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Kapitel 9 Drúdir

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Drúdir hatte gedacht, die Blicke, die Fragars Freunde und Verwandte ihm bei der Beerdigung zugeworfen hatten, wären unangenehm gewesen, aber sie waren kein Vergleich zu dem, was ihn bei der Testamentseröffnung erwartete.

Allein schon der Weg dorthin erwies sich als anstrengend. In den Straßen Nordkrones herrschte hektische Aktivität, die die Unruhe im Inneren der Stadt wiederspiegelte. Zwerge in den wuchtigen Stiefeln und dunkelgrauen Hemden von Arbeitern verteilten Flugblätter oder diskutierten hitzig miteinander. Hier und da sah Drúdir die silbergrauen Armbinden der „Hammerschwinger“, einer radikalen Splittergruppe der GUU – der „Partei für gerechte Umverteilung unionweit“ -, die ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit gerne physischen Ausdruck verliehen; vorzugsweise gegenüber Zwergen, von denen sie keine ernsthafte Gegenwehr zu erwarten hatten.

Doch noch zahlreicher waren die orangefarbenen Bänder oder altzwergisch inspirierten Kleider der „Expansionisten“, des rechten Flügels der ZSK – „Zwergische Stärke für Kiarva“. In der Regel eher dem Mittelstand oder sogar den oberen Schichten zugehörig, plädierten diese Zwerge entschlossen für eine aggressive Ausweitung des Machtbereichs der Union und einen Ausbau ihrer wirtschaftlichen Stärke um jeden Preis. Einer ihrer Lieblingssprüche war „die großen Völker sind der Feind“, aber wenn ein kopfschüttelnder Drúdir sie nun mit den Hammerschwingern aneinandergeraten sah, war davon wenig zu merken.

Vielleicht lag es an seiner magischen Begabung, vielleicht an seinem Charakter. Jedenfalls betrachtete Drúdir seine Landsleute meist mit den Augen eines Außenstehenden und hatte sich nie so recht mit irgendeiner der zahlreichen Parteien identifizieren können, die sich in den Länderparlamenten zankten oder sich im Unionsparlament einredeten, tatsächliche Macht in den Händen zu halten. Aus einem vagen Gefühl der Verantwortung heraus und weil es kein wirklicher Aufwand war, gab er bei jeder Wahl seine Stimme für die Partei ab, die er gegenwärtig für das geringste Übel hielt.

Drúdir umrundete einen johlenden, stampfenden Ring aus breiten Rücken, in dessen Mitte offenbar zwei Zwerge ihre politischen Differenzen mit Fäusten und Kopfstößen austrugen. Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich würde es bei Anbruch der Dämmerung nicht mehr nur um Arm gegen Reich, Expansionisten gegen Reformatoren gehen, sondern auch um die typischen Auseinandersetzungen zwischen alteingesessenen Nordkronern und Einwanderern aus anderen Staaten. Die Union war nur dem Namen nach eine solche.

Drúdir hatte ursprünglich geplant, sich nach der Testamentseröffnung in der nächstbesten Kneipe zu betrinken, aber angesichts dessen, was sich gerade zusammenbraute, beschloss er, sich mit ein paar Flaschen in das kleine Pensionszimmer zu verziehen, wo er gegenwärtig wohnte.

Endlich erreichte er das halb im Boden versenkte Backsteingebäude. Wie der zylinderförmige Bau, der Krematorium und Trauersaal beherbergte, handelte es sich bei dem Notarsbüro um einen säkularisierten Tempel. Wenn man so wollte, war es nach wie vor ein Ort von spiritueller Bedeutung. Zwerge nahmen Erbschaften sehr ernst.

Er glitt durch die schlichte, schwarze Tür und ließ sich von einer überkorrekt gekleideten Zwergin den Weg zu dem kleinen Raum weisen, in dem bereits einige von Fragars Freunden und Verwandten saßen. Wieder versetzte es ihm einen Stich, dass Zwerge, mit denen er einst vertraut gewesen war, ihn nun lediglich kühl musterten. Glaubten sie etwa wirklich, dass nur die Hoffnung auf ein reiches Erbe ihn zurückgebracht hatte?

