos exotischer Ziele dekoriert worden. Auf der anderen Straßenseite standen aus Karton ausgeschnittene Figuren an einer Gartenmauer aufgereiht. Sie erinnerten ihn an die Ziele auf dem Schießübungsplatz der Polizei. Dann sah er, dass einige der Menschen bei dem Bushäuschen in Wirklichkeit an einem Fisch-Verkaufswagen anstanden. Eine Schüssel unter der Heckklappe fing das tauende Eis auf, das den Fisch auf dem Weg vom Hafen von Grimsby an der Ostküste hierher frisch gehalten hatte.
»Kurbel das Fenster wieder hoch, Ben«, sagte Fry. »Hier stinkt’s nach Schellfisch.«
»Entschuldigung. Jetzt hab ich’s.«
Essen war in Gegenwart von Gavin Murfin ein gefährliches Thema. Cooper hatte bereits das indische Restaurant auf der anderen Straßenseite bemerkt. Ihm war nach Chicken Dhansak zumute, doch er behielt den Vorschlag für sich.
»Okay, ich hab’s«, sagte er. »Du musst umdrehen, Gavin.«
Enid Quinn wohnte in einer kleinen Siedlung in einer Nebenstraße der Mill Lane. Die alte Mühle war noch weitgehend intakt, wenngleich Holundersträucher aus ihrem Schornstein wuchsen. Cooper erinnerte sich, dass Hathersage einst eine Hochburg der Nadelindustrie gewesen war und Menschen aus der Region an den Schleifsteinen gearbeitet hatten, die ihre Lungen mit Stahlstaub verschmutzten. Inzwischen erinnerte man sich nur noch deshalb an diesen Industriezweig, weil die Bedingungen in den Mühlen zu einem Gesetz geführt hatten, das es verbot, Kinder als Schleifer einzustellen.
Das ursprüngliche Mill Cottage stand zwischen Steintrögen, die mit Geranien bepflanzt waren. An seinen Wänden wuchsen Kletterrosen, deren rosafarbene und gelbe Blütenblätter auf einen mit Steinplatten gepflasterten Weg fielen. Eschen wogten und knarrten in der Brise, während ein Zug mit Zement-Wagons über eine Eisenbahnbrücke aus dem neunzehnten Jahrhundert rumpelte.
Und dann gab es dort noch die Moorland-Wohnsiedlung. Die Häuser waren nicht gerade neu – zumindest waren sie nicht in den letzten zwei Jahrzehnten erbaut worden. Somit gab es die Siedlung schon fast Coopers ganzes Leben lang, ohne dass er etwas von ihrer Existenz geahnt hätte. Bislang hatte er von Hathersage nur das gesehen, was auch die Touristen besichtigten: die historischen Gebäude, den Kirchturm, die Sandsteingrate in der Ferne.
»Sieht so aus, als wären wir hier in einer Eigenheimgegend«, sagte Murfin.
»Woher willst du das wissen?«
»Die ersten beiden Häuser hatten Mansardenfenster. Im sozialen Wohnungsbau sieht man so etwas nicht.«
Im Führerhaus eines Pritschenwagens, dessen Tür mit dem Namen einer Hausverwaltungsfirma beschriftet war, saß ein Mann im blauen Overall und rauchte eine Zigarette. Murfin hatte Recht: Die Siedlung bestand heutzutage sicher nur noch zum Teil aus Sozialwohnungen, wenn überhaupt. Höchstwahrscheinlich hatten viele der Bewohner ihre mit Zement verputzten Doppelhaushälften in den 1980er-Jahren gekauft, als die Eigenheimförderung der Regierung in Kraft trat.
Sie parkten neben einer Grasfläche an der Moorland Avenue, und Murfin blieb beim Wagen, während Fry und Cooper auf Hausnummer 14 zugingen. Als Cooper klingelte, betrachtete Fry verwundert ein Zier-Schwein, das neben der Eingangsstufe hockte. Sie verpasste ihm vorsichtig einen Fußtritt, um herauszufinden, woraus es bestand. Es rührte sich nicht vom Fleck.
»Zement«, sagte Cooper.
Da niemand auf die Türklingel reagierte, klopfte er. Sein Klopfen erzeugte ein hohles Geräusch, das im ganzen Haus widerhallte.
