Читать книгу Drúdir - Swantje Niemann - Страница 16
Kapitel 11 Findra
ОглавлениеRatternd und stampfend fraß die Dampflokomotive mit ihrem langen Schwanz aus Waggons Meile für Meile. Findra blickte versonnen aus dem Fenster. Am Morgen hatte sich dichter Nebel herabgesenkt. Er vermengte sich mit dem Rauch, der von der Lokomotive zu ihnen herantrieb. Geisterhaft zeichneten sich die Silhouetten hoher Nadelbäume vor den Fenstern ab. Hin und wieder schabten Zweige wie dürre Finger über das Glas. Dennoch war die Zwergin froh über ihren Fensterplatz. Wenn sie nach draußen blickte, konnte sie für einen Moment vergessen, wie beengt die Waggons der dritten Klasse waren.
Ja, wegsehen half. Wenn auch nicht gegen die stickige Luft. Sie schielte zu Drúdir hinüber, um zu sehen, ob er auch unter der Enge litt, aber der dunkelhaarige Zwerg war eingeschlafen, sein Kopf gegen die Scheibe gesackt. Wahrscheinlich würde er bald mit heftigen Nackenschmerzen erwachen, aber im Moment wirkte sein Gesicht entspannt. Das diffuse, weiße Licht des nebligen Morgens verlieh ihm eine kränkliche Blässe. Zum ersten Mal fielen Findra die purpurnen Schatten unter seinen Augen auf. Als er heute Morgen aus dem schäbigen Schlafsaal der Bahnhofsherberge in Grabenstadt gestolpert war, hatte er etwas über schnarchende Mitreisende und unbequeme Betten gemurmelt, aber Findra glaubte sich zu erinnern, dass er bereits an den beiden Tagen, die es sie gekostet hatte, ihre Reise zu arrangieren, permanent müde ausgesehen hatte. Findra schielte auf das Schimmern seiner Uhrenkette. Sie wünschte, sie könnte ihn nach der Zeit fragen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie zum letzten Mal umsteigen mussten. Wenn der Name Schwarzspiegel fiel, dachten die meisten Zwerge an die Stadt unter dem Berg, aber tatsächlich handelte es sich dabei nur um ihr kaum bewohntes Zentrum. Das eigentliche Schwarzspiegel erstreckte sich teils überirdisch auf dem Hang des Schwarzspiegelberges und seines Nachbarn, Kupferkrone. Im Gegensatz zu der unterirdischen Altstadt – es gab kaum einen zwergischeren Ort – war das überirdische Schwarzspiegel aufgrund seiner Lage an einem der Pässe, die zu den Menschenländern im Süden führten, ein lebendiges Handelszentrum, in dem auch Menschen, Trolle und Gnome ihre Viertel hatten. Sogar einige Elfen hatten sich dort niedergelassen, geduldet wegen ihres Reichtums und ihrer guten Handelsverbindungen. Dank seiner günstigen Lage beherbergte Schwarzspiegel den größten Bahnhof und Luftschiffflughafen der Union – beinahe zumindest. Der Boden um die Stadt herum war zu uneben, weshalb deren Gelände vielleicht eine Stunde entfernt lag. Aber von dort aus fuhren jede Stunde Züge ins Zentrum Schwarzspiegels.
Ein Schaffner quetschte sich durch eine halb von einem gigantischen Koffer blockierte Tür in das Massenabteil. Das dunkle Rot seiner Uniform biss sich mit dem Karottenton seines Haares. Er hob eine Trillerpfeife an die Lippen. Der gellende Pfiff sicherte ihm die Aufmerksamkeit aller Fahrgäste. Drúdir wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen und stieß einen derben Fluch aus, der in der markerschütternden Ansage „Nächster Halt: Bahnhof und Flughafen Hangstadt“, unterging.
„Wir müssen aussteigen.“ Findra musste beinahe schreien, um sich über das Rattern des Zuges und die Aufzählung der Anschlusszüge hinweg Gehör zu verschaffen.
