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Kapitel 1 Drúdir
ОглавлениеQuietschend kam die Straßenbahn zum Stehen und entließ eine kleine Traube von Passanten auf die dämmrigen Straßen. Mit hochgeschlagenen Mantelkrägen, runden Schultern und verkniffenen Gesichtern huschten sie wie mürrische Gespenster durch die Lichtkegel der Straßenlaternen, unter denen der Regen in goldenen Schnüren hing.
Knarzend und ratternd setzte sich der komplizierte Mechanismus, der die drei Wagons antrieb, wieder in Bewegung. Die Bahn nahm rasch Fahrt auf und verschwand um die Ecke eines Verwaltungsgebäudes, während die Fahrgäste in verschiedenste Richtungen davonhasteten. Gedankenverloren blickte Drúdir einem Zwerg in abgerissener Kleidung und ohne Hut nach, der gewiss ohne Fahrkarte unterwegs war. Er hielt sich eine Zeitung über den Kopf. Die fettgedruckten Runen der Schlagzeile – natürlich ging es um den rätselhaften Absturz des Luftschiffes Bergfalke – verliefen allmählich.
Bereits nach wenigen Schritten musste Drúdir seine Hutkrempe mit einem Finger herabdrücken, um das Regenwasser ablaufen zu lassen. Ein eisiger Windstoß nach dem anderen trieb ihm fingernagelgroße Tropfen ins Gesicht. Der Zwerg glaubte sogar zu spüren, wie die eine oder andere Schneeflocke auf seiner Haut schmolz. Doch obwohl die Feuchtigkeit in der Luft die Kälte selbst durch seinen gefütterten Ledermantel dringen ließ, verlieh sie jedem Atemzug einen ungewohnt sauberen Geschmack. Selbst hier im Stadtzentrum, wo die ruhelosen Fabrikschlote der weitläufigen Außenbezirke ein gutes Stück entfernt standen, war die Luft sonst rauchgeschwängert. Man hatte es nicht umsonst aufgegeben, für die Wände der Häuser hellen Putz zu verwenden. Sonst wären sie bereits nach wenigen Monaten von grauen Schlieren überzogen gewesen.
Dennoch war die heute vom Rauch gereinigte Luft nicht annähernd ausreichend, um Drúdir mit dem Rinnsal eisigen Wassers zu versöhnen, das inzwischen einen Weg in seinen Mantelkragen gefunden hatte. Er bereute, seinen Schal vergessen zu haben. Eigentlich erstaunlich … Man könnte meinen, dass der Unmut über ein Regenrinnsal in Verlust, Zorn und Verwirrung unterginge. Für eine Weile erlaubte Drúdir es sich, dieser Überlegung nachzuhängen, doch der Grund für seine Anwesenheit in Nordkrone kehrte wieder und wieder in seine Gedanken zurück. Und damit die Gewissheit, dass was auch immer am Ende seines Weges lag, alles andere als erfreulich sein würde.
Er umrundete eine Pfütze und bog, ohne nachdenken zu müssen, in eine schmale Gasse ein. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, waren Jahre vergangen und wie so viele Zwergenstädte war auch Nordkrone seit der industriellen Revolution im stetigen Wandel begriffen. Aber Drúdir war diesen Weg früher so oft gegangen, dass seine Füße ihn auch jetzt noch beinahe ohne sein Zutun fanden.
Pfützenwasser spritzte unbeachtet um seine Stiefel auf, als er jäh zum Stehen kam. Der Anblick des kleinen Hauses – wie so viele Zwergenbauten gedrungen, mit kleinen Fenstern dicht unter dem überhängenden, gewölbten Dach – traf ihn wie ein Schlag. Es sah genauso aus wie an dem Tag, an dem er die Stadt verlassen hatte, um den Erwartungen Fragars und dem beängstigenden Erbe, mit dem dieser ihn vertraut gemacht hatte, zu entkommen.
Und nun war er wieder hier. Bereit, die Fähigkeiten einzusetzen, deren Existenz er am liebsten geleugnet hätte.
Fragar hätte hinter seinem altmodischen Bart gelächelt – wenn nur nicht ausgerechnet seine Ermordung seinen Lehrling hergeführt hätte.
