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Kapitel 2 Drúdir
ОглавлениеMit der Nacht endete auch der strömende Regen. Drúdir stand am Rand eines leergefegten Platzes und sah zu, wie das bleiche, eisige Licht der Dämmerung allmählich über den Himmel kroch. Selbst der Qualm der Fabrikschlote kringelte sich in dünnen, verzagten Fäden über den noch immer tropfenden Dächern, als fühle er sich in dem weiten, farblosen Himmel verloren.
Drúdir starrte mit steifem Nacken in die Leere hinauf. Ungebeten legte sich seine beinahe bis ins Unerträgliche geschärfte magische Sicht darüber. Schimmernde Energiebahnen waberten über den Dächern wie breite Seidenbänder durch Wasser. Dort oben waren die Muster einfacher und runder, die Bewegungen der Magie langsamer.
Nach Stunden der Flucht und der Suche nach Ablenkung in heruntergekommenen Bars, die in seiner Erinnerung zu einem einzigen rauchverhangenen, alkoholdunstgeschwängerten Raum verschwammen, hatte er schließlich resigniert und sich ganz diesen neuen Eindrücken ergeben.
Er sah die Magie nicht nur, sondern spürte sie auch auf schwer fassbare Weise. Drúdir musste nicht in die entsprechende Richtung sehen, um die unsteten Ströme und Knoten der Energie zu kennen.
Und auch sein eigenes Eingeflochtensein in das ständig halb im Entstehen, halb in Auflösung begriffene Gewebe der Magie war ihm noch nie so bewusst gewesen. Jeder seiner Gedanken, jede seiner Empfindungen wurde zu einem schimmernden Ornament, einem komplizierten Knoten oder einer scharfen Krümmung. Wo auch immer er sich hinbewegte, bogen sich die Magiebahnen zu ihm hin, um sich mit seiner Aura zu verflechten – weit mehr, als sie es bei jedem anderen Objekt oder Lebewesen taten, das ihm je begegnet war. Sein Leben lang hatte Drúdir sich eingeredet, er wäre wie jeder andere Zwerg, aber auf dieser anderen Ebene der Sicht trug er das Stigma seiner Begabung wie eine finstere Standarte.
Da waren nicht nur die breiten Lichtbänder und verschlungenen Knoten, die er bisher gesehen hatte. Nein, jedes einzelne Band war aus unzähligen feineren Fäden gewoben, die ihrerseits aus komplexen Verflechtungen und Knoten haarfeiner Fasern bestanden. Drúdir konnte sie alle so klar und detailliert sehen wie nie zuvor. Und so sehr ein Teil von ihm sich auch wünschte, in einer Welt zu leben, in der der Platz nur aus rußgeschwärzten Häusern unter einem grauen Himmel bestand, konnte er doch nicht umhin, über die Komplexität und Anmut der Magiebewegungen zu staunen. Sie fühlten sich auf schwer fassbare Weise fremdartig an, als würden sie halb in eine andere Welt gehören, aber zugleich wirkten sie in ihren Bewegungen und Mustern so vollkommen und organisch, dass Drúdir nicht anders konnte als innerlich all denen zu widersprechen, die Magie als widernatürlich und böse verfluchten.
Dennoch verstand er ihre Angst. Jeder einzelne dieser Stränge trug so viel Macht, so viele Informationen, so großes Potenzial zur Zerstörung in sich … und mehr Rätsel, als ein Zwerg je würde lösen können.
Auch das war einer der Gründe gewesen, warum er dem Netzwerk den Rücken gekehrt hatte: Zu viele seiner Mitglieder waren allzu begierig darauf, mit Kräften zu spielen, die sie nicht einmal ansatzweise verstanden.
Diese Überlegung brachte die Erinnerung an Fragar zurück. Auch er hatte die Magie sehen können … allerdings wahrscheinlich nie mit derselben Schärfe, mit der Drúdir sie jetzt wahrnahm. Beinahe bedauerte er das. Er wusste, wie viel seinem Meister dieser ehrfurchtgebietende Anblick bedeutet hätte.
