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Montag, 12. Juli 2004

Heute war der Tag, an dem Detective Constable Ben Cooper sterben sollte. Der Einfachheit halber war er bereits tot. Seine Füße und Hände fühlten sich eiskalt an, als würde der Tod langsam an ihm nach oben kriechen und seinen Körper Zentimeter um Zentimeter einfordern.

Bereits seit einer halben Stunde war Cooper nicht mehr in der Lage, Arme und Beine zu bewegen, nicht einmal den Kopf. Schlammverschmierte Felsen füllten sein Blickfeld, und jede Spalte und jeder Vorsprung glitzerte feucht in den Lichtstrahlen, die in dem Gang hin und her schwenkten. Er konnte den Schlamm und Schweiß um sich riechen und das Plätschern von Wasser hören, das in dem beengten Raum widerhallte. Der Fels war so nah an seinem Gesicht, dass sein Atem darauf kondensierte und als Sprühnebel wieder auf ihn niederfiel. Er füllte ihm den Mund mit seinem Geschmack. Dem scharfen Geschmack von Stein.

Cooper hätte sich niemals vorstellen können, dass er sich so hilflos fühlen würde. Die Decke schien sich immer weiter zu ihm herabzusenken und drohte, ihm den Schädel zu zerquetschen. Er konnte das gewaltige Gewicht des Hügels förmlich spüren, das über ihm lastete. Eine winzige Bewegung der Erdkruste über Derbyshire, und Millionen Tonnen Fels würden ihn dort, wo er lag, unter sich begraben. Er würde zu Brei zerquetscht werden, reduziert zu einem unerklärlichen roten Fleck, über den sich künftige Geologen den Kopf zerbrechen konnten.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit, »dann erreichen wir das Devil’s Staircase, die ›Teufelstreppe‹.«

Dann verschwand das Licht von der Decke, und Cooper sah überhaupt nichts mehr. Einen Moment lang glaubte er, der Fels habe ihn bereits unter sich begraben, und geriet in Panik. Seine Lunge krampfte sich zusammen, als hätte er keinen Sauerstoff mehr zum Atmen gehabt.

Cooper merkte, wie er ruckartig nach hinten gekippt wurde, doch er war so fest verzurrt, dass er sich nicht bewegen konnte. Als er aus dieser Position nach oben blickte, sah er eine Traube von gelben PVC-Schutzanzügen im sporadischen Licht schimmern. Mehrere Lampen sorgten dafür, dass sie stellenweise von Helligkeit umgeben waren, und warfen ihre verzerrten Schatten auf Decken und Wände. Doch in der Dunkelheit waren keine Gesichter zu erkennen.

Er wurde abermals durchgerüttelt und hatte keinen Zweifel daran, dass die Trage irgendwann umkippen und er auf den Boden des Gangs fallen würde, wo er, hilflos im knietiefen schlammigen Wasser liegend, ertrinken würde. Und das würde das Ende seiner Karriere bei der Kriminalpolizei von Derbyshire bedeuten. So hatte er es sich nicht vorgestellt.

»Ich möchte bei Tageslicht sterben«, sagte er.

Doch niemand hörte ihm zu. Für die anderen war er bereits tot.

Detective Sergeant Diane Fry stolperte in die Mitte des Zimmers und trat verärgert um sich. Sie hatte sich noch nie für einen ordentlichen Menschen gehalten – dafür gab es zu viel Unordnung in ihrem Leben. Und in ihrer Wohnung herrschte weiß Gott Chaos; sie hätte durchaus mit den Studenten von gegenüber auf derselben Etage beim »Saustall des Jahres«-Wettbewerb konkurrieren können. Dass jedoch die Unordentlichkeit einer anderen Person Einzug bei ihr hielt, war eine völlig andere Sache, was sie jedes Mal aufs Neue zähneknirschend feststellte, wenn sie von einer Schicht nach Hause kam. Sie nahm es kaum zur Kenntnis, wenn ihre eigenen Kleidungsstücke auf dem Badezimmerboden herumlagen, doch schwarze Jeans mitten im Zimmer auf halbem Weg zum Wäschekorb vorzufinden, das erinnerte sie daran, dass sie nicht mehr allein war.