Drúdir presste die Lippen aufeinander. Sein Inneres fühlte sich rau an. Jeder Schritt kostete ihn Überwindung, aber Umkehren war keine Option. Er würde keinen Frieden finden, ohne zumindest versucht zu haben, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Gewiss, die Stadtwache untersuchte den Mord. Aber sie hatten nicht die Möglichkeiten, über die er verfügte.
Er brachte die letzten Schritte hinter sich und trat unter das überhängende Dach. Fragar hatte sich geweigert, den Zweitschlüssel anzunehmen, den Drúdir ihm hatte zurückgeben wollen. Du weißt, dass du jederzeit zurückkommen kannst, Drúdir. Und wenn du das tust, will ich nicht, dass du eine verschlossene Tür vorfindest. Fragar hatte nicht nur alles gewusst, was es über die Vergangenheit der Zwerge zu wissen gab, auch seine scharfsinnigen Prognosen für die Zukunft waren in der Regel zutreffend gewesen. Doch die genauen Umstände von Drúdirs Rückkehr hatte sich keiner von ihnen vorstellen können. Wieso auch? Wer sollte Fragar ermorden, sein Haus und seine Werkstatt auf den Kopf stellen, dabei aber sowohl die Ersparnisse als auch die kostbaren Werkzeuge des alten Uhrmachers ignorieren? Der Mord war nicht nur tragisch, er entbehrte auch jedweder Logik.
Drúdir schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und schob die Tür auf. Alles in einer einzigen hektischen Bewegung; als versuchte er, seinen Zweifeln zuvorzukommen.
Dunkelheit umfing ihn, und ein vertrauter Druck legte sich auf seine Schläfen. Seine Hände und Füße verwandelten sich in eisige Fremdkörper am Ende seiner Gliedmaßen und ein feines, schneidendes Surren klang in seinen Ohren. Oh ja, hier war jemand gestorben.
Wahrscheinlich gab es genug seltsame Gestalten, auf die der Schauplatz eines Mordes eine morbide Faszination ausübte, aber Drúdir gehörte gewiss nicht dazu. Dafür sorgte seine unwillkommene Begabung. Wann immer er an die Zeit dachte, in der er sie noch nicht hatte unterdrücken können, zuckte er innerlich zusammen.
Mittlerweile gab es viele, für die Magie beinahe ein Mythos war; eng verwoben mit der präindustriellen Zeit, in der – was einige gerne vergaßen, während andere kaum an etwas anderes zu denken schienen – die magisch unterdurchschnittlich begabten Zwerge immer wieder Opfer von Invasionen und Unterdrückung gewesen waren. Auch Drúdir hatte sich mit der langen, wechselvollen Geschichte kiarvanischer Magie beschäftigt und für ihn war sie vor allem eines: Der Grund für Stagnation. Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten Technik und Wissenschaft auf demselben Stand verharrt. Wieso auch nicht? Diejenigen, deren Bildung und Lebensumstände es gestattet hätten, an irgendeinem Fortschritt mitzuwirken, waren nicht darauf angewiesen gewesen. Schließlich hatten sie die Dienste eines Magiers in Anspruch nehmen können.
Als man die Magie nach den Magierkriegen geächtet hatte, hatte dies vielerorts Zusammenbrüche von Kultur und Gesellschaft nach sich gezogen – aber auch der industriellen Revolution den Weg geebnet, die vor einem halben Jahrhundert begonnen hatte. Der Großteil der Kiarvaner war euphorisch gewesen, gebannt von der Vision eines Kontinents, auf dem nicht der gesellschaftliche Stand und die magische Begabung zählten, sondern was man mit seinem Geist und seinen Händen vollbringen konnte. Eine Zeit des unaufhaltsamen Fortschritts, aus der sie alle reicher und zufriedener hervorgehen würden.