»Sieht nicht so aus, als wär sie zu Hause«, rief Murfin, der die Fenster beobachtet hatte.
»Vielen Dank, Gavin«, sagte Fry. »Wir werden uns mal umsehen, da wir schon hier sind. Ben, warum siehst du nicht mal unter der Pergola neben dem Haus nach?«
Cooper blickte in die Richtung, in die sie deutete. »Laubengang nennen wir das hier.«
Der Laubengang führte am Garten von Nummer 14 entlang und an einer Reihe von Häusern vorbei, die im rechten Winkel dazu standen. In einige der Gebäude war Geld investiert worden: Vordächer waren angebaut, und Einfahrten waren angelegt worden. Unter den Dachvorsprüngen befanden sich Satellitenschüsseln. Hier gab es eine Wunschbrunnen-Attrappe, dort ein paar gepflasterte Quadratmeter als Wohnwagenstellplatz.
Cooper konnte von hier aus in Mrs. Quinns Garten sehen. In den Blumenbeeten standen weitere Zierfiguren aus Beton: Eichhörnchen, Hasen, ein Dachs, ein Otter und ein riesiger Frosch. Der Weg endete fast unmittelbar gegenüber vom Bahnhof. Auf dem langen Abhang in Richtung Surprise View im Osten sah er Hathersage Booths und Throstle Nest.
Als er sich umdrehte, um zurückzugehen, bemerkte er, dass Fry ihn zu sich winkte. Ein Streifenwagen hatte angehalten, und zwei uniformierte Polizisten bezogen vor Nummer 14 Stellung. Sie würden bald eine Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
»Gavin hat mit einer Nachbarin gesprochen«, sagte Fry. »Sie hat gesagt, dass Mrs. Quinn am Dienstagvormittag immer das Grab ihres Mannes pflegt. Ihr beiden könnt ja zur Kirche hinaufgehen und sie suchen. Ich unterhalte mich inzwischen mit den Nachbarn. Ich nehme an, du kennst den Weg, Ben.«
Nachdem Diane Fry Cooper und Murfin losgeworden war, ließ sie die beiden Polizisten am Tor zu Nummer 14 stehen und brachte einige Zeit damit zu, mit jedem zu sprechen, den sie in der Moorland Avenue zu Hause antraf, wobei sie ein Portraitfoto von Mansell Quinn in Verwahrungshaft benutzte, um Erinnerungen wachzurufen.
Sie fand zwei Anwohner, die sich aufgrund des Mordfalls von 1990 an Quinn erinnerten, doch beide versicherten ihr voller Überzeugung, dass er im Gefängnis sei und dort für den Rest seines Lebens bleiben werde. Es war erstaunlich, wie sicher sich gesetzestreue Bürger waren, dass lebenslänglich auch tatsächlich lebenslänglich bedeutete. Nach all den Jahren doppelzüngigen Geredes glaubten sie noch immer, dass die Bedeutung eines Wortes dieselbe war wie diejenige, die im Wörterbuch stand. Doch Fry wusste es besser. Im Polizeidienst lebten sie in Orwells 1984, und zwar seit … na ja, mindestens seit den 1990er-Jahren.
Plötzlich verspürte sie ein starkes Bedürfnis zu wissen, was Angie gerade tat. Als sie am Morgen ihre Wohnung verlassen hatte, wollte ihre Schwester spazieren gehen oder einen Bus in die Stadt nehmen, um sich dort umzusehen. Doch sie hatte nur davon gesprochen. Angie hatte halb bekleidet mit angezogenen Knien im Sessel gesessen und sich die Zehennägel lackiert. Sie hatte verschlafen ausgesehen, ja sogar zufrieden, was natürlich nur daran gelegen hatte, dass sie noch nicht lange wach war.
Angie hatte von Anfang an darauf beharrt, dass sie jetzt clean sei, weil sie in Sheffield eine Entziehungskur hinter sich gebracht hatte. Doch Misstrauen war eine Gewohnheit, mit der sich nur schwer brechen ließ. Fry fühlte sich jedes Mal schuldig, wenn sie sich dabei ertappte, wie sie das Verhalten ihrer Schwester nach Anzeichen für Euphorie, Schläfrigkeit, Artikulationsschwierigkeiten oder Unaufmerksamkeit überprüfte, oder wenn sie feststellte, dass sie Angie nicht in die Augen sehen konnte, ohne nach verengten Pupillen Ausschau zu halten.