„Ich weiß“, entgegnete der soeben erwachte Drúdir mürrisch und zog eine Grimasse, als er den Kopf wandte. Die Ellenbogen angezogen, um sie nicht gegen die Scheibe oder seinem Nachbarn ins Ohr zu rammen, massierte er sich den Nacken mit beiden Daumen. Dann stand er seufzend auf und griff nach oben ins Gepäcknetz. In einer Geste spöttischer Galanterie reichte er Findra ihren Koffer herab – und stieß ihn ihr versehentlich gegen die Schienbeine, als der Zug ruckartig verlangsamte. Dann zerrte er seine eigene, unförmige Reisetasche herab. Allein den Koffer mit Fragars Werkzeugen hob er sorgfältig herunter. Sie hätten bereits einen Tag früher abreisen können, aber Drúdir hatte warten wollen, bis die Nordkroner Polizei alle potenziellen Beweisstücke freigab und er die Werkzeuge seines Meisters in Empfang nehmen konnte. Angesichts seines unsteten Lebensstils konnte er nicht wissen, wann er wieder in die Stadt zurückkehren würde und obwohl die Post zuverlässig war, konnte Findra verstehen, dass er das kostbare Erbstück lieber bei sich behielt. Dennoch war es ihr schwergefallen, zu warten. Als wandernder Uhrmacher und Feinmechaniker, dessen ausgezeichnete Referenzen es ihm erlaubten, beinahe überall Arbeit zu finden, hatte Drúdir keinerlei Pflichten, die ihn an irgendeinen Ort banden, aber Findra war sich nur zu bewusst, dass ihr unerwarteter Urlaub mit jedem Tag weiter zusammenschnurrte. Und sie wollte nicht riskieren, Baidur zu verärgern. Ganz abgesehen davon, dass sie ihren Lohn brauchte.
Schließlich kam die Bahn ganz zu stehen und in einem einzigen mürrischen, schwer bepackten Gedränge strebten die Passagiere nach draußen. Im Türbereich wurde das Drücken und Schieben so heftig, dass Findra für einen Moment nicht mehr atmen konnte – sie war froh, dass sie für die Reise darauf verzichtet hatte, ihre Röcke modisch aufzupolstern – aber endlich schafften es alle nach draußen und verteilten sich auf dem Bahnsteig, gierig nach frischer Luft und Bewegungsfreiheit.
Der Bahnsteig roch beißend nach dem Qualm der eingefahrenen Bahn, aber war bemerkenswert großzügig angelegt. Trotzdem war er nicht annähernd so beeindruckend wie die zentrale Halle, in die sie von der Menge der Passagiere geschwemmt wurden.
Es handelte sich um ein beeindruckendes Denkmal für den Wohlstand Südlands, des mit Abstand reichsten Staates der Union. Mosaiken schmückten die Wände, die Steinplatten des Bodens glänzten wie graue Spiegel und Gaslampen in kunstvollen Messinghalterungen tauchten die Szenerie in helles Licht. Zwerge in den dunkelblauen Uniformen der Wuthri-Linien, des größten Bahnunternehmens der Union, eilten hin und her, kurze Leitern hoch über die Köpfe gehoben. Hier und da stellten sie sie ab und kletterten daran empor, um die Schiefertafeln an den Wänden zu aktualisieren, die über ankommende und abfahrende Züge informierten. Unzählige Reisende bewegten sich zielstrebig hin und her.
Es waren vor allem Zwerge, aber wenn man genauer hinsah, erkannte man hier und da den watschelnden Gang und die olivfarbene Haut von Gnomen oder die kleinen, flinken Gestalten und unverkennbaren Fledermausohren von Kobolden. Leichter auszumachen waren die Menschen, die die Zwerge allesamt um mindestens einen Kopf überragten. Die Vielfalt an Teints, Kleidungsstilen und Frisuren verriet, dass sie aus allen Winkeln des Kontinents kamen.
