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Kapitel 6 Phandrael

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Phandrael war sich der Augen bewusst, die ihm durch die hohen Gänge folgten. Höflinge – oder Abgeordnete, wie sie neuerdings hießen, aber letztlich waren sie doch nur Shideris‘ Marionetten – wandten die Köpfe, als er vorbeiging. Der hochgewachsene Elf konnte sich ihre Mienen gut vorstellen, die plötzliche, angespannte Missbilligung, die in ihre Züge trat. Er war anders als sie und dachte keinen Augenblick lang daran, das zu verbergen, nur um ihnen ihr vergeblich von Verachtung kaschiertes Unbehagen zu nehmen.

Statt sie oder die ihn umgebende Pracht auch nur eines Blickes zu würdigen, hielt er die Augen auf den schmalen, hochaufgerichteten Rücken der Dalanah gerichtet, die ihn führte. Jedes Mal, wenn sie eines der wunderschönen Buntglasfenster passierten, wurde ihr blütenweißes Gewand von farbigem Licht übergossen. Es war so lang, dass es hinter ihr einen Schritt weit über den Boden schleifte und ihre Bewegungen darunter waren so fließend, dass sie auch ein paar Millimeter über dem Boden hätte schweben können. Im Gegensatz zu der nachlässigen, übernatürlichen Anmut von Phandraels Bewegungen war die zurückhaltende Eleganz ihres Ganges genauso Ergebnis eiserner Disziplin wie die Makellosigkeit ihrer Kleidung und Frisur.

Es dauerte Jahre, zu einem Dalanon der Königin zu werden. Aus gutem Grund. Diese von einer Aura unnahbarer Perfektion umgebenen Elfen waren keineswegs einfache Diener, sondern Sekretäre, Leibwächter, Boten und teilweise sogar enge Vertraute der Königin. Diskret, effizient und, sollte es nötig werden, absolut tödlich. Im Gegensatz zu den meisten war Phandrael von diesem letzten Aspekt nicht weiter eingeschüchtert. Die Pagen waren ihm aus einem anderen Grund unheimlich: Mit ihren langen, makellosen Gewändern, den einstudierten Bewegungen und tadellosen Umgangsformen wirkten sie wie einer anderen Zeit entsprungen – jener Zeit, in der der gesamte Palast erstarrt schien.

Gewiss, die Elfen Cirdayas mochten die Entwicklungen auf dem Festland voller Aufmerksamkeit verfolgen, aber sie weigerten sich, darauf zu reagieren. Ganz so, als wollten sie nicht wahrhaben, dass ihre seit Jahrtausenden überlieferte Kultur keinen Platz in diesem neuen Kiarva hatte. Ihre selbstgewählte Isolation war nichts weiter als ein Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.

Phandrael und die Dalanah passierten ein Paar vollkommen regloser Dalanai. Auch sie trugen weiße Gewänder mit breiten Schärpen, nur fielen ihnen diese gerade einmal bis zu den Knien. Die breiten, schwarzen Gurte, die je einen Dolch, ein Kurzschwert und ein Zwillingspaar Pistolen hielten, hoben sich deutlich von dem makellosen Weiß ab. Ihre Gesichter verschwanden unterhalb der Augen unter dunkelroten Schleiern, die im Nacken kunstvoll mit ihrem Haar verschlungen waren.

Keiner von ihnen machte Anstalten, sie aufzuhalten. Gewiss hatte Shideris sie angewiesen, ihn passieren zu lassen. Ob ihnen dies gefiel, war eine andere Frage. Er machte bereits Elfen nervös, die es nicht gewohnt waren, in jedem Neuankömmling eine potenzielle Gefahr zu sehen. Phandrael verkniff sich ein Grinsen bei der Vorstellung, sie anzugreifen. Er hatte es so selten mit echten Herausforderungen zu tun …

Während die Dalanah, die ihn hergebracht hatte, an die geschlossene Tür am Ende des Ganges klopfte und ihn mit leiser, melodischer Stimme ankündigte, glättete er seinen Frack. Er mochte die menschliche Mode, die – von der traditionellen Kleidung der Palastangestellten einmal abgesehen – mit einigen Veränderungen ihren Weg selbst nach Cirdaya gefunden hatte. Es war die Kleidung von Geschöpfen, die entschlossen waren, diese neue, schnelle Welt mit ihren Maschinen und Telegrafenmasten, Eisenbahnschienen und neuen Regierungsformen mitzuformen.