Obwohl Fry Abhängigkeit verabscheute, versetzte sie der Gedanke, ihre Schwester unter Entzugserscheinungen leiden sehen zu müssen, wenn sie auf einen Schuss verzichten musste, in Angst und Schrecken. Die Tatsache, dass Angie ihr eigenes Fleisch und Blut war, machte einen Unterschied, der jeder Logik widersprach. In gewisser Weise hätte Fry lieber Anzeichen dafür bemerkt, dass ihre Schwester nach wie vor Drogen nahm, als sie in dem Zustand sehen zu müssen, den sie bereits bei Abhängigen auf Entzug beobachtet hatte. Sie hatte viele von ihnen gesehen, sowohl damals in Birmingham als auch in den Verwahrungszellen in der West Street. Binnen weniger Stunden nach ihrer Verhaftung verfielen sie von Ruhelosigkeit in Depressionen, litten unter Erbrechen, Durchfall und Muskelkrämpfen und bekamen Schüttelfrost oder Schweißausbrüche. Und dann fingen sie an, nach Methadon zu schreien. Schmerzlinderung ohne Rauschzustand.
Fry wählte ihre Festnetznummer zu Hause, doch schließlich ertönte ihre eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter. Das hieß nicht, dass Angie nicht da war – vielleicht hatte sie einfach keine Lust, ans Telefon zu gehen. Schade, dass sie kein eigenes Handy hatte. Einen Moment lang dachte Fry darüber nach, ihr eines zu kaufen. Sie ging davon aus, dass es kein Problem wäre, ein zusätzliches Gerät auf ihren Vertrag anzumelden. Doch damit würde sie ihre Schwester behandeln wie ein Kind.
Fry ertappte sich dabei, dass sie sich wie eine neurotische Mutter das Schlimmste ausmalte: Dass Angie noch immer im Sessel in der Grosvenor Avenue saß, auf einem Stück Aluminiumfolie weißes Pulver erhitzte und die Dämpfe durch ein Röhrchen inhalierte. »Blech rauchen« oder »chinesen« – sagte man noch immer so dazu? Natürlich gab es in Edendale wie in jeder englischen Stadt Drogendealer, die ihre Ware zum Verkauf auf der Straße mit Glukose, Mehl, Kreide oder sogar Talkumpuder streckten. Doch im Zuständigkeitsbereich der E-Division spielten sie keine so große Rolle und waren sie nicht so gut organisiert wie in den Großstädten, wo vor kurzem asiatische Banden Einzug gehalten hatten, um mit den Osteuropäern zu konkurrieren.
Angie mochte zwar inzwischen clean sein, doch was Fry am meisten beunruhigte, war die Frage, woher ihre Schwester hundert Pfund pro Tag oder mehr bekommen hatte, um ihrer Sucht zu frönen. Und von wem sie sich den Stoff besorgt hatte.
Ben Cooper stand vor dem Grab und las die Inschrift: Hier ruht in Frieden … begann sie. Allerdings lauteten so fast alle Inschriften. Doch stimmte es in diesem Fall auch?
Alte Friedhöfe hatten nach Coopers Empfinden immer etwas Geschichtsträchtiges. Das lag an der Vorstellung, dass etliche Generationen derselben Familien gemeinsam unter seinen Füßen verwesten. Die Grabsteine um ihn verrieten, dass hier im Lauf der Jahrhunderte Dutzende von Eyres und Thorpes, Proctors und Fieldings begraben worden waren.
Die Church of St. Michael and All Angels stand hoch über Hathersage neben einem Erdwall, den dänische Eroberer errichtet hatten. Ein Energieversorgungsunternehmen hatte vor den Toren der Kirche ein Loch in die Straße gegraben, und es hatte stark nach Gas gerochen, als sie aus dem Wagen gestiegen waren. Wenigstens konnte man hier oben mobil telefonieren. In vielen Gegenden des Hope Valley hatte man nie Empfang.