Drúdir hatte diese ersten Jahre nicht miterlebt, aber genug ältere Zwerge von ihnen erzählen hören, um die damalige Begeisterung nachvollziehen zu können – und traurig zu belächeln. Gewiss, es gab Zwerge und Menschen, denen es gelungen war, binnen kürzester Zeit sagenhaft reich zu werden. Viele der Besitzer der Walzwerke und Baumwollspinnereien oder Luftschifffluglinien waren in den präindustriellen Jahren noch kleine Geschäftsleute und Handwerker ohne reelle Chancen auf Aufstieg gewesen. Mittlerweile jedoch bildeten sie eine verschworene Clique – und der Gedanke, dass andere ihre Erfolgsgeschichten wiederholen könnten, behagte ihnen ganz und gar nicht. Reichtum und Zufriedenheit für alle … Drúdir konnte sich gut vorstellen, welche Antwort ein Fabrikarbeiter ihm darauf geben würde.
Dennoch: Drúdir mochte ein Skeptiker sein, der mit offenen Augen und einem Hang zum Zynismus durchs Leben ging, aber auch er war von der rasanten Transformation des Kontinents durch die neuartigen Maschinen und die bisher ungeahnte Vernetzung fasziniert. Er wollte nur zu gerne sehen, wo diese Entwicklung die Völker Kiarvas hintrug. Und vor allem hielt er jeden, der gegen den Fortschritt wetterte und sich die alten Zeiten zurückwünschte, für einen ausgemachten Dummkopf.
Umso peinlicher, dass Drúdir selbst sich als ein Relikt dieser Ära herausgestellt hatte. Ausgerechnet in ihm, einem zwergischen Feinmechaniker, waren ohne jede Anleitung magische Kräfte erwacht. Noch vor zweihundert Jahren hätte die Natur seiner Begabung ihn zu einem Mann gemacht, der gleichermaßen gefürchtet und geehrt wurde. Heute jedoch war er nur ein wütender Zwerg, der Tag und Nacht geistige Barrieren aufrecht erhielt, um sich vor seinen Fähigkeiten abzuschirmen. Seine erste Begegnung mit ihnen hatte seiner früheren Faszination für Zauberei ein jähes Ende gesetzt und ihn dazu gebracht, auf Abstand zu Fragar und seinen merkwürdigen Freunden zu gehen. Es handelte sich bei ihnen um ein sonderbares Netzwerk aus Magiern und denjenigen, die sie unterstützten, sei es aus persönlichen Gründen, fehlgeleiteter Nostalgie oder wissenschaftlicher Faszination für Magie und ihre Möglichkeiten, wie in Fragars Fall. Selbst Drúdir wäre ihnen willkommen gewesen. Allerdings hatte er sehr deutlich gemacht, dass das umgekehrt nicht galt.
Drúdir hatte nie etwas anderes als ein Mechaniker und Kunstschmied, maximal ein Erfinder sein wollen. Der heutige Abend änderte nichts daran. Er würde seine Fähigkeiten einmal und nie wieder einsetzen. Zumindest war das der Plan. Aber ein Teil von ihm fragte sich bang, ob er die Tür, die er damit aufstieß, wieder würde schließen können.
Entschieden drängte er seine Zweifel zur Seite und öffnete sich den Eindrücken, die er sonst Tag und Nacht in einer mittlerweile nahezu unbewussten Anstrengung verdrängte. Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: das verschlungene Netz von Magielinien, das sich ihm offenbarte, oder das Gefühl der Vertrautheit, welches seiner Ablehnung so entgegenstand. Er runzelte die Stirn. Waren die Muster heller und deutlicher geworden? Strebten sie mehr zu ihm hin?
Die Magie, die in schimmernden Schleiern über allem lag, reagierte auf jeden seiner Gedanken, schmiegte sich an ihn und schlang komplizierte Knoten um jedes Objekt, das er bearbeitete – und ließ es natürlich nicht unverändert.
Was er gerade aus der Tasche zog, war ein gutes Beispiel dafür: Ein etwa faustgroßes Metallobjekt, das sich, sobald er es mit einem kleinen Schlüssel aufgezogen hatte, wie ein Blütenkelch öffnete. Verschnörkelte, goldene Flügel entfalteten sich surrend und auf der kleinen, von ihnen getragenen Platte begann eine winzige, aber helle Glühbirne zu leuchten. Flatternd erhob sich die filigrane Konstruktion in die Luft und verharrte neben seiner Schläfe; die Flügel nur ein metallisches Flirren. Drúdir fischte zwei weitere schwebende Lichter aus seinen Taschen und zog sie auf. Schließlich wagte er sich, von den Lampen wie von seltsamen Monden umkreist, in die dämmrige Werkstatt.
