Читать книгу Mantel der Gerechtigkeit - Susanne Zwing - Страница 11
ОглавлениеGefangen
Cédric verstand sich selbst nicht, als er am anderen Morgen bereits bei Sonnenaufgang vor der gemauerten Mauer stand und sie anstarrte. Er versuchte sich an alle Einzelheiten zu erinnern, die er gestern von Bojan verstanden hatte. Wenn er dessen Worte überhaupt richtig übersetzt hatte, verbesserte er sich. Was ihn aber irritierte, war, dass er diesen Bojan, den er erst einen Tag kannte, nicht enttäuschen wollte.
Gebannt starrte er auf die oberste Steinreihe und versuchte, sich die Formen einzuprägen. Dann wendete er sich, um die entsprechenden Gegenstücke zu finden. Bevor er den Mörtel anrührte, wollte er sicher sein, die passenden Steine parat zu haben.
Ein Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ein grausames Gesicht, das ihn verspottete. Verächtlich lachte die Grimasse über ihn, wie er hier Steine schleppte.
Cédric stöhnte auf und sah die Steine vor sich liegen, die sie gestern angehäuft hatten. Innerlich spürte er einen viel schwereren Haufen, den er angehäuft hatte. Diese Brocken konnte er bewegen, doch die in seinem Inneren nicht. Ebenso wenig den Berg an Pfandschulden, den er in einer längst vergangenen Welt auf sich geladen hatte. Und nie beglichen hatte.
Ein Lachen hinter ihm schreckte ihn auf. Er zitterte. Er brauchte eine Sekunde, bis er sich gefasst hatte. Die Schritte hatte er nicht kommen hören. Wieder höhnte die Stimme in seinem Inneren: „So plötzlich werde ich vor dir stehen, und du wirst bezahlen mit Zins und Zinseszins!“
Cédric graute. Schweiß trat ihm auf die Stirn, der nicht von der schweren Arbeit kam. Denn es war noch früh am Morgen und die Luft frisch und angenehm.
Es war Milas Stimme, die ihn nun ansprach. Sich den Schweiß von der Stirn wischend, drehte er sich um.
„Hast du Hunger?“ Mila sah ihn unbekümmert an.
Als erwache er aus einem Traum, war er noch einen weiteren Augenblick benommen. Mila wiederholte ihre Frage und bewegte ihre Hand kreisend vor ihrem Bauch und führte sie dann zum Mund. Sie stopfte sich scheinbar etwas in den Mund und begann zu kauen.
Cédric lachte laut auf. Und Mila mit ihm.
Er hatte sie sehr wohl verstanden und versuchte die Worte nachzusprechen. Mila grinste über das ganze Gesicht und sagte noch einmal: „Hast du Hunger?“ Er wiederholte. Und sie nickte zufrieden.
Sie winkte ihm, mit ihr zu kommen.
Cédric wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und bemerkte, wie Mila eine Augenbraue nach oben zog. Da erfasste es ihn wieder. Er konnte nichts dagegen tun. Es kam einfach über ihn. Er wusste, sie sah nur den Schmutz an seinen Händen. Aber er sah das Blut an seinen Händen haften. Er sah die roten Spuren auf seiner Hose. Es klebte überall an ihm. Er sah in ihre Augen und bemerkte, wie sie sich verengten. Wie eine leise Furcht in diese schönen klaren hellen Augen kam, da, wo gerade noch ein freudiges Funkeln gewesen war. Sie drehte sich abrupt um und lief zum Haus zurück. Einmal drehte sie sich nach ihm um, aber er war reglos stehen geblieben.
Er kannte diesen Augenblick der Frauen und Mädchen, in dem das Grauen sie packte und sie versuchten, dem Entsetzen zu entfliehen. Nicht nur er hatte den Bewohnern Gewalt angetan. Sie hatten erst aufgehört, als ebenso das Haus, das Land in ihrer Gewalt verbrannt war. Cédric schauderte. Weshalb kam all dies gerade jetzt zurück?
Cédric rührte sich nicht von der Stelle. Langsam bückte er sich und nahm den nächstbesten Stein auf. Er setzte einen Schritt vor den anderen. Polternd fiel er ihm aus der Hand und knallte auf die Mauer und auf den Boden. Streifte dabei sein Bein und schürfte ihm die Haut auf. Blutstropfen drangen heraus, bildeten einen kleines Rinnsal, bis sein Blut in den Staub tropfte.
Er atmete auf, keuchte seinen Atem hinaus. Wieder nahm er den Stein auf und setzte ihn in die Mauer.
Er hörte ihr Schreien um Hilfe, den Schrei ihrer Schmerzen und ihrer Todesfurcht.