Murfin hatte ein Schinkensandwich aus der Tasche hervorgeholt. Er ließ einige Krümel auf das Grab fallen wie ein trauernder Angehöriger, der bei einer Beerdigung die erste Hand voll Erde verstreut, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Inschrift auf dem Grabstein fiel aus der Reihe: Hier ruht Little John, der Freund und Lieutenant von Robin Hood.
»Gibt es dafür irgendwelche Beweise?«, witzelte Murfin. »Ich meine, wurde eine DNA-Untersuchung gemacht?«
Zwischen den neueren Gräbern auf der Westseite der Kirche sahen sie eine Frau mit kurzem blonden Haar im roten T-Shirt. Sie trug gelbe Gummihandschuhe und kehrte einen Grabstein mit etwas ab, das aussah wie ein Kaminbesen. Hin und wieder bückte sie sich, um Unkraut zu jäten.
»Bist du sicher, dass sie das ist?«, wollte Murfin wissen.
»Sonst ist niemand hier. Und die Beschreibung der Nachbarn passt auf sie.«
»Okay, dann unterhalten wir uns mit ihr.«
»Nein, wir sollten warten, bis sie fertig ist«, sagte Cooper.
»Warum?«
»Sie pflegt das Grab ihres Mannes, Gavin.«
»Stimmt. Und du möchtest sie nicht stören, während sie sich amüsiert. Ich nehme an, sie wird jeden Moment anfangen zu singen und einen kleinen Tanz aufführen.«
»Gavin …«
»Ja?«
»Hast du zurzeit zufällig Eheprobleme?«
»Probleme? Nein, alles läuft nach Plan. Ich werd in ein oder zwei Jahren ins Gras beißen, und Jean und die Kinder werden die Versicherungssumme kassieren. Dann sind alle zufrieden.«
Die Frau im roten T-Shirt richtete sich auf, wischte sich die Hände ab und ging zwischen den Grabsteinen hindurch. Von vorn sah man ihr eher an, dass sie auf die siebzig zugehen musste.
»Wer von uns führt die Unterhaltung?«, erkundigte sich Murfin.
»Ich glaube, das mache lieber ich. Könnte sein, dass man vorsichtig mit ihr umgehen muss.«
»Das dachte ich mir auch.«
Als die Frau näher kam, warf sie den beiden Polizisten einen Blick zu, da sie vermutlich gemerkt hatte, dass sie von ihnen beobachtet worden war. Sie trug eine Plastiktüte mit ihren Handschuhen und ihrem Besen und war nur wenige Schritte entfernt, als Cooper eine Hand hob, um sie aufzuhalten.
»Entschuldigung. Mrs. Enid Quinn?«
»Kann ich Ihnen helfen?«
Cooper zeigte ihr seine Dienstmarke. »Detective Constable Cooper und Detective Constable Murfin, Kriminalpolizei Edendale. Wir müssen uns unbedingt mit Ihnen unterhalten, Mrs. Quinn. Sie waren telefonisch nicht erreichbar.«
Enid Quinn war eine schlanke Frau mit blasser Haut, die wie liniertes Pergament aussah. Sie blickte mit einem ironischen und zugleich resignierten Lächeln zu Cooper auf.
»Polizei? Tja, ich frage mich, worüber Sie sich wohl mit mir unterhalten möchten«, sagte sie.
Enid Quinn bat Ben Cooper und Diane Fry in ihr Wohnzimmer. Im Haus ließ ihr rotes T-Shirt sie noch blasser aussehen. Sie nahm auf einem Sofa Platz, faltete die Hände auf den Knien und lauschte Murfin, der zusammen mit den beiden uniformierten Polizisten ihre Treppe hinauftrampelte.
»Habe ich Ihnen irgendetwas zu sagen?«, erkundigte sie sich.
»Wir hoffen auf Ihre Kooperation, Mrs. Quinn«, sagte Fry.
Die Frau schielte auf Coopers Notizbuch. »Mein Sohn ist nicht hier.«
»Wo ist er dann?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Tut mir leid.«
»Wenn Sie behaupten, Sie können es uns nicht sagen …?«, begann Fry.