„Ihr könnt nun eintreten, Sir Phandrael“, sagte die Dalanah. Schlanke, weiße Finger wiesen auf die geöffnete Tür. Phandrael deutete ein Nicken an und folgte ihrem Wink.

Das Spiegelbüro trug seinen Namen zu Recht. Über den brusthohen Aktenschränken waren die Wände zu beiden Seiten mit grauer, von filigranen, dunkleren Ornamenten geschmückter Seide überzogen, auf der winzige Spiegel schimmernde Akzente setzten. Die zierlichen Möbel – organisch wirkende Strukturen aus Holz und Metall, die Glasplatten oder seidenbezogene Polster trugen – setzten das an winterliche Zweige erinnernde Motiv fort. Doch jeder Gedanke an die Einrichtung war vergessen, als er die Elfe ansah, die ihn schweigend erwartete. Das Licht, das hinter ihr durch das große, weiße Rosettenfenster strömte, ließ sie zunächst nur als schmale Silhouette erkennen.

Shideris – ihr Name weckte beinahe mehr Ehrfurcht als ihr königlicher Titel – war eine bemerkenswert schöne Frau. Ihre großen Augen waren so schwarz, dass es unmöglich war, die Linie zwischen Iris und Pupille zu erkennen – ebenso unmöglich, wie in ihnen so etwas wie Emotion zu lesen.

Phandrael verneigte sich mit seiner üblichen Theatralik, in die man allzu leicht Ironie hätte hineindeuten können. Dabei ergriff ihn bei ihrem Anblick tatsächlich Ehrfurcht. Für die meisten Elfen war Shideris die Frau, die Cirdaya durch eine Mischung aus großem politischen Geschick und verblüffender Rücksichtslosigkeit zu einem reichen, friedlichen Land gemacht hatte. Auch Phandrael respektierte sie dafür. Aber aus einem anderen Grund noch mehr.

„Majestät“, grüßte er.

„Phandrael.“ Ihre Stimme war erstaunlich tief für eine so kleine Frau. Für einen Moment stand sie nur da und sah ihn an. Prüfend? Missbilligend? Oder auch nur in Gedanken versunken, die gar nicht ihn betrafen? Phandrael war gut darin, all die Emotionen und Motive zu erkennen, die andere sogar vor sich selbst verbargen, doch was die Königin dachte und fühlte, war ihm immer ein Rätsel geblieben. Glücklicherweise ersparte sie es ihm, den Grund für seine Anwesenheit erraten zu müssen. Shideris kannte das komplizierte Protokoll des elfischen Hofes – und sämtlicher Institutionen aller anderen Staaten – bis ins kleinste Detail, aber im Gespräch mit ihm brachte sie alles direkt und ohne Verzögerung zur Sprache. So brach sie auch jetzt ihr versonnenes Schweigen, indem sie ein Blatt Papier vom Schreibtisch griff und ihm zeigte. „Erinnerst du dich an diesen Mann?“ Phandrael studierte die Bleistiftskizze. Das meisterhaft ausgeführte Portrait zeigte einen jungen Elfen mit schulterlangem, hellem Haar und intelligenten Augen. In seinem Blick lag etwas, das jeden Betrachter auf Distanz hielt. Ein Mann ohne besondere Kennzeichen. Nur, dass Phandrael diesen speziellen Mann ohne besondere Kennzeichen kannte. Zumindest oberflächlich.

„Valedas, nicht wahr?“, fragte er, obwohl er sich des Namens sicher war.

„Ja, Valedas. Einer deiner Drasirai-Brüder, und doch deutlich mehr als das.“

„War er ein Naturtalent?“ Phandrael hielt seine Stimme bewusst neutral.

„Genau. Seine Begabungen sind durch die Initiation nur verstärkt worden. Aber ich fürchte nicht seine Magie, sondern die Informationen, über die er verfügt. Seine Intelligenz und seine Überzeugung, besser als jeder andere zu wissen, was zu tun ist – und notfalls andere zu ihrem Glück zu zwingen. Ganz zu schweigen davon, dass er die eine oder andere unselige Allianz geschlossen haben könnte.“

Es dauerte ein wenig, aber als Phandrael die Wortwahl der Königin auffiel, blickte er beinahe erschrocken auf. Hatte Shideris gerade tatsächlich „fürchte“ gesagt?

