Читать книгу Mantel der Gerechtigkeit - Susanne Zwing - Страница 10

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Die Hand

Zuerst hörte er nur Stimmen.

Dann aber spürte er, wie ihn etwas am Kopf traf. Erschrocken versuchte er, es abzustreifen.

Da wieder. Stimmen! Näher!

Erneut traf ihn etwas Hartes.

Doch sein Mund ließ sich zu keinem Laut öffnen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Das kleine Fischerboot kam in sein Blickfeld. Er sah zwei dunkle Schatten im blendenden Gegenlicht, die wild fuchtelten. Sie hatten ihm ein festes Seil entgegengeworfen, immer und immer wieder. Aber erst jetzt sah er es. Er griff danach. Spürte sofort einen Zug. Und hielt fest. Er wurde zum Boot gezogen. Starke Arme packten ihn unsanft unter den Schultern und er glitt wie ein nasser Fisch über den Bug in die Mitte des Bootes. Dort blieb er inmitten des Fanges liegen.

Heftig atmete er aus und ein, bevor er die Augen öffnete. Die Schatten hatten sich zu ihm herabgebeugt und sprachen immerfort in einer ihm völlig unbekannten Sprache auf ihn ein.

Ein faltiges, sonnengebräuntes Gesicht über ihm nahm Konturen an. Der große sprechende Mund. Wild und zerzaust umrahmten die sonnengebleichten Haare das fremde Gesicht.

Langsam drehte er seinen Kopf zu der jüngeren Stimme. Ein braungebrannter Jungmännerkörper ragte vor ihm auf. Stolze, freudig strahlende Augen trafen die seinen.

Da erst ließ seine ganze Anspannung nach und er verzog sein Gesicht zu einem ebenso breiten Grinsen, wie das des Jünglings über ihm.

„Joško.“ Dabei hämmerte der Jüngling auf seine Brust. Sein Grinsen steigerte sich zu einem glucksenden Lachen.

„Joško, Joško“, wiederholte er und zeigte dann auf ihn. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich in Erwartung einer Antwort nach oben.

Er hatte ihn wohl verstanden. Aber seine Frage zu beantworten fiel ihm nicht leicht.

„C…“ Seine Zunge wollte ihm einfach nicht gehorchen. Die ältere Stimme befahl dem Jungen etwas. Dieser wandte sich um und angelte aus einem Korb einen ledernen Beutel. Vorsichtig löste er in dem schwankenden Boot den korkenen Stöpsel. Rasch ging sein Blick zu dem Älteren. Wahrscheinlich nickte er ihm zu, denn nun beugte er sich zu ihm herunter, um ihm die Öffnung an den Mund zu halten. Ein dicker Strahl Wassers ergoss sich ihm in den Mund. Er verschluckte sich daran und begann zu husten. Beim nächsten Versuch legte Joško ihm die Hand unter den Kopf und hob ihn etwas an. Kurz ließ er ihn schlucken. Eins ums andere Mal, bis er genug hatte.

Erneut versuchte er seine Zunge zu bewegen. Dieses Mal gehorchte sie ihm, wenn auch nicht so kräftig, wie normalerweise seine Stimme war.

„Cédric“, kam es schwach aus seinem Mund. Aber Joško verstand und lachte auf.

„Cédric“, wiederholte dieser und hatte offensichtlich Freude daran.

Cédric nickte.

Der junge Mann griff ihm unter die Schultern und gab ihm so zu verstehen, dass er sich aufrichten sollte. Das kleine Boot unter ihnen kam heftig ins Schaukeln, als Joško ihn auf die Bank im Bug zog. Ihm gegenüber nahm Joško seinen Platz ein und griff nach den Rudern. Mit gleichmäßigen Zügen zog er die Ruder durch das Wasser und sie näherten sich rasch dem Ufer.

Dieses hob sich wild zerklüftet aus dem Wasser. Sie steuerten eine kleine Bucht an, an deren Hang sich mehrere Häuser befanden. Zwischen den spitz aus dem Wasser ragenden Felsen lenkte Joško sie sicher hindurch. Die Bucht endete an einer kleinen Anlegestelle. Stufen waren dort aus dem Stein geschlagen und führten zu einem hölzernen Tor, das zwischen Fels und Mauerwerk eingebettet war. Eine aus dem Felsen gehauene Treppe führte zu dem höher gelegenen Haus. Joško und der Ältere halfen ihm aus dem Boot.

