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Kapitel 8 Kyrai

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Die Byrianel-Haine Cirdayas waren zu jeder Jahreszeit schön, aber im Herbst waren sie atemberaubend. Obwohl bereits ein dicker, orange-goldener Teppich aus Herbstlaub den Waldboden bedeckte, boten die Baumkronen noch immer einen majestätischen Anblick. Die gezackten Blätter an den gewundenen, fast schwarzen Zweigen sahen aus wie erstarrte Flammen.

Ein jäher Windstoß ließ weitere Blätter herabstieben und wirbelte die am Boden liegenden auf. Die Byrianel-Bäume beugten sich in der heftigen Böe. Nur die schmale Gestalt, die sich zielstrebig zwischen den Stämmen bewegte, behielt ihren ruhigen, gleitenden Gang bei. Einen Gang, dessen scheinbare Ruhe in heftigem Gegensatz zu dem Aufruhr in ihrem Inneren stand.

Kyrai zog ihren Mantel enger um sich. Es war halb Versuch, den schneidenden Wind abzuwehren, halb nervöse Geste. Die Drasirah war sich nicht sicher, ob es ein Fehler war, hierherzukommen. Vielleicht würden die Dryaden ihre Bitte ablehnen. In dem Fall hätte sie lediglich ihre Zeit verschwendet. Wäre das nicht sogar das Beste? Sie tat ihre Zweifel als Produkt ihrer Angst ab und verdrängte den unangenehmen Gedanken, dass es eine andere, tiefer gehende Angst war, die sie hergeführt hatte … Sofern sie noch von Angst sprechen konnte. Zu den zweifelhaften Segnungen, die sie in diesem Wald bereits erhalten hatte, gehörte, dass sie seit Jahren keine echte Angst mehr empfunden hatte. Ebenso wenig wie intensive Wut, Trauer oder Freude. Es war sicherer so.

„Es wird einen Sturm geben“, sagte eine Stimme hinter ihr. Leise und rau, von einem sonderbaren, kratzigen Rascheln unterlegt. Kein Zweifel. Kyrai hatte die Dryaden gefunden. Oder umgekehrt.

Langsam drehte sie sich um. Niemand würde je eine Dryade als Freund bezeichnen, aber die Elfen – vor allem die Drasirai – betrachteten sie als Verbündete. Tatsächlich war Kyrai dabei, ihr Leben in die Hände eines dieser sonderbaren Geschöpfe zu legen. Dennoch drehte sie sich um wie zu einem potenziellen Gegner.

Die Nymphen waren die Ersten gewesen, die gespürt hatten, dass das Zeitalter der Magie zu Ende ging. Als die klügeren unter den Elfen das zu begreifen begannen, hatten sie sich bereits in die Tiefen ihrer Wälder, Berge und Seen zurückgezogen. Mittlerweile kannten die meisten Menschen sie nur noch aus den Geschichten, die sie einander erzählten. Geschichten, die sich mit jedem Jahr weiter von der Wahrheit entfernten.

Die Gestalt, die reglos an einen Baum gelehnt dastand, hatte wenig mit den bezaubernden Frauen aus den Lagerfeuermärchen gemein: Sie war hochgewachsen, dabei aber so dünn, dass ihr Körper in die Länge gezogen wirkte, mit knotigen, zu zahlreichen Gelenken, sodass sich ihre Arme und Beine an sonderbaren Stellen bogen. Eine uralt aussehende, schwarze Hose bedeckte drei Viertel ihrer Beine. Die bloßen Füße unter den ausgefransten Säumen endeten in sieben wurzelartigen Zehen. Ein ebenso ausgefranstes, schwarz-grün gemustertes Tuch war kunstvoll um ihre Brust geschlungen. Ein Großteil der grünlichen, von verschlungenen Tätowierungen bedeckten Haut der Dryade war den eisigen Herbstwinden ausgesetzt. Nicht, dass es die Nymphe gestört hätte. Soweit Kyrai wusste, konnten weder Hitze noch Kälte solchen Wesen viel anhaben.

