Читать книгу Mantel der Gerechtigkeit - Susanne Zwing - Страница 19
ОглавлениеVerfangen
Cédric wachte auf. Sein Hals kratzte, trocken vor Durst. Doch er wollte nicht aufstehen und zum Brunnen laufen.
Ein jaulendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Es war ganz in der Nähe. Also war er gar nicht von seinem Durst geweckt worden. Das Jaulen verwandelte sich in wimmernde Laute, er hörte auch ein leises Schlagen und Klopfen.
Cédric richtete sich in seinem Lager aus Heu auf. Er überlegte, wo sich die Fremden schlafen gelegt hatten und ob deren Tieren wohl eine Gefahr drohte. Nirgends regte sich etwas, nur das klagende, tierische Geräusch war zu hören.
Stöhnend richtete er sich ganz auf und schlüpfte in seine Hose, kletterte die Leiter hinunter und trat hinaus ins Freie. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch ein heller Schein am Horizont zeigte ihm, dass der Morgen nahe war. Er löschte seinen Durst am Brunnen. Horchte wieder nach der Richtung der jammernden Laute. Sie kamen von der Rückwand der Scheune. Vorsichtig näherte er sich der Scheunenwand und späte um die Ecke. Viel war nicht zu erkennen. Doch es bewegte sich etwas zuckend am Boden. Cédric ging langsam näher. Er starrte geradewegs in die Augen des angsterfüllten Tieres. Ein Fuchs. Verfangen im Netz. Er hatte es mitsamt der Aufhängung zu Boden gezogen und war in einem Knäuel hoffnungslos verstrickt.
Er machte einen Schritt darauf zu. Erschrocken fuhr er herum, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
„Warte, Cédric.“
„Bojan, du hast mich erschreckt! Ich habe dich nicht kommen hören.“
Bojan nickte und beobachtete das ruhiger werdende Tier.
„Sollen wir warten, bis der Fuchs verendet ist?“, fragte Cédric.
„Das kann Tage dauern. Und er wird kläglich verdursten.“
„Kommt er alleine wieder frei? Was meinst du, Bojan?“
„Nein, habe ich noch nie erlebt. Ohne unsere Hilfe wird das Tier verwickelt im Netz sterben.“
Bojan zog das scharfe Messer aus seiner Tasche, das er immer mit sich trug.
„Schneiden wir ihn heraus. Sei vorsichtig, Cédric. Sobald er sich wieder freier bewegen kann, wird er in wilder Angst um sich beißen. Halte du dort fest.“ Bojan wies auf das weit entfernte Ende des Netzes.
„Spanne etwas an.“
Bojan näherte sich in Zeitlupentempo dem Netz. Seine Bewegungen waren kaum wahrzunehmen. Er machte den ersten Schnitt durch sein Netz. Einen weiteren. Cédric starrte auf Bojans Hände. Kein Zögern lag darin, sein Netz in Stücke zu schneiden, um das Tier zu befreien. Kein Fluch oder bedauerndes Aufstöhnen.
„Sollten wir den Fuchs nicht töten? Er wird doch wieder kommen, um sich die Hühner zu holen.“
Bojan sprang zurück. Der Fuchs hatte seine Befreiung erkannt und konnte sich wieder mehr bewegen.
Cédric sprach nicht weiter. Er bemerkte Bojans Konzentration.
Mit zwei weiteren Schnitten zog Bojan das scharfe Messer durch das Netz.
„Der wird hier nicht mehr auftauchen.“
Zuerst verstand Cédric nicht.
Bojan blickte kurz zu Cédric auf.
„Gib acht jetzt!“
Erst als Cédric nickte, trat er noch einmal nahe ans Netz. Der Fuchs schnappte nun nach seinen letzten Fesseln.
Bojan beobachtete jede seiner Bewegungen genau, um den richtigen Moment abzupassen. Mit einem letzten beherzten Ruck setzte er noch einmal am Netz an und zog. Doch der Fuchs war ebenso schnell und schnappte nach der Hand. Bojan zuckte zurück.
Zu spät.
Sein Biss erwischte die Hand seines Befreiers.
Bojan schrie auf.
Der Fuchs erkannte seine Chance und ließ von Bojan ab. Er sprang auf seine befreiten Beine und unversehens war er im dunklen Gebüsch verschwunden.
Cédric eilte zu Bojan und besah sich dessen Hand, die er sich umfasste.
„War es das wert?“ Ungläubig starrte er auf Bojans Wunde.
„Er hatte nur Angst.“
„Aber er hat dich gebissen!“
„Ja, aber jetzt ist er frei.“
„Und dein Netz kaputt!“
„Das war der Preis.“
Bojan sah Cédric ruhig in die Augen.
Cédric schauderte.
Die nächsten Stunden wandelte er wie ein Beobachter umher. Es war ihm fremd. Dieses Leben, das er hier vorfand. Noch mehr Fremde kamen angeritten, um sich hier zu sammeln. Sie strahlten eine Freude aus, die er nicht kannte. Alle. Auch Mila bereitete sich vor. In ihrem Huschen zwischen dem inzwischen gefüllten Hof warf sie ihm immer wieder Blicke zu, die sein Herz wärmten. Es schmelzen ließen wie Wachs unter solch liebevollem Blick.
