Читать книгу Mantel der Gerechtigkeit - Susanne Zwing - Страница 18

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Gefangen im Bann

Niemand gab erklärende Worte von sich. Was für Cédric ein Rätsel blieb, schien allen anderen offenbar.

Dennoch zog ihn etwas an, das er nicht benennen konnte. Und damit meinte er nicht nur Mila. Sein Verlangen sie zu küssen wurde von Tag zu Tag größer. Seine Lust führte ihn in so manchen Nächten in wilde Abenteuer mit ihr, in denen sie meist unbekleidet war. Doch während des Tages nahm er Joškos warnende Blicke wahr. Auch wenn sie nie darüber sprachen, Cédric verstand nur allzu gut: „Vergehe dich nicht an meiner kleinen Schwester!“, hießen sie.

Milas Blicke dagegen sprachen von ganz anderen Sehnsüchten. Wann immer sie sich unbeobachtet fühlten, suchte sie seine Nähe. Und er die ihre. Sie lachten zusammen und noch immer fand sie eine große Freude darin, ihm ihre Sprache beizubringen, auch wenn er sich bereits gut verständigen konnte und nahezu alles verstand.

Inzwischen hatte er nun schon mehrfach erlebt, wie sich immer wieder die verschiedensten Menschen hier sammelten. Auch heute waren Gäste zu erwarten, denn Draga hatte das Regiment übernommen und sie alle bei Sonnenaufgang ans Wasser hinab befohlen. Joško und Bojan waren eben von ihrem Fischfang zurückgekehrt.

In den gefüllten Netzen, die seitlich am Boot befestigt waren, zappelte die Beute.

Vater und Sohn strahlten, dank der reichen Beute, die sie gemacht hatten.

Eben vertäuten sie das Boot am Steg.

„Cédric, komm bitte hierher zu uns ins Wasser!“, rief ihm Bojan zu. Ohne zu zögern folgte er Bojans Anweisung.

„Mach es wie ich.“

Er griff ins Netz und packte mit einer raschen Bewegung einen zappelnden Fisch an der Schwanzwurzel, legte ihn auf das Holz und tötete den Fisch sofort mit einem Schlag auf den Kopf durch den Knüppel, den er in der anderen Hand hielt. Mit einem langen Messer schlitzte er den Fisch vom Kopf bis zum Schwanz auf, fasste ins Innere, um die Innereien zu packen, und warf diese ins Meer zurück. Den Fisch wusch er sauber im Wasser aus.

Nun galt es alle Fische aufzuschlitzen, die Innereien zu entfernen und die ausgenommenen Fische im Wasser zu säubern. Draga hatte eine salzige Gewürzmischung vorbereitet, die herrlich nach frischer Zitrone und duftenden Kräutern roch. Dennoch klebte der derbe Fischgeruch an Cédrics Händen. Auf dem engen Bootsanlegeplatz arbeiteten sie alle eng gedrängt aneinander. Cédric stand im Wasser, um die Fische auszuwaschen, und hatte einen guten Blick über die Familie. Nach und nach waren für ihn Fremde hinzugekommen und halfen routiniert bei der Arbeit mit.

Von seinem Platz im Wasser konnte er das dichte Treiben beobachten und auch Milas Blicke suchen, ohne dass es auffiel. Auch sie suchte den Blickkontakt zu ihm. Eifrig schnappte sie sich jeden ausgenommenen Fisch von Cédric, der kaum hinterherkam.

„Soll ich zu dir ins Wasser kommen und dir helfen?“, lachte sie ihm entgegen.

„Ja, mach doch. Komm rein!“ Grinsend lockte er Mila zu sich.

Wieder war eine Wanne gefüllt. Mila stellte sie an den Uferstein und stieg amüsiert mit ihrem Rock ins Wasser zu Cédric.

„Ist das auch erlaubt, was du da tust?“, fragte Cédric.

„Nun mach nicht lange und hilf mir.“ Mila vermied es, zu ihrer Mutter zu schauen. Sie hüpfte ins Wasser und trat an Cédrics Seite an das Netz. Selbstsicher griff sie hinein, warf einen schelmisch grinsenden Blick zu Cédric und sofort erkannte er an ihren geübten Bewegungen, dass sie schon oft hier gestanden hatte, und seine Bedenken verflogen.

Sie rückten so eng wie möglich aneinander. Scheinbar zufällig bewegten sich ihre Hände nahe beieinander und sie spürte seine Finger über ihre Hände streichen. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks ein sanftes Streicheln. Mila wandte ihren Blick nicht von ihrer Arbeit ab. Ein leichtes Lächeln zog über ihr Gesicht. Mühsam versuchte sie dennoch diese Berührung zu verbergen. Niemand sollte es bemerken.