Die Dryade trug ihr langes, grün-braunes Haar offen. Es rahmte ein auffällig schmales Gesicht ein, das ein wenig elfisch anmutete, wenn auch grotesk übersteigert. Ihre Wangenknochen waren irritierend hoch und ausgeprägt und was bei den meisten Elfen ein beinahe unmerklicher Knick im oberen Rand ihrer Ohrmuscheln war, waren bei der Dryade handlange, schräg nach hinten weisende Spitzen. Ihre Nase war klein und schmal, die Augen unter den hoch geschwungenen Brauen groß wie die eines nachtaktiven Tieres. Sie bestanden nur aus sonderbar ausgefransten Pupillen inmitten eines Meeres aus intensivem, schillerndem Malachitgrün. Als sie lächelte, kamen hinter ihren blassen, geschwungenen Lippen nadelspitze Zähne zum Vorschein.

Kyrai versuchte, das Lächeln zu deuten, aber das Gesicht der Dryade war einfach zu fremd.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du wiederkommen würdest, Drasirah. Was willst du?“

„Ihr habt mir selbst gesagt, dass mein volles Potenzial noch nicht erreicht ist. Ich wollte Euch um weitere Glyphen bitten.“ Ein einfacher Satz, dessen Tragweite nur eine Drasirah begreifen konnte.

„Was für Glyphen?“

„Welche auch immer Ihr für passend haltet“, entgegnete Kyrai. Die Glyphen, die sie am liebsten auf ihrer Haut wissen würde – Zeichen, die ihr die Angst und die bohrenden Selbstzweifel, die stets am Rande ihres Bewusstseins lauerten, für immer aus dem Kopf brennen und einen undurchdringbaren Wall gegen ihre zerstörerischen Leidenschaften errichten würden – existierten nicht.

Die Dryade lachte leise. Zumindest schloss Kyrai das aus ihren gehobenen Mundwinkeln. Das Geräusch, das sie von sich gab, hätte auch ein Fauchen sein können.

„Du willst also noch weitergehen … du hast keine Ahnung, worum du da bittest, kleine Drasirah.“

„Seid Ihr bereit, mich zu zeichnen?“

Die Dryade legte mit einem Geräusch wie dem Knarzen von Zweigen den Kopf schief. Sie musterte Kyrai mit distanziertem, belustigtem Interesse. „Du hast keine Ahnung“, wiederholte sie.

„Ich weiß genug, um diese Entscheidung zu treffen.“

„Du kennst vielleicht den Preis, den ich fordere, aber du hast keine Ahnung, was mit dir geschehen wird.“

Kyrai biss sich auf die Lippen, bevor ihr Dialog in ein würdeloses ‚Nein-Doch-Nein …‘ ausarten konnte.

„Dennoch werde ich dich zeichnen. Aber ich wiederhole es noch einmal: Noch nicht einmal, wenn du die Glyphen auf deiner Haut trägst, wirst du begreifen, in was du dich verwandeln wirst. Erst sehr viel später. Und vielleicht nicht einmal dann …“

Kyrai hob ihr Kinn. Sie war nicht in der Stimmung für Dryadenrätsel. „Wann soll ich wiederkommen?“ Was unter Elfen eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen wäre, bedeutete einer Dryade nichts.

„Ich habe es gespürt, als du den Hain betreten hast. Es ist alles vorbereitet.“

Wieder lächelte die Dryade. Es war trotz ihrer Nadelzähne ein schönes Lächeln, aber kein Freundliches. Ganz und gar nicht. Kyrai kam der Gedanke, dass sie wahrscheinlich Angst haben sollte. Sie lauschte in sich hinein und fand nur eine sonderbare Distanz zu sich und der Situation.

Die Nymphe sah sie noch eine Weile aus ihren brunnentiefen Augen an, sie hatte noch immer dieses Lächeln auf den Lippen. Dann wandte sie sich ab und winkte der Elfe, ihr zu folgen. Bei jedem Schritt bogen sich ihre langen, dünnen Beine an mehreren Gelenken. Kyrai war weit darüber hinaus, dergleichen irritierend oder unheimlich zu finden. Ihr Staunen galt nur noch der Eleganz, mit der die Dryade sich bewegte.