Cédric half, wo immer er sah, dass er mit anpacken konnte. Die getrockneten Fische wurden reichlich verpackt. Mehr als Proviant für zwei Tage notwendig war.
Sie standen kurz vor dem Aufbruch. Cédric räumte in die Scheune, was nicht mehr gebraucht wurde. Er spürte, wie jemand durch das geöffnete Tor trat, denn die Morgensonne, die hereinstrahlte, warf einen Schatten. Er spürte die Schritte, die näher kamen, und ahnte, wer es war.
Ein zartes Streicheln fuhr über sein Herz, was ihn überraschte, denn sie hatte ihn nicht berührt und nichts gesagt. Er schaute zu ihr auf. Sog die Luft ein. Mila stand nahe vor ihm. Ruhig strahlte sie ihn an. Wartete. Freudig, voller Spannung. In Vorfreude auf die Reise. Er richtete sich ganz auf. Sie sahen sich in die Augen, ohne zu sprechen. Sein Herz klopfte leise. Cédric streckte seine Hand nach der ihren aus und zog sie behutsam zur Seite, sodass sie von außen nicht gesehen werden konnten. Langsam zog er sie nahe zu sich heran. Sie ließen sich nicht los mit ihren Augen. Ebenso verbunden wie mit ihren Händen. Etwas brannte in seinem Herzen. Wie konnte ihm Mila so vertrauensvoll begegnen. Für ihn unverständlich. Es rief aber in ihm Dank hervor und der Wunsch, dieses Vertrauen wertvoll zu behandeln.
Sachte beugte er sich zu ihr. Spürte, sie wich nicht zurück. Zärtlich berührten sich ihre Lippen, lösten sich wieder voneinander. Nur um sich wieder in den Augen des anderen zu verlieren, zu lesen, was der andere dachte und empfand.
Mila löste sich aus Cédrics Händen. Umfasste sein Gesicht. Streichelnd fuhr sie seine kleinen Lachfältchen nach. Die Narbe, die sich an seiner Schläfe unter den Haaren verbarg. Als wolle sie sich jedes Detail einprägen.
Dieses Mal war es Mila, die sich seinen Lippen näherte. Sie schmeckte warm und weich. Er sog ihren Duft ein. Umfasste ihre Taille von beiden Seiten.
Wieder schauten sie sich an und ihm war abermals, als schmelze etwas Hartes in ihm. Wurde weich und fließe aus ihm heraus. Noch nie hatte ihn jemand mit so liebevoller Tiefe angesehen.
Sie hörten Dragas Ruf, der nach ihr suchte. Mila zuckte lächelnd zurück. Noch einmal drückte sie ihm kurz ihre Lippen auf die seinen. Ein letzter Druck ihrer Hände, die sich wieder voneinander lösten.
Cédric blieb reglos stehen und wusste nicht, wie ihm geschehen war. Tief atmete er durch und trat ins Freie hinaus. Bojans Blick hatte ihn gesucht. Froh, ihn gefunden zu haben, erkannte er ihn und trat ihm entgegen. Alle anderen saßen bereits in ihren Sätteln und beobachteten sie. Ihre Augen und Ohren waren still auf sie gerichtet.
„El Redi lagert einen Tagesritt entfernt. Eine wichtige Zusammenkunft erwartet uns dort. Draga und Mila sind sehr froh, dass sie dorthin mitgehen können. Ich vertraue dir und Joško meine Familie an.“
Er sah zu Joško. Cédric konnte nicht feststellen, ob er sich grämte zurückbleiben zu müssen. Die vier kleineren Geschwister sprangen um ihn herum und lachten, denn er scherzte mit ihnen. Cédric spürte den Stich von Neid. Es war offensichtlich, dass Joško einmal ein ebenso liebevoller Vater wie Bojan werden würde.
Cédrics Umgebung verschwand in hellem Nebel. Doch umfing ihn keine Kühle oder Nässe. Eine Wolke, die ihn herrlich und kraftvoll umgab. Nicht mit Regen schwanger, sondern mit einer Leichtigkeit, die ihn alles hoffen ließ.{9}
Bojan drehte sich zu Joško und seinen Kindern. Sie hatten sich bereits verabschiedet. Er winkte ihnen zu.
Unverhofft nahm er Cédric vor aller Augen in den Arm, als wäre er sein Sohn.
„In zwei Tagen sind wir zurück.“
Bojan schwang sich kraftvoll auf den Rücken seines Pferdes. Eine mächtige Gestalt, dem die ganze Gruppe vorbehaltlos folgte, als er seinem Pferd in die Flanken klopfte.
Als öffne sich die Wolke in die Welt außerhalb dieser Stimmung auf dem Hof, gab sie den Weg frei, den die Reiter ohne zu zögern wählten. Er war froh, dass ihm der aufgewirbelte Staub in die Augen kam und er seine Augen schützen musste. So konnte er die Tränen abwischen, die sich ohne sein Zutun freigemacht hatten.
Die Kinder stoben mit Joško davon. Hatten sie es nicht ebenso gespürt? Oder war es für sie Normalität, darin aufgewachsen und täglich lebend?