„Wo ist er jetzt?“

„Ich weiß es nicht.“ Shideris sprach mit der Lässigkeit einer Herrscherin, die wusste, dass sie sich dieses Eingeständnis leisten konnte. Es geschah selten, dass sie etwas nicht wusste. „Aber“, fuhr sie fort, „es gibt gewisse Hinweise auf seinen Aufenthaltsort. Ich möchte, dass du ihn findest. Dass du herausfindest, was er tut, warum und für wen. Und dass du, sollte es unseren Interessen zuwiderlaufen, dafür sorgst, dass es ein Ende findet. Dauerhaft.“

Phandrael konnte nicht verhindern, dass sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Valedas hatte ihm nie Grund zur Abneigung gegeben, aber das bereitete ihm keinerlei Gewissensbisse. „Ich soll also einen Drasirai-Bruder mit angeborenen Kräften jagen, ausspähen und notfalls töten?“

„Das waren meine Worte.“

Die Augen des Drasiron leuchteten auf.

„Wenn auch nur ein Bruchteil dessen, was ich befürchte, wahr ist, kann ich nicht riskieren, dass du scheiterst. Du wirst eine weitere Drasirah mitnehmen. Kyrai.“

Phandrael neigte den Kopf, obwohl ihm der Gedanke missfiel. Er kannte diese Kyrai nicht, aber viele seiner Brüder und Schwestern waren entsetzlich konservativ. Seine Einstellung machte ihn selbst unter seinesgleichen zu einem Außenseiter. Aber noch mehr als die Frage, wer ihn wohl begleiten würde, beschäftigte ihn, wie vage Shideris geblieben war. Mit Sicherheit würden er und seine Gefährtin alle Details erfahren, die sie brauchten, um ihre Mission zu vollenden. Aber über die Hintergründe informierte Shideris sie meist im direkten Gespräch. Wenn sie nun schwieg, würde sie es wohl für immer tun. Es würde ihn nicht um den Schlaf bringen, doch er hätte gerne mehr gewusst.

Shideris wandte sich ab. Die Königin blickte aus dem Fenster, als habe sie seine Anwesenheit vollkommen vergessen. Der tiefe Rückenausschnitt ihres Kleides offenbarte viel blasse, makellose Haut, und – nur eine Nuance dunkler – ein verschlungenes Symbol auf ihrem linken Schulterblatt. Es bog die Magielinien nicht, wie die Tätowierungen einer Drasirah es tun würden, aber es war zweifellos ein Dryadenmal – das allererste Zeichen des Bundes, den die Königin eingegangen war, um denen, die den Preis dafür zu zahlen bereit waren, die Magie von einst zu erschließen … oder zumindest einen erbärmlichen, aber dennoch berauschenden Rest davon.

Er fragte sich, wieso Shideris für die Audienz gerade dieses Kleid gewählt hatte und ihre Tätowierungen nicht wie sonst verbarg. War dies eine Botschaft an ihn? Eine Mahnung, dass er seine Macht und Stellung ihr verdankte? Oder aber war es ein Zeichen ihrer Verbundenheit zu den Drasirai? Ein Bekenntnis zu der Magie und den Ideen, die sie gemeinsam verteidigten?

Noch eine dieser Fragen, über die er nachdenken konnte, oder auch nicht. Viele unterstellten ihm, ein Mann ohne Moral zu sein, der nur an sein eigenes Vergnügen dachte, aber das stimmte nicht. Was er im Dienst der Königin tat, stand im Einklang mit seiner Idee eines Cirdaya, das seinen Weg in das Zeitalter der Technik fand, ohne etwas von seiner Macht oder Kultur einzubüßen. Eines Leuchtfeuers, das den anderen Kiarvanern einen Weg wies, sich von den einzigen beiden Dingen zu befreien, die Phandrael als Sünden gelten ließ: Stumpfsinn und Hässlichkeit. Soweit seine Ideale.