Frys Pager begann zu piepsen. Sie warf einen Blick auf die Nummer, nahm ihr Telefon vom Badewannenrand und wählte.

»DS Fry. Ja, Sir?«

Detective Inspector Paul Hitchens, ihr Boss bei der E-Division, saß an diesem Morgen bereits früh an seinem Schreibtisch. Trotzdem klang er alles andere als munter.

»Oh, Fry. Sind Sie schon auf dem Weg zur Arbeit?«

»Ich fahre jeden Moment los.«

»Okay.«

Fry lauschte erwartungsvoll, hörte allerdings nichts außer einem metallischen Surren im Hintergrund, das klang, als würde Hitchens irgendwelche Bauarbeiten in seinem Büro durchführen lassen.

»Gibt’s sonst noch was, Sir?«

»Oh, äh … Sagt Ihnen der Name Quinn etwas, Fry?«

»Quinn?«

»Mansell Quinn.«

»Tut mir leid, nein.«

»Nein. Nein, natürlich nicht.«

Hitchens klang, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Fry zog eine Grimasse und gestikulierte ungeduldig in Richtung Telefon, als hätte sie sich mittels Zeichensprache mit einem Schwachsinnigen verständigen müssen.

»Gut, würden Sie bitte in mein Büro kommen, bevor Sie irgendwas anderes machen, Fry?«

»Sicher, Sir.«

Fry zuckte mit den Schultern, als sie das Gespräch beendete. Es war wahrscheinlich nicht der Rede wert. Hitchens war einfach von der Rolle, so wie auch alle anderen in der E-Division. Aber sie sollte trotzdem lieber nicht zu spät kommen. Sie hatte keine Zeit, die Kleidungsstücke anderer Leute aufzuräumen.

Doch Moment. Sie warf einen genaueren Blick auf die Jeans auf dem Fußboden. Das war kein Kleidungsstück anderer Leute – das waren ihre eigenen Jeans, die sie erst vor zwei Wochen bei einem Einkaufsbummel im Meadowhall Centre in Sheffield gekauft hatte. Was die Sache noch schlimmer machte: Sie waren ein Trostkauf an einem Tag gewesen, an dem sie sich besonders niedergeschlagen gefühlt hatte. Sie hatte noch nicht einmal eine Gelegenheit gehabt, sie zu tragen.

»Angie!«

Sie erhielt keine Antwort aus dem Wohnzimmer, wo ihre Schwester in eine Bettdecke gewickelt auf dem Sofa lag. Die Wohnung war so klein, dass die Entfernung zwischen den Zimmern nur wenige Schritte betrug. Die Tatsache, dass ihre Schwester schlief, verärgerte Fry noch mehr.

»Angie!«

Sie hörte ein Stöhnen und das Quietschen der Couch, als ihre Schwester aufwachte und sich umdrehte. Fry sah auf die Uhr: Viertel nach acht. Sie sollte beten, dass auf dem Weg in die West Street nicht allzu starker Verkehr herrschte, sonst würde sie auf jeden Fall zu spät kommen.

Sie rief noch einmal, diesmal lauter. Dann hob sie die Jeans auf und versuchte, sie in ihre ursprüngliche Form zu falten, ehe sie sie auf den überquellenden Wäschekorb legte. Sie waren am Knie verknittert und abgewetzt, als wäre Angie damit auf dem Fußboden herumgekrochen. Jetzt konnte man sie trotz der stolzen Summe, die sie wegen des auf die Gesäßtasche gestickten Designer-Logos hingeblättert hatte, kaum noch tragen.