Als hätte dieser Gedanke etwas in ihm gelöst, gelang ihm plötzlich mühelos, worin er bisher versagt hatte: Sein Zweites Gesicht gehorchte endlich seinen Wünschen, und als er den Kopf senkte, fiel sein Blick auf regennasses Pflaster. Er rollte die Schultern, um seine verkrampften Nackenmuskeln zu lockern, und blickte wieder auf. Noch immer war er aufgewühlt. Die Flucht vor der unbekannten Zwergin, die quälende Vision von Fragars Tod und das sonderbare Bedürfnis, nach den allgegenwärtigen Magiefäden zu greifen und sie zu einem neuen Muster zu verweben … nichts war mehr, wie es zuvor gewesen war.
Und zu allem Überfluss würde die Suche nach Fragars Mörder ihn wahrscheinlich tiefer in die verworrenen Strukturen des Netzwerks führen, als ihm lieb war. Drúdir seufzte.
Dann straffte er den Rücken und setzte sich mit langsamen, aber entschiedenen Schritten in Bewegung.
Es war an der Zeit, seine Suche zu beginnen. Und er wusste auch schon, wo.
Zweieinhalb Stunden (und einige Flüche über knapp verpasste Straßenbahnen) später klopfte er an eine altersdunkle Tür irgendwo in den Ausläufern der Stadt. Sie gehörte zu einem im traditionellen zwergischen Stil erbauten Gebäude: Gedrungen und langgestreckt, mit einem gewölbten Schieferdach und mit kunstvollen, geometrischen Mustern versehenen Metallbeschlägen an Türen und Fensterläden.
Ein sorgfältig poliertes Messingschild wies jeden, der nahe genug kam, um die winzigen Buchstaben zu entziffern, darauf hin, dass dieses Gebäude die „Sprakar-Godwis-Historig-Rúnhalar“ beherbergte – die Bibliothek für Sprachen, Theologie und Geschichte. Ein etwas später angebrachtes Schild bat um Spenden, um die Bewahrung unschätzbar wertvollen Wissens für spätere Generationen zu gewährleisten. Es hatte bereits hier gehangen, als Drúdir die Bibliothek zum ersten Mal betreten hatte und er konnte sich gut vorstellen, dass es heute ebenso wenig Wirkung erzielte wie damals.
Die Tür schwang auf und Drúdir fand sich Auge in Auge mit Wisdrin Halison. Der letzte Bibliothekar, wie er sich gelegentlich selbstironisch nannte, sah müde aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und sein Haar war mittlerweile vollkommen weiß. Den Gehstock mit dem silbernen Knauf hatte er bereits vor zehn Jahren immer bei sich gehabt, aber nun schien er tatsächlich Gewicht darauf zu verlagern. Trotzdem hielt er sich kerzengerade und duldete Nachlässigkeit in seiner Erscheinung ebenso wenig wie früher. Drúdir ließ seinen Blick über Wisdrins perfekt gebügeltes Hausjackett, das blütenweiße Hemd und die polierten Schuhe gleiten und schüttelte innerlich den Kopf. Trotzdem vermied er es, an sich selbst herabzublicken. Etwas an Wisdrin vermittelte einem das plötzliche, unerklärliche Bedürfnis, korrekt auszusehen.
„Drúdir …“
Es war eines der wenigen Male, dass er Wisdrin überrascht erlebte. Was sich jedoch nicht verändert hatte, war der leichte Akzent des älteren Zwerges, den Drúdir immer mit einer gewissen, altmodischen Kultiviertheit assoziierte.
„Hallo, Wisdrin.“
Wisdrin zögerte für einen Moment und vollführte ein paar seltsame, unvollendete Bewegungen, als erwöge er, Drúdir zu umarmen, beschied sich dann jedoch mit einem verblüffend kräftigen Händedruck und dem kurzen Aufflackern eines warmen Lächelns.