Drúdir war ein außergewöhnlich guter, erfindungsreicher Handwerker. Es gab jedoch viele Zwerge, die ihn an Geschick bei weitem übertrafen. Jeder von ihnen hätte solche schwebenden Lichter konstruieren können. Aber nur Drúdir konnte sie mit seinen Gedanken durch den Raum lenken. Nur Drúdir konnte Lampen schaffen, deren Flügel sie nach den Gesetzen der Physik eigentlich unmöglich in der Luft halten konnten. Die Spuren, die sie durch die Schleier der Magie zogen wie eine Hand über eine Wasseroberfläche, belegten, dass es bei ihrer Erschaffung nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen war.
Eigentlich hätte er ihr Licht nicht gebraucht. Durch eines der Fenster fiel der schwache Widerschein einer Straßenlaterne. Einem Menschen wäre es zu dunkel gewesen, doch die Nachtsicht der Zwerge übertraf selbst die der so oft gerühmten Elfenaugen. Doch das, was er vorhatte, wollte er nicht im Dunkeln tun. Auch musste er die vertrauten Räume noch einmal bei Licht sehen. Ihr Anblick würde schmerzen, aber er konnte nicht anders.
Drúdir ließ den kleinen Vorraum – irgendjemand hatte Fragars Schuhe und Mantel aus der Garderobe entfernt – hinter sich und schob die angelehnte Tür zur Werkstatt auf. Holzdielen knarzten unter seinen Füßen. Selbst dieses Geräusch war ihm nur zu vertraut. Er erinnerte sich daran, wie sie noch leise unter seinem damals viel leichteren Gewicht geknarrt hatten, als er als Kind in Begleitung seines Vaters zum ersten Mal hier hereingekommen war und sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um die faszinierenden Gerätschaften und halb beendeten Uhrwerke auf den Werkbänken näher in Augenschein zu nehmen. Das Knarzen war bereits deutlicher vernehmbar gewesen, als er als Jugendlicher hereingekommen war, um die Lehrstelle bei Fragar anzutreten. Und er erinnerte sich an das empörte Quietschen der Dielen, als er an jenem Morgen in die Werkstatt gestürmt war, verstört vom Tod seiner Eltern. Verstört von den Stimmen und Bildern und Empfindungen, die durch seinen Kopf jagten, von den schimmernden Schleiern, deren Muster auf seltsame Weise zu ihm sprachen - Kokons aus Leere und Scherben.
Fragar hatte ihm gelauscht und ihm schließlich, als er sich etwas beruhigt hatte, schweigend seine erste Schwebende Lampe, die er erst vor wenigen Tagen beendet hatte, entgegengehalten und ihn gebeten, die Flügel auszumessen und ihre Tragfähigkeit auszurechnen. Deine Fähigkeiten sind nicht neu, Drúdir. Sie waren immer schon ein Teil von dir und du hast sie genutzt, ohne es zu wissen.
Die nächsten Monate waren schrecklich gewesen, aber Fragar hatte ihm zur Seite gestanden. Hatte ihn zu nichts gedrängt und ihm geholfen, nicht nur mit dem Verlust seiner Eltern umzugehen, sondern auch, eine Welt zu begreifen, die von dem seltsamen Leuchten der Magie durchdrungen war.
Drúdirs Augen brannten. Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber mit Fragars Tod hatte er zum zweiten Mal seinen Vater verloren. Nun gut, einen Vater, mit dem er tagelang gestritten und den er zuletzt monatelang nicht gesehen hatte. Aber trotz allem war Fragar sein Freund und Mentor gewesen. Er hoffte nur, dass der ältere Zwerg das gewusst hatte.