Fluchend machte sich Fry im Badezimmer zu schaffen, hob weitere Kleidungsstücke auf und stopfte sie in den Wäschekorb. Sie rettete ein Handtuch vom Boden der Badewanne und hängte es über die Stange. Sie zog die Vorhänge glatt, hob eine leere Zahnpastatube und eine Tampax-Verpackung auf und warf beides in den Abfalleimer mit Fußpedal. Sie feuchtete ein Tuch an und wischte Seifenspritzer vom Spiegel. Dabei erhaschte sie einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild und hielt inne. Was sie sah, gefiel ihr nicht.

»Was soll denn dieser Lärm?«

Angie stand nur mit einem langen T-Shirt bekleidet in der Tür, kratzte sich und beäugte ihre Schwester durch halb geschlossene Lider. Fry spürte beim Anblick der dünnen Beine ihrer Schwester Schuldgefühle in sich aufwallen.

»Nichts.«

»Was tust du denn da? Ich dachte schon, es brennt, oder ein Einbrecher ist da oder so was.«

»Nein. Entschuldige. Schlaf nur weiter, wenn du möchtest.«

Angie hustete. »Ich nehme an, jetzt bin ich wach. Gehst du weg, Schwester?«

»Ich hab heute Frühschicht.«

»Ach so. Also ich mach mir einen Kaffee. Möchtest du auch irgendwas?«

»Ich hab keine Zeit.«

Angie sah sich im Badezimmer um. »Du räumst auf? Kurz bevor du zur Arbeit gehst? Du solltest kürzertreten, Di. Du wirst noch einen Herzinfarkt bekommen, wenn du dich so stressen lässt.«

»Ja, schon recht.«

Angie sah sie verwundert an. »Du hast mich doch gerufen, oder? Da bin ich mir ganz sicher. Was wolltest du denn?«

»Nichts«, sagte Fry. »Spielt keine Rolle. Geh einfach, und mach dir deinen Kaffee.«

Angie drehte sich um. »Ich bin mir sicher, dass ich gehört hab, wie du mich gerufen hast«, sagte sie. »Du hast dich ganz genauso angehört wie Ma.«

Fry ließ das feuchte Tuch fallen und lehnte sich einen Moment lang gegen das Waschbecken. Sie lauschte dem platschenden Geräusch, als Angie barfuß über die abgenutzten Fliesen im Flur davonschlurfte. Fry hielt den Kopf gesenkt. Sie wollte sich auf keinen Fall noch einmal selbst im Spiegel sehen. Sie wollte nicht mit den Erinnerungen konfrontiert werden, die für einen kurzen Augenblick im Spiegelbild ihrer Augen, der harten Züge um ihren Mund und der auf ihrer Stirn eingegrabenen Sorgenfalten sichtbar gewesen waren.

Widerwillig sah sie auf die Uhr. Sie musste los, sonst würde sie zu spät kommen, und sie konnte es sich nicht leisten, zu spät zu kommen, wenn sie Typen wie Ben Cooper und Gavin Murfin ein Vorbild sein wollte, die im Handumdrehen in ihre eigene Richtung abwanderten, wenn sie kein Auge auf sie warf.

Fry ging ins Schlafzimmer, um ihre Jacke zu holen, die hinter der Tür hing. Missmutig nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Hand zitterte, als sie die Küche betrat. Angie saß am Tisch und betrachtete ihre Fingernägel.

»Angie, was wolltest du damit gerade sagen …?«

»Womit?«

»Als du Ma erwähnt hast. Was wolltest du damit sagen?«

Angie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich gar nichts.«

»Aber …« Fry hielt niedergeschlagen inne. »Ich muss los.«

Sie ging die breite Treppe mit den ausgetretenen Stufen hinunter und verließ das Haus durch die Hintertür. Die Grosvenor Avenue Nummer 12 war eine von mehreren freistehenden viktorianischen Villen in der baumgesäumten Straße, und ihre Eingangstür schmiegte sich in einen nachempfundenen Säulengang. Hinter dem Haus befand sich eine Stellfläche, wo Fry ihren Peugeot parken konnte. Sie war froh, dass sie den Wagen nicht auf der Straße stehen lassen musste, vor allem dann, wenn sie nachts im Bett lag und Betrunkene vorbeigehen hörte.