Die Arbeit neigte sich dem Ende zu. Länger konnten sie es nicht hinausschieben und sie stiegen aus dem Wasser.

Sehnsüchtig verschlangen sich ihre Blicke.

Nur noch sie beide standen tropfnass am Ufer. Die anderen trugen gerade die Fische nach oben. Mila verschwand im dunklen Inneren des kleinen in Stein gemauerten Bootshauses, an dem sich auch die Vorratskammer anschloss.

Cédric huschte hinter ihr her und einen kurzen Moment mussten sich seine Augen an das Dunkle gewöhnen. Dann erst sah er Mila nahe bei sich stehen und ihn beobachten.

Cédric trat auf sie zu. Auch Mila machte einen Schritt zu ihm. Er beugte sich zu ihr, bis er ihre Nase spürte. Ihren Atem in sich aufnahm. Seine Lippen berührten die ihren. Nur für einen kurzen Moment. Weich und warm hatten sie sich berührt. Cédric erschauerte und öffnete seine Augen. Auch Mila sah ihn an.

„Noch einmal“, flüsterte sie.

Cédric wand sich kurz nach der Tür um und lauschte. Keine Bewegung. Kein Laut war zu hören. Er fuhr mit seinen Händen in ihre Haare, schmiegte sich an ihren Kopf und küsste sie sanft an ihren Hals. Dann schaute er sie wieder an. Langsam kam er ihren Lippen wieder nahe. Und dieses Mal trafen sie sich länger. Sie ruhten aufeinander. Keiner von ihnen wagte es, die Lippen zu öffnen. Sie trennten sich wieder voneinander, doch Mila kehrte rasch ein weiteres Mal zurück zu seinen Lippen. Genussvoll sog er ihre Nähe in sich auf. Dann löste er sich von ihr, huschte rasch hinaus und eilte die Treppen hinauf.

Dort schnappte er sich einen Korb mit den gesalzenen Fischen und trug ihn den anderen hinterher zu den Trocknungsgestellen. Zusammen steckten sie die Fische zum Trocknen auf die Hölzer. Dort würden sie Wind und Sonne rasch trocknen.

Joško stand ihm gegenüber, sehr langsam wurde der Fisch unter Joškos Händen von dem hölzernen Spieß durchbohrt. Genauso bohrend war der Blick Joškos, mit dem er Cédric bedachte. Cédric spürte augenblicklich, wie der bohrende Stachel sich wieder einmal in sein Herz drehte. Er hatte Joško nichts von seiner Vergangenheit verraten, dennoch schien er ihn zu warnen. Joško konnte nur ahnen, wie recht er damit hatte.

Cédrics Augen schwankten zu Bojan, der ebenfalls in ihre Richtung blickte und Joško zurückhielt mit einem Ausdruck, der besagte: „Bleib locker und ruhig.“

Seine Gedanken, die eben noch bei Milas Lippen gehangen hatten, wurden verdrängt von Bildern der Angst.

Er wollte keinen Ärger. Nicht hier. Er wollte nicht mehr in sein früheres Leben zurück und er wollte ein Leben führen, wie er es hier an Bojan sah. Aber es zog und zerrte überall in ihm und er wusste nicht, wie er je dahin kommen sollte, wo Bojan stand. Er spürte, wie alte Wut in ihm hochkam, die überhandnehmen wollte.

Schnell zog er sich in den Schatten des rückwärtigen Hauses zurück. Niemand folgte ihm. Er atmete tief durch und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Diese Familie hier hatte ihm nichts als Gutes erwiesen und er wollte nicht, dass seine alte menschenzerstörende Verachtung auf sie kam.

Langsam sackte er zusammen und ließ sich an der Wand zu Boden gleiten. Er spürte die Ameisen, die über ihn krochen und ihm schmerzende kleine Wunden hinterließen. Er sah die Spinne, die über ihn kroch. Aber er war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen.

Wieder und wieder stiegen alte Bilder in ihm hoch. Sie traten vor seine Augen und verursachten ihm Angst und Schmerzen. Die Bilder kamen, aber er konnte sie nicht einfach fortschicken. Manchmal waren sie gnädig und gingen, sobald er arbeitete. Doch nun waren sie hartnäckig.

Und sie lähmten ihn noch genauso wie an den Tagen, da sie gezeugt wurden. Die Geburt seiner schlimmen Taten raubte ihm seine Freiheit. Zurückerlangt hatte er sie bis zum heutigen Tag nicht. So erging es jedem, der mit ihm in den dunklen Machenschaften verstrickt gewesen war. Worüber sie stolperten, hatten sie längst nicht mehr erkannt.

Tag für Tag hatten sie sich versteckt, um sich in den dunkleren Stunden auf die zu stürzen, die allein unterwegs waren. Er und seine gottlosen Freunde hatten nicht eher nachgelassen, bis sie ihre bösen Taten vollbracht hatten. Doch der Schlaf hatte ihnen nie Ruhe gebracht.