Bestimmt hatte er das. Und wahrscheinlich würde er – selbst in Anbetracht der Umstände – triumphierend grinsen, wenn er Drúdir jetzt sehen könnte.
Drúdir bewegte sich durch die Werkstatt wie durch einen unheimlichen Traum. Eine feine Staubschicht hatte sich auf allem niedergelassen, seit die Stadtwache hier gewesen war, alles untersucht und offenbar auch mitgenommen hatte. Weder von Fragars fertigen Uhren, noch von angefangenen Projekten, noch von seinen Werkzeugen war eine Spur zu sehen. Nur die beiden langen, wuchtigen Arbeitstische und die vier kleinen Hocker standen noch da. Daneben registrierte Drúdir aus dem Augenwinkel eine Kreidespur – und einen dunklen Fleck, wo eigentlich schimmernde Magie sein sollte.
Er drehte sich um, trat an eine der Werkbänke – wie oft hatte er selbst hier gesessen und unter Fragars kundiger Anleitung mechanische Geräte auseinandergenommen und zusammengesetzt? – und spähte darüber hinweg. Ja, da waren vergessene Kreidestriche auf dem Boden. Drúdir hätte nicht seine magische Sicht gebraucht, in welcher gewaltsam vergossenes Blut von einem purpurnen Glühen umgeben war, um sich zusammenzureimen, dass sie einmal zum Umriss einer liegenden Gestalt gehört hatten.
Hier war Fragar gestorben.
Das leise Surren in seinem Hinterkopf hatte sich zu einem schrillen Pfeifen gesteigert. Und da war es: Ein Raum ohne Magielinien wie ein zwergengroßer, dreidimensionaler Schatten, durch den scharfkantige Scherben trieben. Bei näherem Hinsehen offenbarten sie sich als Ornamente aus feinsten, unglaublich dichten Fadenstrukturen. Allerdings begannen die Ränder des Schattens bereits leicht auszufransen und viele der Scherben zu verschwimmen. Nur einige wenige glühten noch immer hell und klar umrissen.
Trotz eines beschämenden Anflugs der Faszination für die komplexen Strukturen der komprimierten Magie hätte Drúdir sich am liebsten abgewendet. Er hatte von menschlichen Scharlatanen gehört, die entweder vorgaben oder tatsächlich glaubten, mit den Toten kommunizieren zu können. Sie führten ihre Kunden auf Friedhöfe oder an die Stätten des Todes ihrer Angehörigen und lullten sie mit Erzählungen von guten, über sie wachenden Geistern und ewigem Frieden ein. Drúdir wusste nicht, ob er darüber zornig sein oder bitter lachen sollte. Die Toten hatten den Lebenden nichts zu geben außer schmerzhaften Erinnerungen.
Er umrundete den Tisch, als drei Lichter urplötzlich neben ihm aus dem Halbdunkel ploppten, zusammen mit einer humanoiden Gestalt. Der Zwerg fuhr zusammen und wich zurück, erkannte dann jedoch, was ihn hatte zurückschrecken lassen: Ein Spiegel, den Fragar sich wohl in den letzten Monaten angeschafft hatte. Es war ein guter Spiegel, der jedes Detail glasklar wiedergab; selbst die teilweise offenliegenden Zahnräder und Drähte, die die schwebenden Lampen bewegten. Er sah auch sein eigenes bleiches, müdes Gesicht; jede regendunkle Haarsträhne, die ihm an den Wangen klebte.
Selbst für ein erleichtertes Aufatmen zu angespannt, ließ er sich auf die Knie sinken, direkt neben dem schattenhaften Umriss, den Fragars gewaltsamer Tod dem magischen Gefüge eingebrannt hatte. Es würde Monate dauern, bis er wieder schwand. Mit leichter Verzögerung folgten Drúdirs Lampen seiner Bewegung.
Beim Gedanken an das, was kommen würde, spürte Drúdir Übelkeit in sich aufsteigen. Doch so groß seine Angst und sein Ekel auch sein mochten, er zögerte keinen Moment mehr. Noch ein tiefer Atemzug, dann tauchte er seine Hände in Fragars Schatten. Sofort wurde ihm eiskalt, und das hatte nichts mit seiner klammen Kleidung zu tun. Er sog scharf die Luft ein, als sich die feuchten Fußspuren, die er auf dem Werkstattboden hinterlassen hatte, in Ovale aus schimmerndem Reif verwandelten.