Fry kurbelte die Fenster herunter, um Luft ins Auto zu lassen. Womöglich würde das einer der wenigen Tage im Jahr werden, an denen sie sich wünschte, sie hätte eine Klimaanlage. Sie steckte ihr Mobiltelefon im Zigarettenanzünder ein, um sicherzugehen, dass es vollständig geladen war, wenn sie in der West Street ankam. Dann fuhr sie bis zur Ecke Castleton Road und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Sie sah abermals auf die Uhr. Kurz vor halb neun. Vielleicht würde sie ja doch nicht zu spät kommen.

Ihr Gehirn war darauf geschult, von diesem Zeitpunkt an nur noch an die Arbeit zu denken und alles andere auszublenden. Wie üblich gab es eine Menge zu erledigen. Heute standen sowohl eine Sitzung zur Planung eines Einsatzes gegen den Missbrauch harter Drogen sowie eine Besprechung zu einem langwierigen Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung auf der Tagesordnung. Außerdem mussten die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden nach Priorität eingestuft werden.

Dann runzelte Fry die Stirn. Sie hasste es, den Tag mit Unannehmlichkeiten beginnen zu müssen, die sie nicht einordnen konnte. Und eine davon hatte ihr dieser Morgen bereits beschert, dank des Anrufs ihres Detective Inspectors. Wie lautete der Name, den er erwähnt hatte? Quinn? Sie konnte noch immer nichts damit anfangen. Doch diese Wissenslücke galt es zu schließen – wer, zum Teufel, war Mansell Quinn?

Sie schielte zu ihrem Telefon. Es gab einen Menschen, der es bestimmt wusste. Sie wollte nicht unbedingt mit ihm sprechen, wenn es sich vermeiden ließ, doch womöglich war es immer noch besser, als unwissend das Büro des Detective Inspectors zu betreten und sich damit eine Blöße zu geben. Ben Coopers Nummer war in ihrem Telefon gespeichert, als eines von hundert Kürzeln auf seiner Chipkarte, sodass sie seine Gegenwart ständig mit sich herumtrug wie eine Narbe.

Cooper war ihr vom ersten Augenblick an auf den Wecker gefallen, nachdem sie zur E-Division gestoßen war. Er hatte in ihrer Vergangenheit herumgestochert und all die Erinnerungen ausgegraben, derentwegen sie die West Midlands hinter sich gelassen hatte. Und dann auch noch die Sache mit ihrer Schwester. Warum hatte er sich in diese Angelegenheit einmischen müssen? Allerdings würde sie Cooper ganz bestimmt nicht die Genugtuung verschaffen, ihn zu fragen. Fry hielt es für ausgeschlossen, dass es dafür irgendeine annehmbare Erklärung geben konnte.

Sie suchte seine Nummer im Verzeichnis ihres Telefons, wählte sie und war bereit, am Straßenrand anzuhalten, falls er abheben sollte. Doch er war nicht erreichbar. Fry zog aus Frust eine Grimasse. Natürlich, Cooper hatte heute frei. Warum sollte er da nicht sein Telefon ausschalten und sich einen schönen Tag machen?

Wasser quoll aus der Decke. Einige Tropfen landeten auf seinem Gesicht und ließen ihn blinzeln. Ben Cooper versuchte, eine Hand zu bewegen, um sie fortzuwischen, aber seine Arme waren zu straff festgezurrt. Dann spürte er, wie er eine Schräge hinaufbefördert wurde, und sah eine größere Kammer, die mit künstlichem Licht beleuchtet war. Als sich der Eingang der Höhle über ihm auftat, war endlich eine Veränderung in der Lufttemperatur festzustellen und ein Schimmer Tageslicht zu erkennen, dann hörte er die schrillen Schreie von Dohlen.