Ein elegant gekleidetes Paar kam direkt auf Findra zu. Der dunkelhaarige Mann war selbst für einen Menschen groß und sehr schlank. Er trug einen meisterhaft geschneiderten Gehrock und einen hohen Zylinder auf dem offenen, dunklen Haar. Die meisten Zwerge und Menschen hatten es angesichts der verschmutzten Luft aufgegeben, Weiß zu tragen und bevorzugten daher Schwarz, Dunkelblau oder die intensiven Herbstfarben, die neuerdings so billig chemisch produziert werden konnten. So fiel der Mann in seinem makellos weißen Hemd umso mehr auf.
Als er noch ein paar Schritte näherkam, erkannte Findra, dass er auch anders gekleidet Blicke auf sich gezogen hätte: Sein schmales, perfekt symmetrisches Gesicht mit den hohen Wangenknochen und fein geschwungenen, zu einem spöttischen Lächeln verzogenen Lippen machte seine elfische Herkunft so unverkennbar wie seine kaum merklich spitz zulaufenden Ohren und der säuerliche Gesichtsausdruck des Zwerges, der einen Wagen mit seltsam geformten Gepäckstücken hinter ihm und seiner Begleiterin herschob. Auch seine weißblonde Begleiterin war nach der Mode der zentralkiarvanischen Menschen gekleidet, in ein mauvefarbenes Reisekostüm mit ausladendem Reifrock. Das Korsett, das sie zweifellos unter der Jacke trug, übersteigerte ihre natürliche Schlankheit ins Groteske. Trotz ihrer restriktiven Kleidung bewegte sie sich mit derselben fließenden Eleganz wie ihr Begleiter. Als die beiden an ihr und Drúdir vorbeirauschten, hörte sie die Elfe in nahezu perfektem Zwergisch fragen: „Erreichen wir den Zug nach Schwarzspiegel Zentral noch?“
„Keine Sorge“, entgegnete der Gepäckträger, „Sie haben noch eine Viertelstunde. Mehr als genug Zeit, um zum Gleis zu gelangen.“
„Danke“, entgegnete sie mit ihrer hellen, kühlen Stimme.
„Die wollen auch zum Zug ins Zentrum“, meinte Findra an Drúdir gewandt und deutete auf das Paar. „Am besten, wir gehen einfach hinterher.“
Die beiden Zwerge schulterten ihr Gepäck und folgten dem Zylinder, der hoch über den Köpfen der Zwerge entlangtanzte.
„Die beiden haben einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt erwischt, um nach Schwarzspiegel zu reisen“, bemerkte Drúdir.
Ein über die Schulter eines Mitreisenden halb gelesener Zeitungsartikel fiel Findra ein. „Wegen des Parteitages der ZSK?“
Drúdir nickte. „Ja, ich habe gehört, dass viele Elfen, Menschen und Kobolde die Stadt für die Woche verlassen. Du erinnerst dich sicher an den letzten Parteitag in Nordkrone.“
„Oh ja.“ Bei der Erinnerung lief es Findra kalt den Rücken hinunter. Es war zwei Jahre nach ihrem Dienstantritt gewesen und sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie, einen metallverstärkten, wattierten Harnisch über der Uniform und einen etwas zu großen Helm auf dem Kopf, zitternd in der dünnen Reihe von Polizisten gestanden hatte, die die radikalen Expansionisten und die Hammerschwinger trennten.
Die Expansionisten, die das Überleben des Stärkeren und den natürlichen Herrschaftsanspruch der Zwerge predigten, jagten ihr abwechselnd entweder Angst ein oder weckten in ihr den Wunsch, ein paar Straßenlaternen mit den Köpfen gewisser Zwerge einzubeulen. Aber was sie wirklich deprimierte, waren die Hammerschwinger. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie hart das Leben für die Zwerge sein konnte, die nie wussten, ob sie eine Fabrik mit allen Fingern verlassen würden – und trotzdem froh waren, dort eine Anstellung gefunden zu haben. Aber es würde sich ihr wohl nie erschließen, wie einige dieser Zwerge Veränderungen dadurch herbeizuführen hofften, dass sie Fabriken sprengten oder brutale Raubüberfälle auf reichere Zwerge unternahmen.