Aber Phandrael war auch ein ehrlicher Mann. Er mochte über den Kontext seiner Missionen nachdenken, aber er leugnete nicht, dass für ihn vor allem eines zählte: Die Herausforderung und das vielschichtige Vergnügen, was er daraus bezog. Der Rausch, den er als einer von wenigen Elfen zu umarmen wusste.

Als habe sie sich plötzlich an seine Anwesenheit erinnert, reichte Shideris ihm einen dicken, versiegelten Umschlag, den Phandrael umgehend in seiner Innentasche verschwinden ließ. „Du dürftest Kyrai um diese Zeit bei ihr zu Hause finden“, sagte sie.

Kein Wort der Entschuldigung dafür, dass sie ihn minutenlang ignoriert hatte. Wieso auch? Natürlich maß sie dem Gedanken, der sie gerade abgelenkt hatte, mehr Bedeutung zu als seinem Höflichkeitsempfinden.

Phandrael deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Erneut drehte Shideris ihm den Rücken zu, um aus dem Fenster zu sehen. Aber diesmal erhaschte er einen Blick auf ihr Gesicht, während sie es tat. Und zum ersten Mal seit langem spiegelte sich unverkennbar ein Gefühl darauf: Sorge.

Kyrai wohnte am Stadtrand, in einem der hohen, schmalen Häuser, die sich hier eng aneinanderschmiegten. Große Fenster blickten wie dunkle Spiegelaugen aus den hellen Fassaden.

Phandrael zog an der Klingelschnur. Die meisten Drasirai der Hauptstadt kannte er zumindest vom Sehen, aber einer Kyrai war er noch nie begegnet. Gerüchteweise sollte es eine weitere Akademie an der Nordküste geben. So verbunden die Drasirai sich durch ihre Gaben auch fühlen mochten, tauschten sie sich doch nur wenig untereinander aus. Als nach seinem Klopfen zunächst nichts geschah, zog Phandrael den Umschlag, den Shideris ihm ausgehändigt hatte, aus der Tasche und überflog die eng beschriebenen Seiten darin. Mit dem Code war er so vertraut, dass er sie mühelos lesen konnte. Die Suche nach Valedas könnte noch interessanter werden als ursprünglich gedacht.

Ohne dass das Geräusch von Schritten sie angekündigt hätte, schwang die Tür nach innen auf und gab den Blick auf Kyrai frei. Phandrael nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu betrachten. Die Drasirah war nicht besonders groß, wahrscheinlich noch etwas kleiner als Shideris, mit silbrig-blondem Haar, das sie zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte. Zwei sehr glatte Strähnen hatten sich daraus gelöst und rahmten ihr beinahe durchscheinend blasses Gesicht mit den nachdenklichen, dunkelgrauen Augen ein. Die obersten Knöpfe ihrer silbergrauen Seidenbluse waren offen und eine Seite des Kragens gerade weit genug zur Seite gerutscht, um den Blick auf ein Flechtwerk zartblauer Adern und ein feingeschwungenes Schlüsselbein freizugeben, das sich als scharfer Grat unter ihrer Haut abzeichnete. Dazu trug sie dunkle Hosen, aber keine Schuhe. Auf den Spann von jedem ihrer Füße war eine hellgraue Glyphe tätowiert.

Bei den meisten Frauen hätte Phandrael diese Aufmachung auf subtile Weise aufreizend gefunden, aber wie der Zufall es so wollte, begegnete er heute bereits der dritten Elfe, die in ihrer Anmut so steif und kontrolliert wirkte, dass ihr Anblick ein rein ästhetisches Vergnügen bot.

„Willkommen“, sagte sie und deutete einen formellen Knicks an. Ohne einen Rock, der sich dabei dramatisch auffächerte, sah die Bewegung bei aller Eleganz seltsam aus.

„Ich nehme an, du hast mich erwartet. Ich bin Phandrael“, stellte er sich vor.

Sie lud ihn mit einer Handbewegung ins Innere ihres Hauses ein. „Dann haben wir wohl einiges zu besprechen.“

Jedes Mal, bevor sie das Wort ergriff, hielt sie kurz inne, gerade lang genug, dass es einem sehr aufmerksamen Zuhörer auffallen konnte. Als würde sie sich jede Äußerung verbieten, die sie zuvor nicht noch einmal überdacht hätte.