Mit einem erschöpften Beifallsruf ließen die sechs Männer in ihren gelben Schutzanzügen die Trage fallen, die dumpf aufschlug. Coopers Kopf stieß gegen die Plastikabdeckung.

»Hey, ich bin ein Verunglückter, schon vergessen? Wo ist der Krankenwagen? Bekomme ich etwa keinen Krankenwagen?«

Kurz darauf kam einer der Männer zur Trage zurück.

»Tut mir leid, Ben. Aber Sie sind doch tot.«

»Mein Gott, wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich da einlasse, Alistair, hätte ich mich nicht freiwillig gemeldet. Eigentlich hab ich mich ja auch nicht freiwillig gemeldet – ich bin überredet worden.«

Alistair Page zog seine Handschuhe aus und beugte sich vor, um die Verschlüsse der Gurte zu öffnen. Er war noch immer von dem übel riechenden Schlamm besudelt, der den Boden der Höhlen bedeckte und von der Rettungsmannschaft in den gefluteten Gängen aufgewühlt worden war. Wie die übrigen Teilnehmer der Übung trug er Knie- und Ellbogenschoner, und an seinem Gürtel war eine schwere Werkzeugtasche befestigt.

Cooper versuchte, sich daran zu erinnern, welcher seiner Freunde ihn Page vorgestellt hatte. Wer auch immer es gewesen war, er hatte eine Rechnung mit ihm zu begleichen.

»Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass Sie unter Klaustrophobie leiden«, sagte Page. »Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät.«

»Bis vor einer Stunde war ich noch anderer Meinung. Aber ich hab sie geändert. Mir ist ziemlich übel.«

»Sie werden sich gleich wieder besser fühlen.«

Endlich war Cooper von der Trage befreit. Seine Beine fühlten sich taub an, und er musste auf und ab gehen und sie ausschütteln, bis das schmerzhafte Kribbeln einsetzte, das ein Anzeichen dafür war, dass seine Gliedmaßen wieder durchblutet wurden. Da er froh war, seine Muskeln wieder benutzen zu können, half er Page, ein Bündel Seile aufzuheben und in das Höhlenrettungsfahrzeug zu laden, einen alten Bedford-Lieferwagen, der sonst auf dem Gelände der Polizei von Edendale abgestellt war. Der Lieferwagen hätte längst ausgetauscht werden müssen, doch die Höhlenrettung von Derbyshire war eine ehrenamtliche Organisation, die sich ausschließlich durch Spenden finanzierte. Man hätte mehrere zehntausend Pfund beschaffen müssen, ehe ein neues Fahrzeug angeschafft werden konnte.

Das Krächzen der Dohlen ließ Cooper aufblicken. Die Vögel kreisten über dem nicht überdachten Hauptturm der Burg am östlichen Rand der Peak-Cavern-Schlucht, hüpften ruhelos von Baum zu Baum oder flatterten zu den Vorsprüngen in den Felswänden.

»Nisten sie auf diesen Vorsprüngen?«

»Ja. Wie auch manchmal Wildenten«, erwiderte Page. »Allerdings neigen deren Jungen dazu abzustürzen. Den Touristen gefällt das nicht besonders gut.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Cooper, der noch immer seinen Hals reckte. Schon allein den Kopf wieder bewegen und den Himmel sehen zu können war eine Erleichterung.