»Ich meine damit, ich kann nicht. Ich weiß nicht, wo Mansell ist.«
»Ist er hier gewesen?«
Mrs. Quinn entfaltete die Hände und faltete sie umgekehrt wieder zusammen. Sie sah Fry unverwandt an. »Wann?«
»In den vergangenen vierundzwanzig Stunden vielleicht?«
»Nein.«
»Er hat Sie nicht besucht? Oder angerufen?«
»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Wir hoffen trotzdem, dass Sie vielleicht einige Vorschläge haben, wohin er unterwegs sein könnte. Hat er Freunde in dieser Gegend? Gibt es irgendeinen Ort, an dem er sich aufhalten könnte? Einen Ort, an dem er sich sicher fühlen würde?«
»Ich glaube nicht, dass er irgendwo in Sicherheit wäre«, erwiderte die Frau ruhig.
Cooper fiel auf, dass Mrs. Quinn einen leichten walisischen Dialekt hatte. Es war weniger die Art und Weise, wie sie die Wörter aussprach, sondern vielmehr die Intonation, die ungewohnte Satzmelodie.
»Haben Sie noch weitere Söhne oder Töchter?«, erkundigte sich Fry.
»Nein, Mansell ist mein einziges Kind.«
»Sonstige Verwandte in der Gegend?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind ursprünglich nicht aus Derbyshire. Sowohl meine Familie als auch die meines Mannes stammen aus Mid Wales.«
»Wir wissen von zwei Freunden Ihres Sohnes«, sagte Fry. »Raymond Proctor und William Thorpe.«
»Die Namen sind mir bekannt«, sagte Mrs. Quinn. »Das ist alles.«
»Können Sie uns irgendwelche anderen Freunde von ihm nennen?«
»Nein. Ich glaube, er hat keine Freunde mehr. Nicht in dieser Gegend. Ich weiß natürlich nicht, welche Bekanntschaften er im Gefängnis gemacht hat.«
Cooper schrieb nicht besonders viel in sein Notizbuch. Er sah die alte Dame mit ihrem blond gefärbten Haar an und dachte sich, dass sie fehl am Platz wirkte. Mrs. Quinn besaß eine Anmut, mit der sie besser in den großen Salon von Chatworth House oder einem der anderen herrschaftlichen Anwesen der Grafschaft Derbyshire gepasst hätte – darüber konnten selbst die Spaliere und Terrassen und Mansardenfenster der Siedlung nicht hinwegtäuschen.
»Waren Sie vorher bei der Kirche am Grab Ihres Mannes?«, erkundigte er sich.
»Sicher. Er ist schon vor vielen Jahren gestorben.«
»Bevor Ihr Sohn ins Gefängnis kam?«
»Ja, Gott sei Dank. Der Prozess hätte ihn umgebracht.«
Die unbewusste Ironie brachte Cooper so aus dem Konzept, dass er die nächste Frage vergaß, die er stellen wollte. Doch Fry nahm solche Dinge entweder nicht zur Kenntnis oder kümmerte sich nicht darum, da sie genau die richtige Frage parat hatte, als wären sie ein Mal mit ihren Gedanken im Einklang gewesen.
»Haben Sie Ihren Sohn oft im Gefängnis besucht, Mrs. Quinn?«
Die Hände bewegten sich abermals. Diesmal verschränkten sie sich nicht mehr, sondern zogen stattdessen am Saum des T-Shirts. Enid Quinns Hals war von der Sonneneinstrahlung auf dem Hügel oberhalb der Ortschaft leicht gerötet.
»Er ließ mir ab und zu eine Besuchserlaubnis zuschicken«, sagte sie. »Ich habe nicht immer davon Gebrauch gemacht.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.«
»Und was ist mit seiner Frau?«, fragte Fry.
»Rebecca? Was soll mit ihr sein?«
»War sie eine eifrige Gefängnisbesucherin?«
»Sie hat ihn ein paar Mal besucht, aber sie ging immer seltener hin und hörte schließlich ganz damit auf.«
»Warum hat sie Ihrer Meinung nach damit aufgehört, Mrs. Quinn?«
»Zuerst hat Rebecca gesagt, dass es zu schwierig wäre, mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinzukommen, und sie es sich nicht leisten könnte, mit dem Taxi zu fahren und im Hotel zu übernachten. Aber dann hat sie einen anderen Grund gehabt. Sie hat gesagt, sie könnte nicht mehr mit der Heuchelei weitermachen, nachdem Mansell hinter Gittern war.«
Cooper blickte auf und sah Gavin Murfin am vorderen Fenster vorbeigehen. Er winkte, zuckte mit den Schultern und signalisierte, dass er nach hinten um das Haus gehen wollte.