Sie brauchten nicht viele Worte, Cédric verstand auch so, was ihnen der Ältere bedeutete. Er sollte mit Joško mitgehen, während er selbst das Boot entlud und im Kellerraum hinter dem Tor ihren Fang versorgte.

Joško griff ihm herzhaft unter die Arme, sodass er sich auf ihn stützen konnte. Dankbar nahm er diese Hilfe an, denn der Boden schwankte bedenklich unter ihm. Noch ehe sie sich an die steilen Treppenstufen he-ranmachten, begrüßte sie eine aufgeregte Mädchenstimme von oben, die sich von der Terrasse oberhalb des Kellers zu ihnen herunterbeugte.

„Joško, koga bi?“

Cédric sah in zwei freudig aufblitzende Augen.

„Moja sestra!“, grinste ihn Joško mit einem verschwörerischen Lächeln an. Und schon war sie die Stufen hinuntergesprungen, um den seltsamen Fang ohne jede Scheu genauer zu begutachten. Von seiner einstigen Kleidung waren nur noch Fetzen der Hose übrig geblieben. Seine dunkel behaarte breite Brust verbarg die vielen Narben. Die dunkle verworrene Mähne gab ihm ein zusätzlich wildes Aussehen und stand im krassen Gegensatz zu dem ordentlich hell leuchtenden Zopf, der ihr lang geflochten über die Schultern nach vorne fiel.

Er überragte Joško kaum, obwohl dieser sicher noch nicht ausgewachsen war. Seine Muskelpakete waren dagegen deutlich mehr ausgeprägt und zeigten sein ausgereiftes Mannesalter. Er wusste, dass ihn die Frauen gerne betrachteten, und so störte er sich auch nicht an den neugierigen Blicken des Mädchens. Sie waren nie abgeneigt … Ein kurzer Schatten huschte über sein Gesicht.

Joško unterbrach ihr gegenseitiges Begutachten.

„Moja sestra“, wiederholte er.

„Mila“, kam sie schnell sprudelnd zuvor.

Mila, Joško. Nun war er wieder an der Reihe sich vorzustellen.

„Cédric.“

Mühelos sprach sie seinen Namen nach, wie schon ihr Bruder zuvor.

Der ältere Fischer – Cédric nahm an, dass es ihr Vater war – trat aus dem Dunkel des geöffneten Kellerraumes heraus und scheuchte sie nach oben.

„Dein Vater?“, fragte Cédric, an Joško gewandt.

Dieser nickte. „Da, moj otac.“

Langsam fand Cédric an dieser neuen Sprache Gefallen.

Sein Atem ging heftig, nachdem sie die engen Stufen zum Haus hinauf hinter sich hatten. Ein großer freier Platz, der in eine weitläufige offene Veranda überging, empfing ihn freundlich. Wie auch die Frau, die in ebendiesem Moment mit einer dampfenden Schüssel aus dem Haus trat. Sie nickte ihm zu, ging aber zuerst zu der langen hölzernen Tafel, auf dem sie ihre schwere Schüssel abstellte. Gleich darauf kam Mila, ebenso voll beladen mit einem Korb voller Brot, herausgestürmt. Sie schien immer zu „stürmen“, wie er amüsiert feststellte, denn ihre Mutter warf ihr einen ermahnenden Blick zu.

Joško hatte ihn inzwischen unter die überdachte Veranda geführt. Dort übernahm die Mutter das Kommando und zog ihn sachte auf einen großen, mit Kissen gepolsterten Stuhl. Cédric zögerte, weil er so schmutzig war. Aber sie spürte es sofort und nickte ihm auffordernd zu. Joško zuckte hinter dem Rücken seiner Mutter mit den Schultern und gab ihm so zu verstehen, dass er alles richtig machte, wenn er ihr gehorchte. Er kam um den Tisch herum und setzte sich neben ihn. Mila hatte inzwischen hölzerne Schalen und Löffel aus dem Innern des Hauses gebracht und setzte sich ebenso an den Tisch. Cédric gegenüber.

Weitere Kinder erschienen kreischend mit der Mutter und rasch war der Tisch gefüllt. Erschöpft ließ sich auch der Vater neben Cédric nieder. Als sie sich alle gesetzt hatten, wurde es eigentümlich ruhig. Niemand griff nach dem Essen. Cédric blickte erstaunt in die Runde und hielt den Atem an, als der Vater neben ihm leise die Stimme anhob. Sie wurde lauter und heftiger, um dann abrupt innezuhalten. Seine Frau führte das seltsame Selbstgespräch weiter, noch heftiger als er. Erst als sie geendet hatte, gab es ein allgemeines Aufhorchen und die Kinder begannen loszukichern. Ein jeder streckte seine Schale aus und die Mutter kam kaum nach, sie alle zu füllen. Nur hier und da warfen sie ihm einen neugierigen Blick zu. Aber nur so, als wären sie es gewohnt, fremde Gesichter am Tisch zu sehen. Selbst ein solch verwahrlostes, wie er es gerade bot. Nur Mila starrte ihn immerzu an.