»Sie haben übrigens gute Arbeit dabei geleistet, tot zu sein. Vergessen Sie nicht, dass Sie dafür eine kostenlose Führung durch die Schauhöhle bekommen.«

»Ich komme morgen Nachmittag mit meinen beiden Nichten hierher. Ihre Sommerferien haben gerade begonnen, und ich hab ihnen einen Ausflug versprochen.«

»Sie können das Erlebnis verarbeiten, oder?«

»Wenigstens gibt es hier nicht viele echte Todesfälle.«

»In der Peak Cavern hat es bislang nur einen einzigen Toten gegeben. Das ist schon lange her. Und, na ja …« Page zögerte und blickte ängstlich über die Schulter zum Eingang der Höhle zurück, als habe er Geräusche aus der Dunkelheit vernommen, ohne sehen zu können, woher sie rührten. »Na ja, das war etwas anderes«, sagte er. »Das war etwas ganz Außergewöhnliches. Und es ist lange her.«

Einige Angehörige der Rettungsmannschaft brachten ihre Ausrüstung zurück zum Höhlenforscher-Clubhaus in Castleton. Page wohnte dagegen nur knapp zweihundert Meter entfernt in einem der Cottages, die entlang einer schmalen Gasse namens Lunnen’s Back den Hang erklommen.

»Ich bin morgen zwischen zehn und fünf hier«, sagte er. »Fragen Sie einfach nach mir, wenn Sie mich nicht finden.«

Da es unmöglich war, mit dem Auto auch nur in die Nähe des Eingangs zur Höhle zu fahren, hatte Cooper seinen Toyota auf dem Hauptparkplatz in der Nähe des neuen Besucherzentrums stehen lassen. Von dort aus konnte er eine lange Menschenkette sehen, die sich zum Peveril Castle hinaufschlängelte. Der Anstieg war zermürbend, und einige der älteren Touristen legten bei jeder Gelegenheit eine Pause ein. Dabei taten sie so, als bewunderten sie die Aussicht, während sie in Wahrheit die Schmerzen in ihren Knien linderten. Cooper war als Kind selbst einmal auf einem Schulausflug in Castleton gewesen. Während der Schulzeit waren die Straßen des Ortes voller Kinder mit Arbeitsunterlagen.

Auf dem Parkplatz wandte er das Gesicht zur Sonne und atmete tief durch. In diesem Augenblick konnte er sich nicht vorstellen, wer oder was ihm seinen freien Tag hätte vermiesen können.

Diane Fry klopfte an die Tür des Detective Inspectors und marschierte geradewegs in sein Büro in der West Street. Paul Hitchens saß zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte durchs Fenster über das Dach der Osttribüne des Edendale Football Club. Er bewegte sich fast gar nicht, als sie eintrat.

»Sir? Sie sagten, Sie wollten mich sehen.«

Hitchens schwieg eine Zeit lang, versunken in irgendwelche Gedanken, die er Fry nicht unterbrechen lassen wollte. Also wartete sie, bis er fertig war. Sie beobachtete, wie das Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, Schatten auf sein Gesicht warf, die ihn älter aussehen ließen als den Detective Inspector, den sie kennen gelernt hatte, als sie vor nicht allzu langer Zeit zur Polizei von Derbyshire versetzt worden war. Nachdem er sich mit einer Krankenschwester in Chesterfield häuslich niedergelassen hatte, war er beinahe über Nacht zu einem Mann mittleren Alters geworden, der damit beschäftigt war, die richtige Tapete für das Badezimmer auszusuchen und sich am Wochenende um seinen Rasen zu kümmern. Hitchens selbst hatte die Verwandlung offenbar ebenfalls wahrgenommen. Er war ein Mann, der dabei war, seinen Platz im Leben einzunehmen.

Jetzt fiel Fry allerdings auf, wie er die Narbe betastete, die über die mittleren Fingergelenke seiner linken Hand verlief, als erinnerte er sich an eine alte Verletzung.

»Ich hab mir sagen lassen, dass Mansell Quinn heute entlassen wird«, sagte Hitchens schließlich.