„Ich habe deinen Abschied bedauert.“
„Natürlich“, bemerkte Drúdir mit einem halben Lächeln. „Unbezahlte Gehilfen sind nicht allzu leicht zu finden, nehme ich an.“
„Du hast keine Vorstellung.“ Wisdrins Gesicht wurde ernst. „Es tut mir leid um Fragar. Er war einzigartig. Sein Tod … das hätte nicht geschehen dürfen.“
Drúdir nickte ernst. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, als die Bilder der letzten Nacht jäh auf ihn einhämmerten. Es kostete ihn mehr Beherrschung, als er sich selbst zugetraut hätte, sich nicht mit beiden Händen an die Kehle zu fahren und im Anschluss dem unbekannten Mörder noch einmal leidenschaftlich Rache zu schwören.
Mit einiger Mühe brachte er sein Gesicht unter Kontrolle und konzentrierte sich ganz auf Wisdrins Miene. Die hellblauen Augen des alten Zwerges begegneten den seinen. Er las Melancholie darin, Mitgefühl, aber auch eine scharfe Intelligenz, die hinterfragte und kalkulierte … und sich angesichts von so viel unverhüllter Emotion vor Verlegenheit wand. Nach einem langen, sezierenden Blick wandte sich Wisdrin von Drúdirs Schmerz ab wie ein pietätvoll Trauernder von einem offenen Grab.
„Am besten, du kommst herein. Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten? Ich schätze viele Aspekte dieser neuen Zeit nicht besonders, aber die neuen Teeklipper wiegen einiges davon auf. Man könnte ein paar Lieferungen tatsächlich als frisch bezeichnen.“
Drúdir folgte Wisdrin nach drinnen. Das Foyer der Bibliothek war ebenso makellos gepflegt wie Wisdrins Kleidung, aber die allgegenwärtige Sauberkeit hob eher noch hervor, dass es, ebenso wie die Bibliothek selbst, nur ein Schatten seiner selbst war. Die kunstvollen Wandteppiche, die in dramatischen Bildern Begebenheiten der zwergischen Geschichte und Mythologie festhielten, waren bereits vor Jahren verkauft worden. Nur noch ein paar Zeichnungen und Landkarten hingen an den Wänden. Noch immer verlief ein Teppich über die Stufen, die zum Hauptsaal hinaufführten, aber man erahnte sein einstiges Grün eher, als dass man es tatsächlich sah, so ausgeblichen war er mittlerweile.
Wisdrin schob einen der langen, ebenso verblichenen Vorhänge zur Seite, die an jeder Seite der Treppe bis zum Boden hingen. Es knarrte leise und Drúdir wusste, dass Wisdrin die Tür eines der Zimmer aufschob, die einst als Lagerräume für Werkzeug und Putzutensilien gedient hatten und von denen der Bibliothekar nun eines zum Kochen und eines zum Schlafen nutzte.
„Geh doch nach oben, während ich Tee koche“, rief Wisdrin. Er war vielleicht nicht der einzige Zwerg, der sich nichts aus starkem, dunklem Bier machte, aber womöglich der einzige, der es offen zugab.
Drúdir stieg die Stufen hoch und fragte sich, ob seinem Gastgeber jetzt Staub auf den Kopf rieselte. In Wisdrins Jugend hätte wohl niemand gedacht, dass er eines Tages so leben würde. Bevor Grüntal mit seiner Hauptstadt Nordkrone ein Bundesstaat der Union wurde, war es, obwohl nominell eine direktdemokratische Republik, dennoch von einer Handvoll aristokratischer Familien und der Priesterschaft des Lohi regiert worden. Als Nachkomme einer der reichsten Adelsfamilien und geweihter Priester des größten Lohi-Tempels hatte der auffallend intelligente Wisdrin mit einer rosigen Zukunft rechnen können – bis die Magierkriege und das darauffolgende Verbot der Magie und der Abschaffung des institutionalisierten Glaubens alles verändert hatten. Wisdrin war neutral geblieben, während seine Familie sich auf die falsche Seite geschlagen hatte. Dadurch wurde er der Alleinerbe eines bemerkenswerten Vermögens, welches er bis zum letzten Gulder in die Erhaltung der Tempelbibliothek steckte.