Der Drasirah kam der Gedanke, dass sie Menschen und sogar vielen anderen Elfen ganz ähnlich erscheinen musste, wie die Dryade ihr: Anmutig, vage bedrohlich und sehr, sehr fremd. Gemäß einem Gesetz, das nach dem Ende der Magierkriege und dem Magieverbot in zwei Menschenstaaten ratifiziert worden war, war sie keine den Menschen gleichgestellte Kiarvanerin mehr, sondern ein zufälligerweise humanoides, magisch kontaminiertes Es, das dementsprechend von keinem Gesetz beschützt wurde. Sie lächelte bitter. Dann war es wohl ihr Glück, dass sie dank der Modifikationen, die sie ihrer eigenen Spezies entfremdet hatten, in der Lage war, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen.

Sie blickte gedankenverloren auf das schwingende Haar der Dryade und fragte sich zum wiederholten Mal, was sie eigentlich hierher getrieben hatte. Der Wunsch, gewappnet zu sein? Oder einfach nur das Gefühl der Befriedigung, das sie dabei empfand, sich selbst zu etwas anderem umzuformen – etwas, das stark, leidenschaftslos und kontrolliert war?

Wie jedes Mal bemühte sie sich, nicht allzu ausführlich darüber nachzudenken. Zwar neigte Kyrai seit jeher zur Introspektion, hinterfragte und erforschte jede ihrer Entscheidungen – aber zugleich war ihr stets bewusst, dass diese Überlegungen natürlich ausgesprochen anfechtbar waren. Ihr fehlte der Abstand, sich objektiv von außen zu bewerten … und die Nähe und Akzeptanz, um einfach sie selbst zu sein. Der Blick nach innen war allzu oft eine gefährliche, schmerzhafte Angelegenheit.

Sie roch den See, bevor sie der Dryade aus einer kleinen Senke folgte und ihn sah: Nicht besonders groß und aufgrund der Schatten, die die hoch aufragenden Bäume um ihn herum warfen – selbst jetzt, wo die Abenddämmerung gerade erst begann –, tiefschwarz. Ein leichter Geruch nach faulenden Pflanzen lag in der Luft. Er vermengte sich mit dem halb würzigen, halb beißenden Aroma des Rauches, der ihr in dünnen Fingern entgegenkroch.

Der Boden unter ihren Füßen war sumpfig geworden und ihre schmalen Stiefel lösten sich bei jedem Schritt mit leisem Schmatzen daraus. Die vielfach verdrehten, knorrigen Byrianel-Bäume sahen hier anders aus; mit hohen, schlanken Stämmen, zwischen denen sie sich geschickt hindurchschlängelte. Sie bewegte sich mit der lautlosen Gewandtheit einer Elfe und Drasirah, aber sie wusste, dass sie nie an das Geschick der Dryade heranreichen würde, deren langer Körper sich immer wieder an den verblüffendsten Stellen bog, um tiefhängenden Zweigen auszuweichen. Kyrai versuchte, einige der Glyphen auf dem nackten unteren Rücken der Nymphe wiederzuerkennen, aber sie scheiterte. Bereits die Zeichen an sich waren sehr viel komplexer als die Tätowierungen der Drasirai und die Elfe wagte gar nicht erst, über ihre Wechselwirkungen zu mutmaßen. Wie alles, das auch nur entfernt mit Magie zu tun hatte, war auch die Kunst, sie durch Runen und Glyphen zu manipulieren, eine unsichere, von der Intuition des Bannzeichners abhängige Angelegenheit. Und niemand kam, was diese Kunst anging, auch nur annähernd an die Nymphen heran.

Kyrai fragte sich müßig, wie diese Geschöpfe die Magie der Glyphen wohl entwickelt hatten. Und was sie taten, wenn sie gerade nicht Drasirai zeichneten. Niemand begegnete einer Dryade, wenn diese es nicht wollte. Tatsächlich wusste niemand genau, wie viele von ihnen in den Wäldern Cirdayas lebten. Wie ihre Gesellschaft aufgebaut war, wenn sie keine vollkommenen Einzelgänger waren. Oder wie weit ihre Verwandtschaft mit Bäumen ging. Wenn Kyrai an die spitzen Zähne der Dryade und das, was sie anrichteten, dachte, konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie üblicherweise von Mineralien und Sonnenlicht lebte.