Fry spürte Verärgerung in sich aufwallen und kämpfte damit, sie für sich zu behalten. »Wer«, fragte sie, »ist Mansell Quinn?«

Der Detective Inspector drehte sich ein Stück mit seinem Sessel und sah Fry an, als wollte er nachprüfen, wer sie war. Sie hatte das Gefühl, dass er genau dasselbe gesagt hätte, wenn irgendjemand anderer in sein Büro gekommen wäre. Vielleicht hätte er diese Unterhaltung auch mit der Putzfrau geführt.

»Sie werden sich nicht mehr an ihn erinnern, Detective Sergeant Fry«, sagte er. »Quinn wurde vor etlichen Jahren wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hat in Castleton gewohnt, ein paar Meilen von hier im Hope Valley. Kennen Sie es?«

»Ein Touristennest, nicht wahr?«

»Eigentlich ein interessanter Ort. Ich war als Kind mal dort. Ich erinnere mich, dass ich vor allem von den Schafen beeindruckt war – sie sind bis mitten ins Ortszentrum heruntergekommen. Ich nehme an, sie waren auf Nahrungssuche. Ich hatte noch nie zuvor eines aus der Nähe gesehen.«

»Sir?«, warf Fry ein. »Sie haben von jemandem namens Quinn gesprochen …«

»Ja, Mansell Quinn.« Hitchens drehte seinen Sessel wieder zurück und sah zum Fenster hinaus. Sein Blick schien sich zu verlieren, als starrte er über Edendale hinweg ins weiter nördlich gelegene Umland – Richtung Hope Valley, am Rand des Dark Peak. »Tja, in Castleton ist es fast das ganze Jahr ruhig, wenn keine Touristen da sind. Die Leute kennen sich sehr gut. Der Fall Quinn hat für einen ganz schönen Aufruhr gesorgt. Es war ein ziemlich brutaler Mord – mit Blut auf dem Wohnzimmerteppich und so.«

Fry war nicht aufgefordert worden, sich zu setzen, deshalb lehnte sie sich stattdessen neben der Tür an die Wand.

»Ein Ehekrach?«

»Na ja, in gewisser Weise«, erwiderte Hitchens. »Die Sache war die, dass Quinn die Anschuldigung zunächst abstritt, sich dann bei der Verhandlung aber doch schuldig bekannte. Nachdem er eine Weile gesessen hatte, änderte er seine Meinung dann erneut. Er hat plötzlich behauptet, er hätte es doch nicht getan.«

»Ziemlich merkwürdig. Hat er Bewährung bekommen?«

»Nein.«

»Dann hat er es sich also selbst vermasselt. Der Bewährungsausschuss muss davon ausgegangen sein, dass er sich der Realität verschlossen hat.«

»Es ist nicht mehr so wie früher. Vorzeitige Entlassung hängt von der Beurteilung ab, ob man als potentielles Risiko eingestuft wird, und nicht davon, ob man das Gerichtsurteil akzeptiert hat oder nicht. Das Innenministerium macht heutzutage großes Aufhebens um die Frage, wie mit Lebenslänglichen zu verfahren ist.«

»Sie wurden dazu gezwungen, nicht wahr?«

»Das ist hier ein heikles Thema, Fry.«

»Entschuldigung.«

»Risikobewertung«, sagte Hitchens. »Darauf läuft es hinaus. Wir verstehen was von Risikobewertung, hab ich Recht?«

Fry nickte. Nur allzu oft bedeutete das, sich abzusichern. Es war ein Mittel zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten oder Schadenersatzzahlungen. Doch diesen Gedanken behielt sie für sich. Womöglich war der Detective Inspector anderer Meinung.