»Heuchelei? Mit welcher Heuchelei?«
Mrs. Quinn zuckte ganz leicht mit den Schultern, als wollte sie nur für einen bequemeren Sitz ihres T-Shirts sorgen. »Na ja, die Ehe«, sagte sie. »Sie wissen schon.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen, Mrs. Quinn.«
»Ich meine damit, dass sie sich nicht mehr die Mühe machen wollte, ihre Ehe aufrechtzuerhalten.«
»Ach so. Nicht, wenn das bedeutete, sich die Umstände zu machen, ihren Mann im Gefängnis zu besuchen?«
»Das ist richtig.«
»Und dann haben die beiden sich scheiden lassen.«
»Ich nehme an, sie konnte es nicht abwarten. So ist das eben heutzutage. Paare stehen nicht mehr zueinander, nicht mehr so wie zu meiner Zeit. Als wir unser Ehegelübde ablegten, zählte es noch etwas. Jetzt wird schon die Scheidung geplant, bevor die Konfettis zusammengekehrt sind. Meiner Ansicht nach ist das pure Scheinheiligkeit.«
»Sie halten also nicht viel von Ihrer ehemaligen Schwiegertochter?«
»Dazu bin ich doch nicht verpflichtet, oder?«
»Tja, nein …«
»Ich fand nicht, dass sie die Kinder besonders gut erzogen hat, wenn Sie die Wahrheit hören möchten.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Großeltern dieser Ansicht sind«, sagte Fry.
»Das mag sein. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass das der Grund dafür war, warum der Mord Simon so sehr aus der Bahn geworfen hat. Wenn er ein ausgeglicheneres, disziplinierteres Kind gewesen wäre, so wie seine Schwester, wäre es vielleicht anders gelaufen. Aber ihm wurde bereits mit fünfzehn erlaubt, auf die schiefe Bahn zu geraten. Er hatte den falschen Umgang und hat die Schule geschwänzt. Er hat sogar Alkohol getrunken.«
»Und Ihren Sohn traf an alledem überhaupt keine Schuld? Schließlich ist er Simons Vater.«
»Ich habe da meine eigenen Ansichten«, sagte Enid Quinn. »Ich weiß, wem ich die Schuld gebe.«
Fry hielt inne. Aus dem Augenwinkel sah Cooper, wie sie ihm unmerklich zunickte.
»Mrs. Quinn, die Exfrau Ihres Sohnes, Rebecca Quinn, wurde gestern Abend in ihrem Haus in Aston überfallen und ermordet«, sagte er.
Jetzt konnte Enid Quinn die Hände nicht mehr länger stillhalten. Nervös suchte sie in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch, das sie jedoch nicht benutzte, sondern nur in den Fingern verdrehte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Andrea hat mich heute Morgen angerufen. Das ist meine Enkelin. Sie hält noch immer den Kontakt zu mir aufrecht. Aber Mansell kann Rebecca das nicht angetan haben. Das würde er niemals tun.«
»Warum nicht?«
Als sie nicht antwortete, wurde Fry ungeduldig.
»Ihnen ist doch bewusst, dass wir diese Angelegenheit sehr ernst nehmen, Mrs. Quinn«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn, die Unschuld Ihres Sohnes zu beteuern. Er wurde von einem Gericht verurteilt und hat seine Haftstrafe verbüßt. Und wir sind der Meinung, dass er noch für weitere Menschen eine Gefahr darstellt. Wir müssen ihn finden.«
Mrs. Quinn schien die Fassung zurückzugewinnen.
»Ich wollte nicht Mansells Unschuld beteuern«, sagte sie. »Ganz im Gegenteil, ich bin ziemlich sicher, dass er für den Mord an Carol Proctor verantwortlich war.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Aber wissen Sie, das, was ich denke, wird meinen Sohn nicht davon abhalten, das zu suchen, was er will.«
»Und was ist das, Mrs. Quinn?«, fragte Fry.
»Vergeltung.«