Sie umrundeten ein letztes Dickicht und fanden sich auf einer glatten, moosüberwucherten Felsenplatte wieder, die zum See hin leicht abfiel. Kyrai war bereits dreimal hier gewesen, aber wie jedes Mal war sie überrascht. Der Weg, den sie gegangen waren, hatte so gar nichts mit ihren Erinnerungen gemein. Wahrscheinlich handelte es sich um eine subtile Magie, die ihre Gedanken und Wahrnehmung manipulierte. Magie … dass sie außerhalb Cirdayas – und selbst innerhalb der Elfenstaaten – kaum noch praktiziert wurde, lag keineswegs nur am Trauma der Magierkriege. Die magischen Linien waren bereits seit Jahrzehnten am Verblassen gewesen, die Zahl derjenigen, die sie manipulieren konnten, stetig am Sinken. Mittlerweile strömte die Magie mit aller Kraft nach Kiarva zurück, aber noch war sie nirgendwo auch nur annähernd auf dem Niveau, wie in den Byrianel-Hainen. Diese uralten Bäume mit ihren messerscharfen Blättern waren nicht nur malerisch anzusehen, sie filterten und konzentrierten auch Magieströme. Über die Jahrhunderte war dieser Ort so zu einem magischen Fokus geworden. Wenn Kyrai jetzt auf den schwarzen See im Zentrum des Waldes herabblickte, der sich wie ein dunkler Spiegel vor ihnen erstreckte, und ihr ein Schauer über den Rücken lief, tat sie wahrscheinlich gut daran, ihrer intuitiven Vorsicht zu trauen. Wer wusste schon, was unter der Oberfläche lebte? Oder ob nicht vielleicht sogar der See selbst eine Art Intelligenz entwickelt hatte?

Die Dryade hatte keinerlei solche Bedenken. Ihr grünbraunes Haar fiel als seidiger Vorhang über ihr fremdartiges Gesicht, als sie niederkniete und sorgfältig ihre langfingrigen Hände wusch. „Leg deine Kleidung ab und mach es dir bequem.“

Kyrais Augenbrauen wanderten angesichts der unfreiwilligen Ironie in die Höhe, aber sie gehorchte schweigend und ließ sich neben der Feuerschale auf dem moosigen Stein nieder. Bewundernd ließ sie ihre Augen über die filigranen Muster wandern, die den Rand der Schale schmückten. Aus nächster Nähe war der Geruch der Harze und Kräuter, die die Dryade verbrannte, überwältigend und ließ alles um sie herum verschwimmen, wenn sie den Kopf zu schnell bewegte. Dass sie in der Erwartung, sich im Anschluss an das Ritual heftig zu übergeben, nichts gegessen hatte, half auch nicht gerade.

Auch ihre Empfindungen veränderten sich. Geräusche und Gerüche wurden plötzlich deutlicher und ihre magische Sicht flackerte hin und wieder ungebeten auf, während sie die Kälte weit weniger intensiv wahrnahm. Die Dryade wandte sich zu ihr um. Diesmal konnte Kyrai ihr Lächeln deuten: Es war durch und durch bösartig.

Die meisten Drasirai standen in dem Ruf, sich irgendwo auf einer Skala anzusiedeln, die bei „psychisch labil“ begann und bei „völlig gestört“ aufhörte. Er war übertrieben, doch aus verschiedenen Gründen nicht vollkommen unverdient. Aber selbst unter diesen magiebegabten Elitekämpfern war es ausgesprochen unüblich, die Dryaden freiwillig ein zweites Mal aufzusuchen. Zum vierten Mal um neue Zeichen zu bitten … das war, soweit Kyrai wusste, beispiellos. Wenn sie genauer darüber nachdachte, würde sie wohl nicht umhinkommen, sich mit der einen oder anderen unangenehmen Frage über sich selbst konfrontiert zu sehen.