Drúdir zupfte seinen steifen, weißen Kragen zurecht und versuchte, sich sein Unbehagen nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Ein Blick auf seine Taschenuhr verriet ihm, dass er trotz des Aufruhrs auf den Straßen überpünktlich war. Er sah sich vergeblich nach Wisdrin um, konnte den Bibliothekar jedoch nirgendwo entdecken.

Er unterdrückte ein Seufzen und ließ sich auf eine der harten Bänke fallen, die im Halbkreis um das kleine Rednerpult standen und blickte aus einem der kleinen, runden Fenster, die direkt über der Straße lagen. Er sah ein rennendes Beinpaar in dreckverkrusteten Stiefeln mit rostigen Schnallen. Der Anblick brachte die Erinnerung an ein anderes Stiefelpaar zurück: Makellos poliert und verblüffend leise auf den knarrenden Dielen einer nächtlichen Werkstatt.

Übelkeit wallte in ihm auf und er musste den Impuls unterdrücken, seinen Kragen zu lockern und sich zu vergewissern, dass er nicht Fragar war, nicht in seinem Blut erstickte … Ob diese Erinnerungen je aufhören würden, ihn heimzusuchen?

„Guten Tag, Drúdir“, begrüßte ihn eine dunkelblonde Zwergin in eleganter Trauerkleidung. Briris – eine weit entfernt lebende Cousine Fragars und die einzige seiner Verwandten, die seine Interessen geteilt und in ständigem Kontakt mit ihm gestanden hatte. Eine hässliche Brandnarbe, die ihren gesamten linken Unterarm bedeckte, legte Zeugnis von ihrer Faszination für experimentelle Alchemie ab. Sie hob die Hand zu einem merkwürdigen, verlegenen Winken. Aber ihr Lächeln war aufrichtig und Drúdir entspannte sich ein wenig.

„Guten Tag, Briris. Ich glaube, ich habe dich bei der Beerdigung nicht gesehen.“

„Es gab Streiks in den Bergwerken und die Eisenbahn hatte nicht genug Kohle. Ich bin einen Tag zu spät angekommen.“

„Das tut mir leid. Genau wie …“

Drúdir musste seinen Satz nicht beenden.

Briris nickte mit zusammengepressten Lippen. „Ich werde ihn vermissen.“

„Ich auch.“

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. Natürlich hatte auch sie seine jahrelange Abwesenheit nicht vergessen.

„Wir haben einander geschrieben“, entgegnete Drúdir ruhig auf ihren unausgesprochenen Vorwurf. Und ich habe immer gewusst, dass er da war. Glaub es oder glaub es nicht, aber das hat mir viel bedeutet, fuhr er in Gedanken fort, aber er sprach die Worte nicht aus. Er war ihr dankbar, dass sie die eisige Stille zwischen ihm und Fragars anderen Angehörigen gebrochen hatte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er ihr seine Gefühle anvertrauen würde.

Dennoch musste seine Miene einiges davon verraten haben, denn Briris‘ Anspannung wich traurigem Mitgefühl. „Tut mir leid, Drúdir. Ich hatte vergessen, wie nahe ihr euch gestanden habt, bevor …“

Sie brach ab, als der Notar hereingeschlurft kam. Es handelte sich um einen dünnen, hochgewachsenen Zwerg, dem jedoch mit seiner Jugend auch seine aufrechte Haltung abhandengekommen zu sein schien – was auch sein beinahe grotesk hoher Zylinder nicht zu verbergen vermochte. Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Gerade rechtzeitig“, murmelte er. Während er seinen Platz hinter dem kleinen Rednerpult einnahm und seiner abgeschabten Aktentasche eine versiegelte Mappe entnahm, ließ er müde, graue Augen über die Versammelten schweifen.