Etwas in ihrem Gesichtsausdruck musste ihre Gefühle verraten haben, denn Drúdir war stehengeblieben und sah sie aufmerksam an.
„Ich war dabei“, murmelte sie.
Der Uhrmacher nickte nur, als wäre damit alles erklärt. Was es auch war. „Ich bin froh, dass ich nicht da war. Wisdrin hat mir darüber geschrieben. Um ein Haar wäre die Bibliothek gestürmt worden.“
„Entzündet Kochfeuer mit den unnützen Büchern der Tyrannen“, zitierte Findra bitter. Dann wandte sie sich mit einem halben Lächeln an Drúdir. „Ihr Glück, dass sie es nicht geschafft haben. Wisdrin wäre in all seinem Zorn über sie gekommen.“
Drúdir schüttelte mit einem schiefen Grinsen den Kopf. „Wisdrin in all seinem Zorn? Du unterschätzt die Macht eisiger Verachtung.“
Doch sie beide wurden schnell wieder ernst. Die Geschehnisse auf den Straßen der Union waren in ihrer schieren grotesken Unvernunft durchaus komisch – aus sicherer Entfernung betrachtet.
„Ich könnte mir vorstellen, dass es dieses Jahr noch hässlicher für alle Nichtzwerge wird“, fuhr Drúdir fort. „Mit all der Bergfalke-Hysterie.“
Findra verzog das Gesicht zu einer Grimasse widerwilliger Zustimmung. Selbst ein ausgesprochen dummer Zwerg würde nach fünf Minuten unvoreingenommenen Nachdenkens zu dem Schluss kommen, dass keine ausländische Regierung Interesse an einem solchen Sabotageakt haben könnte.
Allerdings war ein ausgesprochen dummer Zwerg eine Sache. Eine Menge ausgesprochen dummer Zwerge war eine völlig andere, konnten sie einander doch in ihrem Irrglauben bestätigen.
Als wollte er ihre pessimistischen Ansichten über die Welt im Allgemeinen bekräftigen, rief ein Zeitungsjunge in einiger Entfernung die Schlagzeilen aus. Findra fing nur ein „Brutaler … Schwarzspiegel schockiert … Polizei vor Rätsel“ auf.
Sie schoben sich hinter dem Gepäckträger des Elfenpaares auf eine Treppe, die sich knarzend in Bewegung setzte und sie nach oben trug. Findra hatte bisher nur von diesen Rolltreppen gehört und sah staunend zu, wie das Gewusel der Halle immer weiter nach unten glitt.
„Bemerkenswert“, murmelte Drúdir, für einen Moment von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. Findra konnte ihm nur zustimmen.
Wenig später saßen sie in dem schwarzen, mit blitzendem Kupfer beschlagenen Zug, der sie in die Innenstadt bringen würde. Ursprünglich hatten sie wieder in der dritten Klasse reisen wollen, aber diese Waggons waren bereits bis auf den letzten Stehplatz vollgestopft, sodass Findra widerwillig Drúdirs Angebot akzeptierte, ihnen Karten für die zweite Klasse zu kaufen.
Findra gestand es sich nur ungern ein, aber sie war froh darüber. In den letzten Tagen hatte sie genug überfüllte Bahnwaggons gesehen und genoss es nun aus vollen Zügen, dass sie und Drúdir in einem abgeschlossenen Sechspersonenabteil saßen. Es gab sogar einen Ventilator, der sich träge an der Decke drehte.