Drúdir schob eine schwere Eichentür auf. Die filigranen Verzierungen an der Messingklinke und die eckigen Knotenmuster, die in das Holz geschnitten waren, kündeten von vergangener Pracht, aber die offensichtliche Kunstfertigkeit ihres Schöpfers hatte Drúdir nie so beeindruckt wie das, was dahinter lag.
Kaum hatte er die Bibliothek betreten, umfingen ihn samtige Stille und der Geruch unzähliger Bücher. Zu beiden Seiten des langgestreckten Raumes erhoben sich deckenhohe Regale, auf denen sich ein ledergebundener Buchrücken an den anderen reihte. Eine verschnörkelte Wendeltreppe führte auf den Dachboden, wo sich die Regalreihen, wie er wusste, fortsetzten, auch wenn viele von ihnen mittlerweile leer waren. Zwischen den Regalen standen mit Schnitzereien verzierte Lesepulte. Zwei von ihnen wurden von Käfigen aus kunstvoll ineinander verschlungenen Eisenstangen vom Rest der Bibliothek abgeschnitten – hier hatten sich jene einschließen müssen, die die wertvollsten und gefährlichsten Werke studiert hatten. Bücher, die im allgemeinen Chaos nach den Magierkriegen gestohlen worden waren. Wisdrin hatte diesen Verlust nie so ganz verwunden.
Drúdir stellte sich vor, wie es hier einst zugegangen sein musste: Gelehrte aus allen Ecken der heutigen Union, die sich gedämpften Schrittes durch den Lesesaal bewegten und mit gesenkten Stimmen diskutierten. Studenten und Novizen des Tempels, die ehrfürchtig an den Regalen aufblickten oder sich an den Lesepulten Notizen machten, Bibliothekare, die mit Argusaugen über die Schätze der Bibliothek wachten, Zwerge, die von langen Reisen zurückkehrten, um der Sammlung weitere, wertvolle Bände hinzuzufügen, die gelesen und diskutiert werden wollten …
Fast schon glaubte er, die Dielen unter behutsamen Schritten knarren und vielstimmiges Wispern erklingen zu hören. Goldener Glanz schimmerte am Rand seines Sichtfelds und beinahe instinktiv wechselte er in seine magische Sicht.
Was er sah, raubte ihm den Atem. Es war nicht das schreckliche Versprechen der Totenscherben, nicht der beinahe unerträgliche Glanz und das unstete Flackern der Magieströme der Stadt. Die Magie, die der Bibliothek innewohnte, war wunderschön in ihrer Subtilität. Kaum sichtbare Bänder verbanden Bücher, die einander beeinflusst hatten, zu einem feinen, schimmernden Netzwerk. Wieder andere Bände pulsierten in dem Rhythmus, in dem wissbegierige Finger einst ihre Seiten umgeblättert hatten. Natürlich. All der Aufwand, der in jedes einzelne Buch geflossen war, hatte Magie darin konzentriert, die wiederum mit den Mustern interagierte, die die Gedanken und Gefühle der Leser woben. Drúdir wäre der Letzte gewesen, der Büchern ihre ganz eigene Magie absprach, aber obwohl es ihm im Nachhinein betrachtet als vollkommen logisch erschien, hätte er nie gedacht, dass dies so wörtlich zu verstehen war.
„Ich hatte mich schon gefragt, wann du es auch sehen wirst“, sagte Wisdrin hinter ihm. Drúdir wirbelte herum – und fragte sich, was ihn mehr überraschte: Das Geschick, mit dem der ältere Zwerg knarrende Dielen vermieden hatte (ein Kunststück auf diesem Boden), die Offenbarung, die sich in seinen Worten verbarg oder der sanfte Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Auch?“
Stumm und ohne Eile schälte Wisdrin sich aus seinem Jackett, das er akribisch faltete und auf einem Lesepult ablegte. Dann öffnete er seine Manschettenknöpfe und schob die Ärmel seines Hemdes bis weit hinter die Ellenbogen zurück. Seine Unterarme waren nahezu haarlos und blass wie die Haut der unterirdischen Zwerge von einst. Umso deutlicher traten die geschwungenen Ornamente und winzigen Runen hervor, die man ihm mit dunkler Tinte unter die Haut gestochen hatte.