»Mansell Quinn hatte Probleme mit seinem Verhalten«, sagte Hitchens. »Er musste sich im Gefängnis einer Therapie unterziehen, um seine Wutausbrüche unter Kontrolle zu bringen.«

»Und er hat trotzdem keine Bewährung bekommen?«

»Nein. Quinn hat dreizehn Jahre und vier Monate abgesessen, bis zum automatischen Entlassungsdatum.« Hitchens drehte sich mit seinem Sessel ganz um und beugte sich über den Schreibtisch vor. »Und dieses Datum ist heute. Mansell Quinn hätte heute Morgen um halb neun seine Habseligkeiten abholen und das Gefängnis Ihrer Majestät in Sudbury verlassen sollen.« Hitchens sah auf die Uhr. »Also vor einer halben Stunde.«

»Und?«

»Quinn darf sich nur bedingt frei bewegen. Er muss sich vorübergehend in einem Wohnheim in Burton on Trent einquartieren und hat heute Nachmittag einen Termin mit seinem Bewährungshelfer. Eine der Bedingungen ist, dass er sich von dieser Gegend hier fernhält. Wir wurden gebeten, nach ihm Ausschau zu halten, falls er seine Auflagen missachtet.«

Fry zuckte mit den Schultern. »Und was ist, wenn er hier auftaucht? Häftlinge sind manchmal etwas überschwänglich vor Freude, wieder in Freiheit zu sein, und beschließen, das zu feiern. Vielleicht finden wir ihn ja in irgendeinem Pub, aber das hätte nichts zu bedeuten.«

»Vermutlich.«

Fry nahm Haltung an, um das Büro des Detective Inspectors zu verlassen. Doch dann zögerte sie, weil sie das Gefühl hatte, dass es noch etwas gab, was er ihr verschwiegen hatte.

»Wuttherapie? Dann würden Sie also sagen, dass Quinn ein gewalttätiger Mensch ist, Sir?«

»Daran besteht kein Zweifel«, entgegnete Hitchens. »Er hat eine lange Vorgeschichte, was tätliche Übergriffe anbelangt. Ziemlich am Anfang seiner Freiheitsstrafe wurden ihm jegliche Hafterleichterungen gestrichen, weil er einen Mithäftling angegriffen hatte. Er hat dem Mann den Arm gebrochen und ihm ein paar Zähne ausgeschlagen. Und er konnte nicht erklären, warum er es getan hatte. Oder wollte nicht.«

»Und was ist mit dem ursprünglichen Mord?«

»Na ja, am Tatort war jede Menge Blut. Es sah dort aus wie im Schlachthof. Niemand würde sich wünschen, dass sein Wohnzimmer so aussieht – und schon gar nicht in seinem hübschen neuen und geräumigen Einfamilienhaus in Castleton. Pindale Road, so lautete die Adresse.«

Fry lehnte sich mit einem Seufzen wieder gegen die Wand. »Was genau ist passiert?«

»Offenbar kam Quinn aus dem Pub nach Hause, wo er den ganzen Nachmittag mit seinen Freunden getrunken hatte. Es kam zum Streit, er verlor die Beherrschung, schnappte sich ein handliches Küchenmesser und … siehe da – eine Leiche auf dem Fußboden, Blut auf dem Teppich und der mutmaßliche Täter noch vor Ort, als ein Streifenwagen auf den Notruf reagiert. Schreckliche Szenen, als die Kinder nach Hause kommen. Sämtliche Nachbarn strecken den Kopf zur Tür hinaus, um zu sehen, was los ist, und im Weg zu sein. Das übliche Chaos. Das Opfer war bereits am Tatort tot. Es hatte zahlreiche Stichverletzungen am ganzen Körper.«

»Also ein ganz normaler Ehekrach«, sagte Fry, völlig irrational enttäuscht. »Einer wie tausend andere. Die Gründe für den Streit variieren zwar vielleicht ein wenig, aber die Wahl des Haushaltsgegenstands zeugt in der Regel nicht von viel Phantasie. Und es ist immer die Frau, die am Schluss tot auf dem Fußboden liegt.«

»Bis auf die Tatsache, dass es im Fall Quinn einen großen Unterschied gab.«

Fry hob den Kopf.

»Welchen?«

»Die Leiche auf Quinns Wohnzimmerfußboden«, sagte Hitchens, »war nicht die seiner Frau.«

Der Rache dunkle Saat

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