Erst nachdem ein gellender Pfiff die kurz bevorstehende Abfahrt angekündigt hatte, füllte sich das Abteil mit anderen Gästen. Zuerst kam eine matronenhaft wirkende Zwergin, die an einem langen, dunkelblauen Schal strickte. Als nächstes ließ sich ein Geschäftsmann mit dunklen Ringen unter den Augen auf einen Sitz fallen und schlief beinahe sofort ein. Zuletzt schob sich eine junge, ungewöhnlich große Zwergin ins Abteil, die so merkwürdig aussah, dass Findra sie verstohlen musterte. Findra konnte sich nicht entscheiden, ob die Unbekannte auf exotische Art und Weise attraktiv oder eher mit seltsamen, schlecht zueinander passenden Zügen geschlagen war. Allem Anschein nach beides – je nach Lichteinfall und Blickwinkel. Wahrscheinlich hätte Findra sich nicht bemühen müssen, ihre Aufmerksamkeit zu verbergen, denn die Fremde war ganz auf das Klemmbrett in ihrer Armbeuge fixiert, auf dem sie unablässig in rasender Geschwindigkeit herumkritzelte. Was wahrscheinlich nur gut war, andernfalls wäre ihr nämlich Drúdirs Blick nicht entgangen. Offenbar fiel sein Urteil positiv aus.
Ruckend setzte sich der Zug in Bewegung und sie tauchten in die Dunkelheit des Tunnels ein. Samtige Schwärze hüllte sie ein. Findra runzelte die Stirn. Von der Matrone kam ein ärgerliches „Tsts, typisch!“
Drúdir neben ihr bewegte sich ein wenig und stieß in einem leisen Seufzen den Atem aus. Gegenüber hörte Findra eine leise, kultivierte Stimme einen Fluch ausstoßen. Das war dann wohl die Frau mit dem Klemmbrett.
Wenig später – es war schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war –, glitt schabend die Abteiltür auf. „Verzeihen Sie bitte“, sagte eine Männerstimme, der man die Unsicherheit unter der Oberfläche einstudierter Professionalität anhörte, „aber das Beleuchtungssystem in diesem Waggon hat sich leider soeben als nicht funktionsfähig erwiesen. Bitte bewahren Sie Ruhe, die Fahrt wird wie geplant fortgesetzt. Im Namen der Wuthri-Linien möchte ich mich für alle entstehenden Unannehmlichkeiten entschuldigen. Selbstverständlich können Sie auf dem Bahnhof Schwarzspiegel Zentral die Rückerstattung des halben Fahrtpreises fordern. Legen Sie nur ihre Fahrkarten vor. Ich wünsche ihnen eine angenehme Fahrt.“
Mit einem scharfen Knall fiel die Abteiltür zu. Raschelnd und stöhnend erhob sich jemand. „Ich gehe in einen Waggon, in dem die Lichter funktionieren“, erklärte die Zwergin mit dem halb gestrickten Schal.
„Jaja“, murmelte eine ungeduldige, schlaftrunkene Männerstimme. Der Geschäftsmann. Seine Stimme ging in lautem Rascheln aus der Richtung der Frau mit dem Klemmbrett unter. Wenig später verstummte auch dieses, sodass nur noch das Stampfen und Zischen des Zuges und das leise Schnarchen des Geschäftsmannes zu hören war. Er musste sofort wieder eingeschlafen sein. Findra zollte ihm Bewunderung.
Mit einem Zischen erwachte eine rötliche Flamme zum Leben. Die Zwergin im roten Mantel hatte ihr Klemmbrett zur Seite gelegt und ein Streichholz angerissen, das sie nun an eine dicke, halbabgebrannte Bienenwachskerze hielt, wie sie früher in den Tempeln gebrannt hatten. Das also hatte sie raschelnd in ihrem Koffer gesucht. Das wilde Flackern der Flamme warf unstete, merkwürdige Schatten über ihr Gesicht und verzerrte ihre Züge zu einem Tanz fremdartiger Masken.