Noch immer hörte er das Weinen und Klagen der Mütter, denen sie das Brot für ihre Familien gestohlen hatten. Ihre Lügen, die sie aufgetischt hatten, um eine Schlafunterkunft zu bekommen. Doch damit hatten sie sich nicht zufriedengegeben, sondern hatten sich an den Gütern der Hintergangenen auch noch bereichert und davongeschlichen, wie Diebe in der Nacht. Ja, er war ein Dieb und er hatte sich genommen, was er begehrt hatte, stets zu Gewalt bereit. Er hatte sich bereichert und sein Leben dabei verloren.{8}

Die energische Stimme Dragas drang zu ihm durch, als sie alle zum Frühstück rief. Die freudigen Stimmen der Kinder, der Fremden und Milas fröhliches Lachen mischten sich darunter. Cédric rührte sich nicht vom Fleck. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Sein Herz war zusammengezogen gleich einem verknoteten Fischernetz. Diese wurden zerschnitten und aufgetrennt, denn das Lösen war nahezu unmöglich.

Er spürte die Ausweglosigkeit seines verknoteten Herzens. Und mit ihm verkrampfte sich sein ganzer Körper. Er spürte die Anspannung, die ihm Schmerzen im Rumpf bereiteten. Das Atmen wurde ihm noch schwerer. War er dabei durchzudrehen?

Er hörte die unsichtbaren, ihn verhöhnenden Stimmen über ihm, vor ihm, in ihm. Stimmen, die nicht verschwanden, sondern lauter und lauter wurden.

Jammernde Laute entstiegen seiner Kehle, ohne dass er sich selbst hörte.

Er donnerte mit der Faust auf die Erde, stand auf. Jagte quer durch das dornige Gestrüpp Richtung Meer. Äste rissen ihm Kratzer in die Haut, von der beginnenden Tageshitze flimmerte ihm, doch er hielt nicht inne, bis er atemlos an der Klippe stand. Keuchend versuchte er Balance zu halten und nicht unvermutet hinabzustürzen.

Da entfuhr es ihm: „Gott! Wo bist du?“

Er schrie es über das Meer, donnernd, wütend, aufgebraust wie ein Sturm. Kein Widerhall. Nichts.

„Stürz dich hinab“, hörte er stattdessen, wie die alten Bilder seiner Schandtaten ihn versuchten.

„Geh fort aus dieser Welt“, quälten sie ihn.

Verzweiflung packte Cédric. Er schwankte. Ein Schritt. Zwei Schritte. Und die Stimmen derer, denen er Unrecht angetan hatte, wollten, dass er ihnen ins Unglück folgte, welches er ihnen angetan hatte. Es war seine gerechte Strafe, ihnen zu folgen.

Was hatte er nur getan?

Er kam nicht frei.

Cédric sank auf seine Knie.

„Hilf mir, du Gott dieser Familie. Hilf mir! Ich kenne dich nicht. Doch ich brauche Hilfe.“

Langsam wurde er ruhiger. Er hörte nun wieder die Wellen unter ihm gegen die Klippen schlagen. Die Bilder waren fort. Die Stimmen verstummt. Cédric atmete langsam aus und ein. Hatte der Ansturm ein Ende?

Langsam richtete er sich auf. Sein Magen meldete Hunger. Seine Kehle brannte vor Durst. Er nahm den ausgetretenen Pfad zurück zum Haus.

Längst hatten alle anderen ihr Morgenmahl beendet und Reisevorkehrungen wurden getroffen.

Bojan fand Cédric. Er trat zu ihm.

„Ich bin in zwei Tagen zurück.“ Er sagte es mit solchem Nachdruck, als bräuchte er diese Sicherheit.

Cédric nickte.

„Iss jetzt, Junge.“ Damit wandte er sich wieder seinen Aufgaben zu.

Auf dem Tisch fand er noch Brot und Käse, das er gierig verschlang. Am Brunnen hielt er seinen Mund direkt in den frisch aufsteigenden Wasserstrahl, der sein Gesicht kühlte. Niemand achtete weiter auf ihn. Er schnappte sich den Eimer, füllte ihn mit Wasser, um die Tiere zu versorgen. Noch einmal war er davongekommen und der Irrsinn hatte ihn nicht gepackt.

Er schaute auf. Alle waren sie voll Eifer bei ihrer Arbeit. Mila hatte innegehalten. Sie trug eine kleine Truhe zu den Packpferden und hielt ihn mit ihren klaren Augen fest. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Ein einziger Blick ihrer klaren Augen und in ihm stieg Hoffnung auf, dieselbe Klarheit zu erleben wie sie. Wie ihr Vater Bojan.

Mantel der Gerechtigkeit

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