Nachdem auch er und der Vater den ersten Hunger gestillt hatten, versuchte der Hausherr ein Gespräch.

„Bojan“, stellte er sich vor. Cédric nickte verstehend. Dann zeigte er auf seine Frau.

„Draga.“ Draga nickte ihm lächelnd zu, hatte aber mit den Kindern reichlich zu tun.

Mila hatte einen Riesenspaß, ihm Löffel und Schale unter die Nase zu halten, und gab nicht eher Ruhe, bis er ihr die seltsam klingenden Worte nachgesprochen hatte. Mit jedem Wort, das er ihr richtig nachsprach, fiel sie in einen Jubelschrei aus.

Die Dämmerung war inzwischen hereingebrochen und mehrere Kerzen wurden entzündet. Die Kleinen waren längst davongesprungen. Doch Bojan und Draga hatten anscheinend viel zu besprechen. Davon verstand er kein Wort. Und sie gaben sich auch nicht die Mühe ihm zu erklären, worum es ging. Joško wurde die Arbeit für den morgigen Tag erklärt, wie sich Cédric zusammenreimte. Mila schien nicht immer einverstanden zu sein mit dem, was man ihr auftrug. Mürrisch knurrte sie dazwischen und ihr Vater musste sie mehrfach ermahnen.

Draga wurde immer häufiger in ihrem Gespräch abgelenkt, als Cédric seine Erschöpfung nicht länger verbergen konnte. Sie warf Bojan einen auffordernden Blick zu.

„Kommt mit mir, mein junger Freund“, sagte Bojan, an Cédric gewandt. Bojan stand auf und nickte Cédric auffordernd zu. Mila sah seine Unsicherheit und stupste Cédric am Arm. Sie grinste ihn belustigt an.

„Du sollst mit ihm gehen.“ Dabei wies sie mit dem Kopf auf Bojan und stand ebenfalls auf.

Cédric versuchte genauso schnell aufzuhüpfen wie dieses junge Mädchen. Aber die letzten Tage forderten ihren Tribut und ein Ächzen entfuhr ihm ungewollt, als er begann seine schweren Gliedmaßen in Gang zu bringen. Mila grinste noch breiter, verwehrte sich aber jeden Kommentar, als der ernste Blick ihres Vaters sie traf.

Draga nahm ihre Tochter am Arm und gemeinsam gingen sie ins Hausinnere.

Bojan schnappte sich die Laterne vom Tisch und nach einem kurzen Zögern griff er auch nach dem Rest des Brotlaibes und dem Wasserkrug.

Aus dem hell erleuchteten Inneren trat Draga an die Türschwelle. In ihren Armen hielt sie ein Bündel sauberer Wäsche, das sie Cédric mit einem freundlichen Blick entgegenstreckte. Ehrlich dankbar nahm er es ihr ab und in seiner Sprache raunte er ein „Merci beaucoup“.

Bojan war inzwischen vorausgegangen. Ein nah gelegener Stall war sein Ziel. Durch die seitlich offene Stallung trat er ein und wartete dort auf Cédric. Das Brot und den Wasserkrug stellte er auf dem Arbeitstisch ab. Mit der Laterne wies er auf eine Leiter, die hinauf auf den Heuboden führte. Cédric verstand. Suchend schaute sich Bojan um, bis er fand, wonach er suchte. Einen sauberen hölzernen Eimer. Er bedeutete Cédric, ihm mit dem Eimer zu folgen. Dieser schnappte danach, legte sein Bündel ebenso auf den Arbeitstisch und sie gingen noch einmal hinaus ins Dunkle. Dort hielt Bojan am Wassertrog inne, der mit einer Handpumpe gefüllt werden konnte. Cédric stellte seinen Eimer darunter und fing an auf und ab zu pumpen, bis er zur Hälfte gefüllt war. Bojan nickte und sie gingen zurück in den Stall.

Bojan wartete noch, bis Cédric die Leiter hochgeklettert war, dann ging er mit der Laterne zurück zum Haus.