Schließlich gelang es ihr, die Kerze anzuzünden und das Flackern wich einem weichen, goldenen Licht. In der vollkommenen Dunkelheit, die sie umgab, strahlte die Kerze wie ein Leuchtfeuer. Aber offenbar nicht so hell, dass die Fremde ihre Arbeit fortsetzen konnte. Resigniert richtete sie ihren Blick stattdessen auf die beiden Zwerge, die ihr gegenübersaßen.
Ohne Umschweife streckte sie die kerzenfreie Hand aus. „Svalris.“
Drúdir ergriff sie. „Drúdir.“
Auch Findra stellte sich vor. „Sind Sie auch in das unterirdische Schwarzspiegel unterwegs?“, fragte sie.
Svalris nickte. „Ich studiere an der Universität. Mathematik.“
Drúdir hob anerkennend die Brauen.
„Aber jetzt“, fuhr die Zwergin fort, „bin ich aus anderen Gründen dahin unterwegs.“
Das Kerzenlicht machte es schwierig, ihr Gesicht zu lesen, aber ihr Mienenspiel erregte dennoch Findras Aufmerksamkeit. Überhaupt weckte die Zwergin ihr Interesse. Zum einen ihr Gesicht. Wenn Findra sich nicht täuschte, musste irgendwie ein Mensch in Svalris‘ Ahnenreihe geraten sein. Dann ihr Akzent: Das leise, überakzentuierte Zwergisch der Oberschicht, das man selten in Kombination mit so ungeziertem Verhalten wie dem Svalris‘ antraf.
„Weswegen?“, hakte Findra nach.
Svalris lehnte sich zurück und zog den linken Fuß auf ihren rechten Oberschenkel, ohne darauf zu achten, dass sie damit ihren Rock etwas hochzog. Ihr Gesicht verschwand im Schatten. „Neben meinem Studium arbeite ich als … nun ja, man könnte mich wohl als Journalistin bezeichnen, wenn auch eine spezielle Sorte. Ich sammle urbane Mythen und Geschichten über Magie.“
„Magie, Mythen und Mathematik. Eine interessante Kombination“, bemerkte Drúdir ein wenig spöttisch.
„Wenn die Magier von einst sich in etwas weniger mystisches Dunkel gehüllt und ernsthafte Forschungen betrieben hätten, wäre Magie heute eine Wissenschaft wie jede andere“, gab Svalris in streitlustigem Ton zurück, aber gleich darauf wurde ihre Stimme wieder sanfter. „Aber es ist nicht die Magie selbst, die wir erforschen, sondern die Geschichten. Wie sie entstehen, sich verbreiten und sich verändern.“ Die Kerzenflamme spiegelte sich doppelt in ihren geweiteten Pupillen, als sie sich vorbeugte, um Drúdir zu fixieren. „Sie haben nicht zufällig eine solche Geschichte zu erzählen, Drúdir?“
Findra wahrte ihren neutralen Gesichtsausdruck nur mit Mühe. Verstohlen schielte sie zu Drúdir hinüber, der sein bitteres Lachen gerade noch mit einem Husten kaschieren konnte. Svalris‘ Augen verengten sich. Ohne jede Verlegenheit sah sie ihn unverwandt an.
Gerade als Drúdir zu einer, wie Findra vermutete, scharfen Bemerkung ansetzte, fuhr Svalris fort. „Ich bin momentan hinter einer ganz bestimmten Geschichte her – einer ziemlich tragischen und widerwärtigen, wenn ich ehrlich sein soll.“
„So?“, fragte Findra.
„Haben Sie noch nicht vom Tiefufer-Massaker gehört?“
Drúdir schüttelte den Kopf.