„Du warst … bist ein Praktizierender des Tempels?“
Wisdrin nickte. „Warst. Ich habe immer nur gerade genug Magie beherrscht, um stets das richtige Buch zu finden und das eine oder andere Experiment durchzuführen. Als Alchemist oder Beschwörer hätte ich vielleicht größere Macht erlangen können, aber ich hatte andere Prioritäten.“ Seine Stimme war sachlich und sein Gesicht spiegelte nichts als freundlichen Gleichmut – der in krassem Gegensatz zu seinem durchdringenden Blick stand. „Allerdings sind meine Fähigkeiten nach wie vor ausreichend, um zu erkennen, wenn jemand jüngst Magie gewirkt hat. Du bist ein magisches Leuchtfeuer, Drúdir – noch mehr als sonst. Und ich glaube auch zu wissen, warum du deine Vorbehalte vorübergehend ignoriert hast.“
Drúdir nickte ruckartig. Er mied Wisdrins Blick. „Du vermutest ganz richtig, schätze ich. Und deshalb bin ich hier.“
Statt sofort auf seine Antwort einzugehen, brachte Wisdrin seine Kleidung mit derselben Sorgfalt in Ordnung, mit der er sich ihrer entledigt hatte. „Ich glaube, der Tee ist fertig. Begleitest du mich ins Foyer?“
Stumm folgte Drúdir ihm. Wisdrin wies auf einen der beiden Stühle, die an einem kleinen, runden Tisch am Fuß der Treppe standen und verschwand kurz hinter einem der verblichenen Vorhänge, um dann mit einem Tablett zurückzukehren. Er goss ihnen mit der zurückhaltenden Eleganz eines elfischen Teemeisters grünen Tee ein, dessen Duft und kräftiger Smaragdton Drúdir beinahe ein müdes Lächeln entlockten. Für einen Mann, der in einem Schrank lebte, hatte Wisdrin einen kostspieligen Geschmack.
Schließlich setzte der Bibliothekar seine Tasse ab. Er schien nach einem behutsamen, eleganten Einstieg gesucht zu haben und kläglich gescheitert zu sein. „Also, was hast du gesehen, Drúdir?“
Wisdrins Direktheit ließ ihn zusammenzucken. Er antwortete so sachlich, wie er konnte: „Fragars letzte Minuten.“
Wisdrin lehnte sich nicht vor, aber ein harter, kalter Ausdruck trat in seine Augen und etwas Gebieterisches in seine Stimme. „Hast du seinen Mörder gesehen?“
„Er stand hinter Fragar. Alles, was ich habe, ist der Anblick seiner Schuhe, der Klang seiner Stimme und ein Name.“ Drúdir senkte die Stimme, als wären sie Darsteller in einem Zwei-Kupfrir-Drama. Das half ihm, die Bilder auf Distanz zu halten. „Kargan“, raunte er nach einer Kunstpause.
Unglauben flackerte in Wisdrins Miene auf, gefolgt von Misstrauen und Wut. „War er es?“
„Zumindest ist der Mörder losgeschickt worden, weil jemand glaubt, Kargan könnte Fragar etwas über ein Projekt verraten haben, an dem er gearbeitet hat. Fragar hatte keine Ahnung, was genau es war, aber Kargans Fragen und Andeutungen haben gereicht, um ihn misstrauisch werden zu lassen.“
Drúdir schwieg. In seinem Inneren klangen die Empfindungen nach, die Kargans Name in Fragar ausgelöst hatte. Besorgnis, Bedauern … und Enttäuschung.