Mitten in der Nacht wachte Bojan auf. Das rasche Atmen Dragas zeigte ihm, dass auch sie nicht schlief.

„Horch, sein Schreien.“ Sie hörten es bis in ihre Kammer. Gemeinsam begannen sie für den fremden jungen Mann zu beten. Eine Weile noch lauschten sie in die Nacht hinaus, bis das Stöhnen und Aufschreien verebbt war. Erst dann fielen sie selbst wieder in einen tiefen Schlaf.

Cédric erwachte spät am nächsten Morgen. Er merkte es daran, dass die Sonne durch die Fugen an seiner Seite hindurchstrahlte. Erst jetzt hörte er das laute Muhen und Scharren der Tiere unter ihm. Wie tief hatte er geschlafen, dass er sogar das morgendliche Füttern überhört hatte? Er richtete sich auf und strich sich durch das wirre Haar. Die Erinnerung an seinen nächtlichen Alptraum kehrte zurück. Cédric hielt sich die Hände vor die Augen, um die quälenden Bilder von sich fernzuhalten. Aber sie kehrten immer und immer wieder zurück und peinigten ihn. Er stöhnte auf. Er hatte es nicht unter Kontrolle. Tagsüber fütterte er sich mit den Bildern des Tages, aber im Schlaf war er seiner Vergangenheit schutzlos ausgeliefert. Und sie erinnerte ihn an alles. Kein Detail verblasste, wie sehr er sich auch danach sehnte.

Er stand auf und streifte sich das Heu vom Körper. Schweißgebadet und innerlich ausgetrocknet erinnerte er sich an den vollgefüllten Eimer. „Draga und Bojan“, murmelte er sich die Namen vor. „Mila und Joško.“ Von den kleinen Kindern war es ihm entgangen, wie sie sich angeredet hatten.

Die letzten Sprossen der Leiter sprang er schon weit behänder als am vorigen Tag hinunter. Die schmutzigen Fetzen seiner verbliebenen Kleidung streifte er in einem Zug herunter. Er tauchte einen Teil davon ins Wasser und benutze es, um sich damit am ganzen Körper abzuwaschen. Mit dem noch trockenen Teil trocknete er sich notdürftig ab. Dann griff er nach dem Kleiderbündel, das ihm Draga gegeben hatte. Eine kurze Pumphose, in die er hineinschlüpfte und die so geschnitten war, dass sie jedem gepasst hätte. Mit dem dazugelegten einfachen Gürtel zog er sie an der Hüfte zusammen. Das ärmellose Obergewand war ebenso praktisch geschnitten, wie er mit einem Grinsen feststellte. Der leichte Leinenstoff fühlte sich frisch auf seiner Haut an und bei der warmen Luft war es ausreichend.

Hastig trank er aus dem Krug und löschte seinen Durst. Das Brot riss er sich entzwei und verschlang es schnell. Noch einmal trank er gierig, dann wagte er den Gang ins Freie. Er schaute sich um. Aus dem Haus hörte er die Stimmen der Kinder und Dragas. Zum Meer hin sah er Joško am Boot arbeiten.

„Cédric“, hörte er aus etwas Entfernung seinen Namen rufen. Er drehte sich in diese Richtung und sah Bojan, wie er ihn hinter das Haus heranwinkte. Dieser stand neben einem Steinhaufen und begutachtete seine Arbeit. Als er Cédric neben sich stehen wusste, zeigte er mit den Armen auf das Fundament, das er im Begriff war zu bauen. Er zeigte auf das bestehende Haus und sprach dabei die fremden Worte. Dann auf seinen Anbau. Cédric wiederholte die fremden Worte und Bojan lachte erfreut auf. Eingehend betrachtete Bojan seinen Haufen aus Steinen der unterschiedlichsten Größe. Dann wieder seine begonnene Fundamentmauer. Cédric beobachtete ihn. Auch als Bojan anfing, gezielt nach einem Stein zu greifen und ihn auf eine Lücke gekonnt platzierte. Aus einem Eimer verteilte er weiter Mörtel. Nun war es an Cédric, denn Bojan wies auf einen besonders großen, schweren Stein. Immer begleitet von einfachen Worten, die Cédric schnell verstand. Überrascht vom schweren Gewicht hievte er den Gesteinsbrocken auf die angegebene Stelle. Bojan wies ihn an, die gerade Seite nach außen zu drehen.