Drúdir zwang sich, erneut den Blick zu senken. Er fischte nach der Scherbe, die ihm mitteilen würde, was er wissen musste, und ließ auch die letzten der mühsam errichteten Wälle um sein Bewusstsein fallen.
Die hellste und scharfkantigste der Scherben glitt auf seine Finger zu. Ihre Farbe erinnerte ihn an weißglühendes Metall, doch ihre Berührung versengte ihn nicht. Stattdessen jagte ein kribbelnder Impuls seinen Arm hinauf und ließ jeden Muskel in seinem Körper verkrampfen. Eine Woge fremder Erinnerungen und Emotionen spülte über ihn hinweg, bis er nicht mehr wusste, wer er war.
Drúdir krümmte sich keuchend. Für gewöhnlich lagen die Erinnerungen der Toten, mit denen er versehentlich in Berührung kam, wie Spiegelungen auf einer Glasscheibe über der realen Welt. Aber diesmal hatte er sich ihnen mit voller Absicht geöffnet. Die nächtliche Werkstatt, das Holz der Dielen unter seinen Knien, seine regennasse Kleidung … all das war verschwunden. Stattdessen saß er in einer der wenigen sonnigen Stunden, die Nordkrone im Frühherbst zu bieten hatte, an einer der Werkbänke. Mit einer Lupenbrille über den Augen studierte er ein Uhrwerk, während er sich mit den Fingern der freien Hand nachdenklich über den altmodischen, beinahe gürtellangen Bart strich.
Fragars Atem stockte, als sich eine Hand auf seine Schulter und eine Klinge an seine Kehle legte. Zuerst war da nur Überraschung. Dann kam erstickende Panik, die keinen klaren Gedanken mehr zuließ.
„Was hat er dir gesagt?“ Die Worte wurden von einem leichten Druck der Klinge gegen Fragars Hals begleitet. Der Uhrmacher musste den Fremden nicht fragen, wen er meinte.
Er dachte an den Ausdruck von Schuld auf Kargans glattem, gutaussehendem Gesicht, seine unnötig scharfen, ausweichenden Antworten …
„Nichts.“ Es war die Wahrheit.
„Und in seinen Briefen?“
Erst kam die Verblüffung, dann der Zorn. Und schließlich noch größere Angst.
„Auch nichts. Ich habe nicht mal eine Vermutung, woran er gearbeitet hat“, versicherte Fragar.
Kargans Fragen hatten immer nur Details der magischen oder technischen Praxis und Geschichte betroffen. Sie hatten gerade genug preisgegeben, um Fragar misstrauisch werden zu lassen, aber nicht mehr.
„Und du erwartest tatsächlich, dass ich dir glaube?“
Fragar keuchte auf, als der Fremde ihm einen flachen Schnitt zufügte.
„Frag Kargan! Er wollte mir kein Wort sagen!“
Verdammt, Kargan, du Idiot! Dein Ehrgeiz könnte mich umbringen und dabei verstehe ich noch nicht einmal, worum es eigentlich geht!
„Womöglich stimmt das …“, räumte der Fremde ein. Der Druck der Klinge ließ nach. „Hast du jemandem von Kargan erzählt?“
„Wovon denn? Alles, was ich über Kargans seltsames Projekt weiß, ist, dass ich ein ungutes Gefühl dabei habe! Ich habe niemandem ein Wort gesagt“, beteuerte er.
„Ja, du scheinst die Wahrheit zu sagen …“
Fragar erlaubte sich einen Moment der Erleichterung. Umso größer war der Schock, als seine Kehle sich in eine Explosion aus gleißendem Schmerz verwandelte. Er konnte nicht mehr atmen. Alles verschwamm vor seinen Augen
„… aber man hat mir befohlen, kein Risiko einzugehen.“ Fragar hörte nur noch gedämpft, wie der Fremde seinen Satz beendete. Ebenso spürte er die Kollision seiner Wange mit dem Boden wie aus weiter Ferne. Ein Paar schwarzer Stiefel mit verschnörkelten Silberschnallen bewegte sich mit langen, ruhigen Schritten aus seinem stetig kleiner werdenden Sichtfeld.