Wisdrin schüttelte leicht den Kopf. Es war bemerkenswert, wie viel Verachtung er in eine Geste legen konnte, die kaum mehr als eine Andeutung war. „Ja, das klingt ganz nach Kargan.“
Drúdir wartete auf eine Erläuterung. Sie kam nicht. Schlafmangel und emotionale Erschöpfung erlangten mühelos den Sieg über Wisdrins mäßigenden Einfluss. „Wer beim Abgrund ist Kargan?“, verlangte er schließlich zu wissen und weigerte sich, angesichts des Widerhalls seiner Stimme Verlegenheit zu empfinden.
Wisdrins Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Ich dachte, das wüsstest du. Kargan war so etwas wie dein Vorgänger als Fragars Lehrling.“
„Augenblick. Das Gesicht, das Fragar vor Augen hatte, gehörte einem Menschen.“
„Ich bezweifle, dass dies Fragar entgangen ist. Kargan hat bei ihm auch keineswegs gelernt, Uhrwerke zusammenzubauen.“
„Du klingst missbilligend.“
„Ich war Kargan nicht gerade zugetan. Ich habe unter den Praktizierenden des Tempels zu viele Leute getroffen, denen er in seiner Einstellung allzu ähnlich war.“
„Leute, wie die, denen wir die Magierkriege und das Magieverbot verdanken?“
Wisdrins Lächeln war bitter und ein wenig boshaft. „Nein, Drúdir. Die verdanken wir eher Leuten wie dir.“
Weder die Enthüllungen über Fragars Tod noch Drúdirs bohrender Blick brachten den ehemaligen Priester aus der Ruhe. Genüsslich lehnte Wisdrin sich zurück und ließ seine Worte wirken. Erst, als die Stille beinahe unerträglich wurde, schenkte er ihnen Tee nach und begann mit der unterdrückten Freude eines Mannes, der viel zu selten Gelegenheit erhielt, sein Wissen zu teilen, zu erzählen: „Du hattest immer gewisse Vorbehalte, dich mit deiner Begabung auseinanderzusetzen und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du es vorgezogen hättest, wenn jeder andere sie ebenso ignoriert hätte. Unnötig zu sagen, dass mir nichts fernerlag.“ Ein kaum merkliches, selbstironisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich habe also ein paar Recherchen angestellt – mit interessanten Ergebnissen. Deine Begabung, Drúdir, ist unglaublich selten. Und sie hat eine Eleganz, die ich bewundern muss.“
In seiner Erinnerung fand sich Drúdir auf dem Boden einer dunklen Werkstatt wieder, die Hände um seine Kehle gekrampft und vergeblich nach Luft schnappend, während ihm Fragars warmes Blut über die Finger rann. Eleganz, gewiss doch.
Wisdrin war ein Meister darin, Andeutungen und subtilste Zeichen zu lesen … in literarischen Werken. So fuhr er fort, ohne Drúdirs Gesichtsausdruck weiter Beachtung zu schenken. „Aber so selten sie auch sind, sind doch einige Fälle von anderen Halirúnir – Menschen würden sie als Nekro…“
Drúdirs Blick brachte Wisdrin zum Verstummen. Der ältere Zwerg seufzte. „Herrje, Drúdir. Ich habe mir die Terminologie nicht ausgedacht. Jedenfalls gab es einige Magier mit deiner Begabung. Diejenigen, die unfähig waren, sie zu kontrollieren, können wir getrost außer Acht lassen, aber die, die wahre Meisterschaft darin erlangten … das ist eine andere Geschichte. Sie tendierten dazu, außergewöhnliche Leben zu leben. Aber danach fragst du besser jemand anderen. Ich habe immer eher die Natur der Magie erforscht, als die Geschichte ihrer Anwendung.“
Es war leicht zu durchschauen, was Wisdrin beabsichtigte. Und es funktionierte. Er hatte Drúdir am Haken. „Wen?“
„Rúnwis Jalrisson. Du wirst ihn sowieso bald aufsuchen.“
„Wieso das?“
„Weil Kargan das vor gerade einmal vier Monaten getan hat. Oh, und Drúdir?“
„Ja?“
Wisdrin beugte sich vor. Blanker Hass brannte in seinen hellen Augen und seine Stimme klang eine Oktave tiefer. „Lass nichts unversucht, um Fragars Mörder zu finden.“