Svalris seufzte. „Nun ja, sie haben die Leichen erst heute im Morgengrauen gefunden. Die Zeitung hat in Windeseile ein Extrablatt gedruckt.“
„Leichen?“
„Grihin, ein stadtbekannter Verbrecher, und siebzehn weitere Männer. Niemand hat damit gerechnet. Auch wenn niemand es zugegeben hätte, war Grihin einer der mächtigsten Männer der Stadt. Zumindest einer der reichsten. Schmuggel, Schutzgelderpressung und Sabotage – nur drei der Gebiete, auf denen er tätig war – müssen wohl einträgliche Geschäfte sein. Auf jeden Fall unterstanden ihm mehr oder weniger alle Verbrecher der Stadt. Das letzte Mal, dass jemand versucht hat, ihn zu stürzen, ist eine ganze Weile her … aber die Leute erinnern sich immer noch daran. Grihin wusste, wie man ein Exempel statuiert. Über Jahre hat niemand gewagt, ihn anzugreifen.“
„Sie sind gut informiert“, bemerkte Findra.
„Ich komme mehr herum und mit mehr Leuten in Kontakt, als man vermuten würde“, entgegnete Svalris achselzuckend.
„Also eine rivalisierende Bande hat mit Grihin abgerechnet“, sagte Drúdir gedehnt. „Kaum ein interessantes Thema für eine Magieforscherin.“
Svalris‘ Seitenblick war eher amüsiert als verärgert. „Nun, wie Sie gleich erfahren werden, deutet einiges auf einen … übernatürlichen Faktor hin.“
„Wie das?“
„Die Leichen wiesen allesamt – mit einer Ausnahme – tiefe Schnitte wie von schweren Klingen auf. Tatsächlich müssen einige Hiebe mit unglaublicher Wucht erfolgt sein. Das Lagerhaus, in dem das Ganze stattgefunden hat, war völlig blutgetränkt. Das ist schon an sich bemerkenswert – wer zerlegt angesichts der gepriesenen Fortschritte der Rüstungsindustrie“, - sie verdrehte die Augen – „seine Gegner noch mit dem Schwert oder der Axt?“
„Jemand mit einer kranken Vorstellung von Spaß?“, schlug Drúdir vor.
„Worauf ich hinauswill“, unterbrach ihn Svalris, „ist Folgendes: Das Lagerhaus war perfekt gesichert. Es hatte einen einzigen Eingang, von einem von innen verschlossenen Fluchttunnel einmal abgesehen. Diese Zwerge – nebenbei bemerkt schwer bewaffnete, erfahrene Kämpfer, viele Veteranen der Vereinigungskriege – haben ihren Gegner kommen sehen müssen. Und hätten fliehen können. Aber sie haben es nicht getan. Und die Berichte von Zeugen aus der Gegend deuten darauf hin, dass das Gemetzel weniger als drei Minuten gedauert hat. Grihins Tod etwas länger, aber das tut hier nichts zur Sache. Und dann ist da noch etwas: Da sind blutige Fußspuren, die in den nahen Kanal führen. Der Täter ist wohl weggeschwommen.“
„Der Täter?“
„Genau. Das ist das Unglaubliche. Es scheint nur ein einziger Mann gewesen zu sein.“
Schweigen stellte sich ein. Svalris hatte die Begebenheit in sachlichem Ton nacherzählt, aber die unterschwellige Mischung aus Abscheu und morbider Faszination in ihrer Stimme und vor allem die beiden tanzenden Flammen in ihren Augen und die unheimlichen Schatten, die das Kerzenlicht auf ihre Haut warf, ließen Findra an ihre Jugend denken. An nächtliche Streifzüge mit Freunden und Schauergeschichten im Laternenschein. Vor allem aber sprach der Bericht die Ermittlerin in ihr an. „Könnten sich Grihins Männer nicht gegeneinander gewandt haben?“, fragte Findra.