Phandrael unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht würde sie ihn noch positiv überraschen – amüsanterweise waren es immer die besonders beherrscht wirkenden Drasirai, deren Kontrollverlust, wenn er stattfand, absolut war. Doch er ahnte bereits jetzt, dass es kein Spaß werden würde, mit ihr zusammenzuarbeiten.

„Wollen wir vielleicht in meinem Atelier miteinander sprechen? Es ist der größte und hellste Raum.“

Sie deutete eine schmale Treppe hinauf. „Ich komme gleich nach.“

Neugierig stieg er die Stufen empor. Ihr Atelier befand sich direkt unter dem Dach, ein großer Raum mit schrägen Wänden und großen Fenstern, durch die breite Lichtbahnen ins Innere fielen. Auf niedrigen Regalen an den Wänden standen bemalte oder noch weiße Porzellanskulpturen, Teller und Medaillons. Ein breiter Tisch in der Mitte war mit Pinseln, Paletten und im Entstehen begriffenen Werken bedeckt; ein weites, von Farbflecken bedecktes Hemd über eine Stuhllehne geworfen.

Sie war Porzellanmalerin? Phandrael wollte bereits die Augen verdrehen, aber dann sah er sich Kyrais Kunstwerke genauer an. Sie hatte feine Pinsel benutzt, um auf den ersten Blick idyllische Szenen auf den schimmernden Untergrund zu bannen. Wenn man jedoch genauer hinsah, gab es in beinahe jedem ihrer Bilder eine fremdartige, beunruhigende Komponente. Manchmal nur durch einen einzigen Pinselstrich, der dem Lächeln einer Figur etwas Wissendes, Grausames verlieh oder einem Schatten die Andeutung von etwas, das sich darin verbergen konnte. Bei anderen Figuren hingegen wurde der harmlose Anschein auf spektakuläre Weise durchbrochen. Phandrael hob eine Porzellanfigur an, um sie näher zu betrachten. Schwer, glatt und kühl ruhte sie auf seiner Handfläche, während er sie langsam drehte und die unglaubliche Präzision von Kyrais Arbeit bewunderte. Eine beinahe kindlich aussehende Frau, an deren weißem Kleid über der linken Brust eine große, dunkelrote Blüte steckte, hielt die Arme anmutig angewinkelt. Ihre Finger formten eine Schale, deren Inhalt sie mit distanziertem Interesse aus vollkommen schwarzen Augen betrachtete. Die Rätselhaftigkeit ihres angedeuteten Lächelns lenkte beinahe davon ab, dass es sich bei der dunkelroten Form auf ihrer Brust doch nicht um eine Blume handelte, sondern dass sie mit belustigter Distanz ihr eigenes Herz studierte.

Interessant, dachte Phandrael. Und eigentlich nicht weiter überraschend. Ein Drasiron zu sein, bedeutete, sich ständig mit eigentlich Unerträglichem auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich zeugten zahlreiche mehr oder weniger gelungene Kunstwerke von den Schlachten, die seine Kollegen in ihren Köpfen austrugen. Phandrael hatte nie das Bedürfnis danach gehabt. Vielleicht, weil er nie versucht hatte, sein wahres Wesen zu verleugnen.

Seine Kunst entstand anderswo.

Kyrai tauchte wieder auf, ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und zwei Gläsern in Händen. Ihr Blick blieb kurz an der Figur hängen, die Phandrael betont langsam und beiläufig absetzte, aber sie sprach ihn nicht darauf an. Stattdessen stellte sie das Tablett ab. Unaufgefordert ließ Phandrael sich auf dem Stuhl nieder, ein Bein ausgestreckt, das andere mit darum verschränkten Armen an die Brust gezogen. Sein Kinn ruhte auf seinem Knie.

Wenn Kyrai Anstoß an seiner nachlässigen Haltung nahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nahm eine ähnlich lässige Pose ein, halb stehend, halb auf der Tischkante sitzend. Keiner von ihnen rührte sich, aber es war die Bewegungslosigkeit der Drasirai: Vibrierend mit dem Potenzial von plötzlicher, schneller und destruktiver Bewegung.