Nach einem trockenen Räuspern begann er mit einer verblüffend kraftvollen Stimme zu sprechen: „Liebe Versammelte, ich möchte Euch mein Beileid zu Eurem Verlust aussprechen. Ich fühle mich geehrt, dass Fragar – möge er in Frieden ruhen – mir seinen letzten Willen anvertraut hat, den ich nun verlesen werde.“

Es war so still, dass das Knacken, mit dem er das Siegel brach, im ganzen Raum zu hören war. Mit ruhigen Handbewegungen schlug er die Mappe auf – ein Priester der letzten Gottheit, an die moderne Zwerge glaubten: Eigentum.

Er verlas Datum und Einleitung, dann räusperte er sich von Neuem, bevor er fortfuhr. „… meine Werkstatt und mein Geld, abgesehen von den Ausnahmen, die ich noch erwähnen werde, vermache ich meiner Schwester, eine Summe von 800 Gulder und sämtliche Bücher sollen an die Sprakar-Godwis-Historig-Rúnhalar gehen, mit Ausnahme folgender Bände …“

Es folgte eine lange Auflistung der Bücher, die er in den Händen bestimmter Freunde wissen wollte. Fragar spendete seine Kleidung an eine Wohltätigkeitsorganisation und diverse obskure Gerätschaften, die mit seinen Forschungen zu tun hatten, entweder ausgewählten Freunden oder ebenfalls Wisdrins Bibliothek. Schließlich hielt der Notar inne. Drúdir glaubte schon, er sei am Ende angelangt. Viele der Versammelten schienen ebenfalls davon auszugehen. Erleichterung spiegelte sich auf ihren Gesichtern, denn häufig waren Fragars Erbstücke mit einigen persönlichen Worten einhergegangen, die die Erben aufgewühlt zurückließen. Allerdings waren sich viele von ihnen nicht zu fein, Drúdir einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, hatte er doch ihrer Meinung nach bekommen, was er durch seine Zurückweisung Fragars und seiner Ziele verdient hatte. Ungeduldig warteten sie darauf, dass die trübselige Veranstaltung zu Ende ging

Doch der Notar beugte sich noch einmal zu seiner Tasche herab und fischte eine kleine Wasserflasche heraus. Nachdem er sich einen langen Zug genehmigt und die Flasche sorgfältig wieder verstaut hatte, blätterte der ältliche Zwerg ein letztes Mal um. „Dir, Drúdir“, sagte er, „vererbe ich meine sämtlichen Werkzeuge und ein weiteres Erbstück, das in der Rúnhalar Nornírwatara auf dich wartet. Wende dich an Rúnwis, wenn du dich bereit fühlst, es entgegenzunehmen. Ich hoffe sehr, dass du eines Tages dein wahres Potenzial erkennen wirst. Aber selbst wenn nicht, warst du in vieler Hinsicht der begabteste meiner Lehrlinge und egal, wann du diese Worte hörst, wird es immer noch zu früh sein, denn ich hätte gerne noch länger Anteil an deinem Leben genommen.“

Drúdir schluckte.

Fragars Worte hatten ihn so tief erschüttert, dass ihm erst einige Sekunden später klar wurde, dass er den Namen Rúnwis bereits zum zweiten Mal in wenigen Tagen hörte.

Einige Unterschriften und angespannt höfliche Wortwechsel später konnte er endlich ins Freie entkommen. Seine Abschrift des Testaments hing wie ein totes Tier in seiner Hand – angesichts des eisigen Regens, der ihn draußen empfing, verstaute er sie jedoch eilig in einer Tasche seines Mantels. Und natürlich hatte er gerade heute seinen Hut vergessen. Aber so widerwärtig es auch sein mochte, erfüllte das Wetter heute wahrscheinlich viele Bewohner Nordkrones – vor allem die Polizisten – mit Dankbarkeit, hatte es doch die aufgebrachten Zwerge, die am Nachmittag die Straßen unsicher gemacht hatte, verlässlich in ihre Häuser vertrieben.

Die Hände in den Manteltaschen vergraben und die Schultern den Herbstböen entgegengestemmt, ignorierte Drúdir die nahe Straßenbahnstation und stapfte mit entschlossenen Schritten los.