Svalris schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. In dem Fall hätten sie wohl zu ihren Schusswaffen gegriffen – die die meisten von ihnen nicht einmal ziehen konnten, bevor es sie erwischt hat. Übrigens wurde keine einzige Waffe sichergestellt, die als Tatwerkzeug in Frage kommt.“
Wieder ein Moment, in dem sie nur das Stampfen der Bahn hörten. „Jedenfalls“, sagte Svalris, als das Schweigen zu drückend werden drohte, „bin ich jetzt auf dem Weg in die Stadt. Bitte glauben Sie nicht, dass ich mich über den Tod von Zwergen – selbst solchen wie diesen – freue, aber ich komme doch nicht umhin, zu bemerken, dass es eine dieser Situationen ist, in denen Schauergeschichten für spätere Generationen geboren werden. Ich will mich ein bisschen in den Kneipen der Umgebung herumtreiben und den Gerüchten lauschen.“
Sie wandte sich an Findra. „Ihr Begleiter scheint eher abgeneigt zu sein, aber vielleicht haben ja Sie eine gute Geschichte über Magie oder übernatürliche Wesen auf Lager? Ein paar Freunde und ich geben als eine Art Hobby ein Magazin heraus. Es ist verblüffend erfolgreich, offenbar hungern viele Zwerge in dieser ach so rationalen Zeit insgeheim nach Geschichten über Götter, die Dämonen des Abgrunds und Zauberei. Und authentische überlieferte Geschichten haben einen Zauber, den die fiktiven Erzählungen, die wir neuerdings häufig veröffentlichen, einfach nicht imitieren können.“
Findra schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“ Dann fiel ihr etwas ein. Magie war ihr unheimlich, doch es lag nicht in ihrer Art, Dinge zu ignorieren, die ihr unangenehm waren. Sie wollte mehr darüber wissen. Und in Svalris hatte sie vielleicht eine ergiebigere Quelle gefunden als in dem diesbezüglich sehr verschlossenen Drúdir. „Sie müssen sich gut mit Magie und ihrer Geschichte auskennen.“
Drúdir warf ihr einen warnenden Seitenblick zu.
Svalris nickte selbstbewusst. „Das tue ich.“
„Wie der Zufall es so will, interessiere ich mich brennend für das Thema. Wenn Sie auch in Schwarzspiegel leben, könnte ich Sie vielleicht demnächst auf ein Bier einladen und Sie teilen Ihr Wissen mit mir?“
„Gerne.“ Svalris griff nach ihrem Klemmbrett, krakelte etwas auf eine Ecke des obersten Blattes und riss sie ab, um sie dann Findra zu reichen. „Das ist meine Adresse. Kommen Sie doch einfach mal vorbei. Ich habe auch sämtliche Ausgaben des Nachtspiegels – so heißt unser kleines Projekt – bei mir herumliegen. Vielleicht fällt Ihnen oder Ihrem Begleiter ja doch etwas ein, das Sie mir erzählen können.“
Sie schenkte Drúdir, der im Moment jedoch vollauf damit beschäftigt war, Findra gegen das Schienbein zu treten, ein lauerndes Lächeln.
Findra runzelte die Stirn. Ahnte diese Zwergin, was Drúdir war?
In diesem Moment verlangsamte sich der Zug. Der Geschäftsmann schreckte blinzelnd hoch und alle anderen zogen Grimassen, als die Bremsen aufkreischten. Gleich darauf kniffen sie geblendet die Augen zusammen, als sie in den sonnenbeschienenen Bahnsteig einfuhren. Sie alle hatten vollkommen vergessen, dass draußen gerade einmal später Nachmittag war.
Mit einem weiteren schrillen Quietschen kam der Zug zum Stehen. Svalris verstaute die ausgeblasene Kerze und das Klemmbrett in ihrer voluminösen Reisetasche und stand auf. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“ Mit einem fröhlichen Winken in Findras Richtung und einem herausfordernden Grinsen, das an Drúdirs Adresse ging, verließ sie das Abteil und reihte sich in den Strom der Zwerge ein, die zu den Wagontüren drängten. Auch Findra und Drúdir erhoben sich. Sie wechselten einen kurzen Blick, und auch wenn die Begegnung Drúdir verärgert oder beunruhigt zu haben schien, schien er Findras Erleichterung und Aufregung zu teilen.
Sie waren angekommen.