„Zwerge“, sagte Phandrael unvermittelt. Er mochte das – einen Gesprächspartner mit einer scheinbar vollkommen aus dem Zusammenhang gerissenen Bemerkung wie dieser aus dem Konzept zu bringen. Doch Kyrai hatte dieselben Informationen erhalten wie er. Sie erwiderte seinen Blick ohne das geringste Anzeichen von Verwirrung. Da war nur kühle, gelassene Aufmerksamkeit. „Du glaubst, dass wir ihn in Nornírwatar finden werden?“ Sie sprach den mittlerweile ungebräuchlichen Namen aus, wie es die Zwerge vor hundert Jahren getan haben mochten: Norrnírrrwadaarr.

Phandrael war jung für einen Elfen. Viel zu jung, um sich an die Kämpfe der Elfen mit den Zwergenfürsten von einst zu erinnern – den verheerenden Krieg, in dem eine junge Heerführerin namens Shideris zur Königin aufstieg und das Reich der Zwerge verwüstet und uneinig zurückließ. Sie hatte es den menschlichen Invasoren, denen es für Jahrhunderte tributpflichtig sein würde, beinahe geschenkt.

Dennoch rief dieses „Nornírwatar“ etwas in Phandrael wach. Den Klang tiefer Stimmen und herunterfahrender Hämmer unter der Erde. Meißel auf Stein und hallende Hörner. Und – neuerdings – das Stampfen und Fauchen der Eisenbahn und das Ticken von Uhrwerken. Kein Elf würde es zugeben, aber die mächtigen Elfen mit all ihrer Magie und mühelosen Überlegenheit hatten sich immer davor gefürchtet, dass die berüchtigte Sturheit der Zwerge diesen irgendwann ein Mittel verschaffen würde, an der Vorherrschaft der Elfen zu kratzen. Und nun war ihnen bewiesen worden, dass sie nur zu richtig gelegen hatten, wenn auch auf unerwartete Weise. Die Zwerge hatten das Leben in ganz Kiarva unwiderruflich verändert, es geradezu schwindelerregend beschleunigt. Und damit – so beiläufig, dass es Phandrael manchmal amüsierte, manchmal mit den Zähnen knirschen ließ (immerhin waren es nur Zwerge!) – das Ende Cirdayas eingeläutet.

Vielleicht würden die Elfen der Insel noch für Jahrzehnte abgeschottet ihren narzisstischen Kult um Schönheit und Tradition fortsetzen, aber früher oder später würde die neue Technologie, die neue Lebensweise herüberschwappen. Sei es, weil die Menschen oder Zwerge bereits jetzt anfingen, mit der Eroberung neuer Kolonien zu liebäugeln und die Hände irgendwann unwiderruflich nach dem ressourcenreichen Cirdaya ausstrecken würden. Sei es, weil die Elfen, um ihnen zuvorzukommen, selbst zur Industrienation werden würden.

Und all dies hatte in Nornírwatar begonnen. Dem einstigen Sitz der Zwergenkönige und Stadt der Tempel, die sich von ihrem magisch-religiösen Erbe losgesagt hatte, um zu dem Ort zu werden, an der die Dampfmaschine entwickelt wurde, der mechanische Webstuhl, der Tunnelbohrer, die Eisenbahn, das Fließband … vor wenigen Tagen erst hatten sie von dem neuen Großprojekt der Union erfahren: Einem Netz, das Städte überall in der Union mit Elektrizität versorgen würde. In Nornírwatar – Schwarzspiegel, wie die Zwerge es nun nannten, da die mythologischen Wurzeln des ursprünglichen Namens ihnen Unbehagen bereiteten – war die heutige Union geboren worden.

Ob die Zwerge dort Elfen willkommen heißen würden? Phandrael bezweifelte es.

„Es ist die beste Spur, die wir haben“, entgegnete er.

Eine Weile schwiegen sie, dann sprach Kyrai: „Ich kannte Valedas“, sagte sie leise. „Wenn es einen Elfen gibt, der keinerlei Sympathien für die Zwerge hegt, dann ist er es. Was sollte er in Nornírwatar wollen?“

Für einen Moment erwiderte Phandrael ihren Blick vollkommen ernst. Er erinnerte sich an die Sorge in Shideris‘ Blick. „Wir werden es herausfinden.“

Drúdir

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