„Er muss ganz satt sitzen, sodass er nicht wackelt, wenn du darauf stehst.“ Bojan stand auf dem Stein. Er drehte ihn so lange leicht hin und her, bis er einen festen Sitz hatte. So ging es Stein für Stein weiter. Fasziniert über Bojans passgenauen Blick, fand er bald Gefallen an dieser Arbeit. Auch wenn sein Körper durchtrainiert war, schmerzten ihn bald die Arme.

„Lerne einzuschätzen, welcher Stein passgenau ist.“

Bojan schüttelte den Kopf, als Cédric seinen ersten Versuch allein machte. Seine Hand wies auf den Gesteinsverlauf und zeigte auf eine Stelle, die ähnlich spiegelbildlich war. Auffordernd sprach er weiter, ihn an diese Stelle zu setzen. Cédric spürte es, wie der Stein sich einpasste. Er rüttelte daran, stand selbst darauf und lachte zusammen mit Bojan über seinen Erfolg.

Viel zu schnell war der Haufen aufgebraucht.

Bojan führte ihn an eine Stelle im Wald, wo der Fels steil nach oben ragte und an dessen Fuß Geröll lag, das im Laufe der Zeit abgebrochen war. Mit der mitgeführten Karre fuhren sie ein um den anderen Stein zu ihrer Baustelle.

Mila wartete bereits auf sie.

„Mama sagt, ihr sollt zum Essen kommen und mal eine Pause machen.“

Das Wort Essen verstand er bereits und wiederholte es mit einer hungrigen Grimasse.

Wie am Abend zuvor versammelten sie sich im angenehmen Schatten der Terrasse. Es gab gebratenen Fisch, den sie vom vorigen Tag mitgebracht hatten, Käse und frisches Brot.

Alle ließen sich Zeit. Erst als sich alle satt und zufrieden zurücklehnten, begann Draga die Reste der Mahlzeit in ein Tuch einzuwickeln und in einem einfachen Beutel zu verstauen. Cedric überkam ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend. Packte sie sein Abschiedsmahl ein? Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm klar, dass er noch nicht von hier fort wollte. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er zuletzt solchen Frieden erlebt hatte wie hier. Bojan und Draga verschwanden wild gestikulierend im Haus. Mila blieb neben ihm sitzen und machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Vielmehr versuchte sie Cédric weitere Worte beizubringen, woran sie großen Gefallen hatte und auch eine erfolgreiche Lehrmeisterin war.

Erstaunt blickte er auf, als ihn Bojan ansprach. Er hatte nicht bemerkt, wie er zurückgekommen war. Noch erstaunter war er, Bojan in frischer Reisekleidung zu sehen. Unter dem Arm eine zusammengerollte Decke. In der anderen Hand eine hölzerne Truhe.

„Komm bitte mit, Cédric!“

Cédric warf Mila einen ungewissen Blick zu und trat auf Bojan zu. Dieser stellte seine Sachen auf dem Tisch ab. Dann gingen sie zurück zur Baustelle.

„Ich werde für ein paar Tage fort sein.“ Er wies auf den nahen Bergkamm.

„Baue du hier weiter, wie du es bei mir gesehen hast.“ Cédric glaubte nicht, was er da zu verstehen meinte. Sagte der Bauherr gerade zu ihm, er solle hier fortsetzen, was er erst am Morgen begonnen hatte zu lernen? Cédric suchte fassungslos Bojans Blick.

„Du hast schon richtig verstanden.“ Bojan nickte mehrmals, ging entlang der Fundamentmauer und bedeutete ihm, wo er weitermachen sollte. Mit einer Latte zeigte er ihm die Neigung, die das Fundament haben sollte und wie hoch die Mauer werden sollte.

Cédric war völlig überrumpelt. Bojan meinte es ernst. Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und grinste ihn schelmisch an. Offensichtlich hatte dieser Freude an der Überraschung Cédrics. Bedenken über Cedrics Fähigkeiten schien er keine zu haben.

Bojan ließ ihn dort zurück und ging selbst in den Stall, um sein Pferd zu satteln. Er führte es über den Platz, befestigte die Truhe, seinen Beutel und die Decke. Seine Frau umarmte er innig und drückte ihr einen endlos scheinenden Kuss auf die Lippen. Jedes seiner Kinder kam johlend zu ihm gerannt, um von ihm geherzt zu werden. Er stieg auf, drehte sich zu Cédric, um noch einmal festen Blickkontakt mit ihm aufzunehmen.

Es war Cédric, als sage er: „Ich weiß, dass du es kannst. Geh nicht fort, ehe ich zurück bin.“

Mantel der Gerechtigkeit

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