Er wollte nicht riskieren, dort mit Fragars Freunden zusammen warten zu müssen und sich entweder ihren vorwurfsvollen Blicken auszusetzen oder aber ihre hoffnungsvollen Fragen zu ertragen, ob er sie nicht doch wieder in ihren Studien unterstützen würde. Die genaue Natur seine Begabung war nur Fragar und Wisdrin bekannt gewesen, aber Fragar hatte genug Andeutungen über sein magisches Talent fallen lassen, um das Interesse seine Freunde zu wecken.

Um die Erinnerungen an seinen Mentor aus seinem Kopf zu vertreiben, lenkte Drúdir seine Gedanken auf die Zukunft.

Schwarzspiegel. Er war noch nie dort gewesen, kannte die Stadt aber aus Zeitungsartikeln, Geschichtsbüchern und nicht zuletzt den Erzählungen Fragars und Wisdrins, die beide ehrfürchtig von der Unterstadt geschwärmt hatten, von der berühmten Universität der Stadt und den technischen Wunderwerken, die es dort zu bestaunen gab. Drúdir hatte schon immer dort hinreisen wollen, aber er hätte sich nie träumen lassen, dass es unter solchen Umständen geschehen würde.

Wieder staunte er über den merkwürdigen Zufall, dass sowohl Fragars Erbe als auch Kargans Spur ihn in die berühmte Universitätsbibliothek der unterirdischen Stadt führten. Doch angesichts dessen, dass Wisdrin, Kargan und Fragar lange in denselben Kreisen verkehrt hatten, war es wahrscheinlich kein Wunder, dass sie alle den Professor kannten. Rúnwis Jalrisson … Wisdrin hatte ihm einiges über ihn erzählt und Drúdir an ein paar aufgeschnappte Gespräche aus seiner Zeit mit Fragars Freunden erinnert. Unter diesen war Rúnwis eine umstrittene Figur, Kopf eines kleinen, exklusiven Zirkels von Gelehrten, der gerüchteweise magische Experimente durchführte, die er selbst vor dem Rest des Netzwerks geheim hielt. Er stand in dem Ruf, ein schroffer Einzelgänger mit einem Hang zur Geheimnistuerei zu sein; genial, aber wenig geneigt, sein Wissen zu teilen.

Drúdir konnte sich nicht vorstellen, dass der Wissenschaftler ihm ohne Weiteres verraten würde, was Kargan zu ihm geführt hatte. Aber darum würde er sich kümmern, wenn es so weit war. Im Moment wusste er nur eines: Er würde nicht aufgeben, bis er Fragars Mörder gefunden hatte. Und dann … Was dann? Seine Art der Recherche förderte nicht die Art Beweis zutage, die er einem Gericht vorlegen konnte. Was würde er also tun, wenn er Fragars Mörder gefunden hatte? Eine weitere Frage, die er zur späteren Betrachtung in einem abgelegenen Winkel seines Bewusstseins wegschloss.

Als er schließlich in die schmale Gasse einbog, in der seine Pension lag, waren sein Haar und der nicht von seinem Mantel geschützte Hemdkragen klatschnass. In der Dämmerung und im Regen sah der schmale Spalt zwischen zwei Häusern, die man in den letzten Jahren beide um je zwei improvisiert aussehende Stockwerke erhöht hatte, noch düsterer und trübseliger aus als sonst. Die quietschend in ihren Halterungen pendelnden Gaslampen, die über einigen Türrahmen hingen, waren größtenteils außer Betrieb. Nur eine von ihnen warf ihr trübes Licht auf das regennasse Pflaster und eine Masse neben seiner Haustür, die ihn an einen überdimensionalen Pilz erinnerte.

Bei seinem Anblick richtete der Pilz sich auf und verwandelte sich in eine ihm wohlbekannte Zwergin mit Regenschirm.

„Endlich!“, rief Findra. „Ich habe Neuigkeiten.“

Drúdir

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