Sein letzter Gedanke war seltsamerweise Überraschung, dass der Fremde sich ihm trotz seines schweren Schuhwerks so leise hatte nähern können.
Drúdir wollte nach seiner brennenden Kehle greifen und erwartete, ein blutgetränktes Hemd zu finden. Stattdessen berührten seine Finger regennasses Leder. Der Schmerz in seiner Kehle flaute rasch ab. Dafür begann es in seinen Schläfen zu hämmern. Ganz zu schweigen von den Bildern in seinem Kopf, die partout nicht verblassen wollten. Es gab Angenehmeres, als Erinnerungen nachzuempfinden, die alle tröstlichen Lügen von einem schnellen, schmerzlosen Tod entlarvten.
Vornübergebeugt, die Hände auf den Boden gestützt, kauerte Drúdir da. Die drei Lampen hatten sich auf den Dielen niedergelassen und schlugen matt mit ihren mechanischen Flügeln.
Neben Fragars Erinnerungen pulsierte auch die aufgenommene Magie durch seinen Körper, denn nichts anderes waren die Erinnerungsscherben: Magie, durch Fragars heftige Emotionen während seines Todes verdichtet und in eine Form gebracht, die Drúdir aus irgendeinem Grund in die ursprünglichen Eindrücke zurückzuübersetzen vermochte.
Drúdir war noch ganz in den albtraumhaften Bildern gefangen. So fiel ihm erst jetzt auf, dass es neben den Flügelschlägen und dem leisen Surren und Ticken der Lampen noch ein anderes Geräusch im Raum gab: Den schnellen, rauen Atem eines angsterfüllten Zwerges.
Er hob den Kopf. Seine Bewegung ließ feine Eiskristalle von seinem Mantel zu Boden rieseln.
Dort, eine matt leuchtende Lampe in der einen, eine Steinschlosspistole in der anderen Hand, stand eine blonde Zwergin. Sie starrte ihn unverwandt an. Allmählich wich das Entsetzen in ihrem Gesicht unverhohlener Abscheu und der auf seinen Kopf gerichtete Lauf der Waffe hörte auf zu zittern.
Noch immer von Fragars Erinnerungen mitgenommen und verzweifelt bemüht, die Magie zu kontrollieren, die aus ihm herausbrechen wollte, war Drúdir für einen Moment wie gelähmt. Er wusste nur eines: Die Wahrscheinlichkeit, dass die notorisch unzuverlässige Pistole tatsächlich eine Kugel in Richtung seines Kopfes senden würde, mochte zwar unter fünfzig Prozent liegen, aber sie war ihm immer noch entschieden zu hoch.
Die Zwergin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Drúdir kam ihr zuvor. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die schimmernden magischen Fäden, die ihn mit seinen Lampen verbanden. Ihm war schlecht bei dem Gedanken, diese verhasste Macht zu nutzen. Doch es war definitiv der falsche Moment, um wählerisch in der Wahl seiner Mittel zu sein.
Die drei Glühbirnen tauchten den Raum in gleißendes Weiß, bevor sie durchbrannten. Drúdir konnte es selbst hinter seinen geschlossenen Augenlidern sehen. Ein heller Aufschrei und das Geräusch taumelnder Schritte verrieten ihm, dass die Unbekannte geblendet und desorientiert war. Klirrend schlug ihre Lampe auf dem Boden auf.
Drúdir öffnete die Augen, sprang auf und sprintete zur Tür. Noch vor wenigen Augenblicken hätte er geschworen, dass allein das Aufstehen ihn vor eine Herausforderung stellen würde, aber die Panik verlieh ihm ungeahnte Kräfte.
Er stieß die Zwergin zur Seite, hechtete aus der Werkstatt, durch den Vorraum und schließlich in den Regen hinaus. Rutschend und schlitternd hetzte er die Straßen entlang, bis seine Beine ihm den Dienst versagten.