Cédric nahm den nächsten Stein auf und setzte ihn daneben. Und wieder und wieder. Jeder Stein ein Hilfeschrei. Er hatte nicht geholfen. Er hatte das Unheil getan. Weh ihm.{2}
Es nahm kein Ende. Selbst hier nicht. Weit entfernt von seinem bisherigen Leben.
Der Bruchteil des Augenblicks, in dem er Mila eben gesehen hatte, reichte aus, um in ihm die Gier auszulösen. Nackt und entblößt sah er das Mädchen vor seinem geistigen Auge stehen. Mit ihren Rundungen und Schönheiten.
Gier, sie hatte ihn vernichtet, und noch immer war er in ihrem Würgegriff gefangen. Er schämte sich dafür und wusste, er hatte das Unheil mit hierher gebracht. Dieses ES, das er nicht mehr losbekam. Es war wie eine Decke, durch die er nicht mehr hindurch kam. Er weinte über sich selbst, denn er war in seinem eigenen Gefängnis verschlossen.
Er hörte die Stimmen derer, die ihn beschimpften und ihm den Tod wünschten für all das Böse, das er getan hatte. Sie waren alle im Recht, doch wussten sie nicht, dass er längst tot war.
Cédric strich sich den Schweiß vom Gesicht, der sich mit seinen Tränen vermischt hatte. Wie hatte Bojan so dumm sein können und ihn hier mit seiner Familie allein gelassen.
Sein Magen knurrte und er spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Für einen kurzen Moment setzte er sich in den Schatten des Olivenbaumes. Er sollte von hier verschwinden, sofort. Das wäre das Beste für diese Familie, die ihm das Leben gerettet hatte. Bevor er ihr Leben vergiftete.
Aus der Ferne beobachtete er Joško, wie er unten am Wasser am Boot arbeitete. Joško, ein aufrichtiger Bursche. Ein Sohn, wie ihn sich jeder Vater wünschen würde. Nicht so wie er. Zum ersten Mal überkam ihn eine Traurigkeit darüber. Er hatte seinen eigenen Vater getäuscht und ihn und alle anderen glauben gemacht, er sei tot. Er dachte, es sei leichter so für seine Familie. Aber es fühlte sich schwer an, verdammt schwer.
Es war lange her, dass jemand gewagt hatte ihm zu sagen, was er tun solle. Und wenn es jemand versucht hatte, wie es sein Vater anfänglich getan hatte, so war es ihm gleichgültig gewesen. Nun saß er hier. Bojan war fort. Und er hatte Hunger.
Langsam stand Cédric auf. Sein Schritt war verhalten. Am Brunnen pumpte er den bereitstehenden Eimer voll und säuberte sich sein Gesicht und Hände. Dann pumpte er noch einmal und trank sich direkt an dem heraussprudelnden Wasser satt.
Er hatte das noch nie getan.
Aber etwas in ihm sagte: „Geh zu ihnen.“ Er war sich nicht sicher, was das in ihm war, das ihn dazu drängte und er dieser Stimme sogar nachgab.
Zögerlich trat er auf das Wohngebäude zu. Sie sahen ihn kommen. Sie saßen im Schutz der schattenspendenden Veranda beim Essen zusammen. Joško war ebenso dazugekommen.
Sie blickten alle auf ihn. In Milas Augen sah er Unsicherheit, in den Augen der Mutter ein tiefes Wissen.
Cédric hielt inne. Nur wenige Meter von ihnen entfernt, ohne dass einer von ihnen einen Ton gesprochen hätte. Sollte er nicht doch besser sofort kehrt machen und abhauen? Was sollte er hier?
Es war die Mutter, Draga, die das Wort aufnahm. Sie sprach langsam und nur wenige Worte. Und sie wiederholte sie. Zeigte dabei auf den freien Platz bei den kleinen Kindern auf der langgestreckten Holzbank, die sofort eifrig zusammenrückten. Sie lachten ihn an und zeigten keine Furcht.
Er nickte und setzte sich mit dazu. Dabei grinste er die Kleinen an und tat so, als fiele er gleich wieder von der Bank herunter. Sie kicherten und machten ihm noch mehr Platz.
Als er aufsah, blickte er direkt in Milas meerblaue Augen, die ihn fixierten. Sie sagten: „Was sollte das vorhin?“
Er zeigte ihr sein schiefes Schmunzeln und sie musste ebenfalls grinsen.
Cédric atmete erleichtert auf, während ihm Mila die noch freie Schale bis zum Rand mit köstlich duftendem Eintopf füllte. Der Kleine neben ihm reichte ihm den Brotfladen, von dem er sich wie die anderen ein Stück abriss. Er biss hinein, während sie ihn alle beobachteten. Und als er sie alle sehen ließ, wie gut es ihm schmeckte, lachten sie auf und das kinderquirlige Schwatzen setzte ein. Der Bann war gebrochen. Sein Bann.