Glücklicherweise war die Zeit zum Nachdenken ein für alle Mal vorüber, denn nun goss die Dryade eine dunkle Flüssigkeit in eine flache Schale und kam auf sie zu. Sie kauerte sich vor Kyrai nieder, die sich langsam nach hinten sinken ließ. Das Moos unter ihrem nackten Rücken war kühl, rau und ein wenig feucht.

Die Nymphe beugte sich über sie und hob die freie Hand. Kyrai sah Magiefäden um ihre Finger flackern und sich zu immer engeren Schlaufen und Knoten verschlingen. Ein sonderbares, feuchtes Knirschen erklang. Die schmalen, grünen Finger verformten sich, bis sie in langen, bösartig aussehenden Dornen endeten.

„Entspann dich“, flüsterte die Dryade, ihr Gesicht unangenehm nahe an Kyrais. Ihr Atem roch nach feuchtem Holz und frischem Blut. Erneut musste die Elfe beinahe kichern. Es kostete sie bereits genug Mühe, nicht aufzuspringen und auf dieses Wesen einzuschlagen, das wie eine übergroße Gottesanbeterin halb neben ihr, halb über ihr kauerte. Entspann dich – aber natürlich!

Kyrai zwang sich, ruhiger zu atmen. Es war ohnehin zu spät.

Die brunnentiefen, schillernden Augen des Geschöpfes glitten über Kyrais Körper. Puppenhaft zierliche, von Gänsehaut bedeckte Gliedmaßen, so blass, dass sich die eintätowierten Glyphen trotz ihres eigentlich dezenten Graus deutlich davon abhoben. Eine silbrige Narbe über der linken Brust und Augen, die trotz ihres Ringens um Beherrschung vor Angst geweitet waren. Wie schwach sie aussehen musste! Und genau deshalb war sie hier.

Noch einmal holte sie tief Luft, hielt den Atem an und ließ ihn dann langsam entweichen. Sie sah zu der Dryade auf.

„Wenn es unerträglich wird, schrei einfach.“

Kyrai hob eine Augenbraue. „Und dann hört Ihr auf?“

Die Dryade schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Ich dachte nur, es entspannt dich vielleicht.“

Kyrai seufzte. „Schon eine Idee, was genau die neuen Zeichen bewirken werden?“

Erneut ein von einem beunruhigenden Lächeln begleitetes Kopfschütteln. „Lassen wir uns überraschen“, sagte sie mit ihrer kratzigen, zischenden Stimme.

Und schlug Kyrai ihre nadelspitzen Zähne in den Hals.

Welche fremdartige Droge auch immer in der Feuerschale verbrannte – sie war viel zu gering dosiert. Das Brennen war intensiv genug, um Kyrai ein schrilles Kreischen zu entlocken … das ihr jedoch sogleich in der Kehle stecken blieb. Das lähmende Gift der Nymphe tat seine Wirkung und alle ihre Muskeln erschlafften. Ihre Augäpfel brannten, aber sie war unfähig, die Augen zu schließen.

Sie sah den Kopf der Dryade als verschwommenen Fleck am Rand ihres Sichtfelds, wie sie ihn hin und her schüttelte, um die Wunde zu vergrößern und gierig daraus zu trinken.

Der nächste Biss war nicht weniger schmerzhaft.

Kyrai hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als der Dryade auffiel, dass sie noch immer mit offenen Augen ins Leere starrte. Zwei hellgrüne Fingerspitzen füllten ihr gesamtes Sichtfeld aus, bevor das Wesen ihre Augenlider herabdrückte wie bei einer Toten.

Dann erst spürte sie zum ersten Mal die tintengetränkten Dornen unter ihrer Haut. Hinter ihren geschlossenen Lidern explodierte ein Netzwerk glühender Linien, beinahe zu hell um erträglich zu sein. Die Byrianel-Bäume waren Säulen aus gleißendem Licht, die Dryade eine weißglühende Gestalt, deren Aurafäden sich immer wieder in spiralförmige Dornen und Haken verwandelten, die unter Kyrais Haut versanken, Magiefäden aus ihrer Aura rissen und zu komplexen Knoten verschlangen. Sie spürte, wie sie sich veränderte, für einen Moment selbst zu einem magischen Fokus wurde. Ihre chaotischen Kräfte, die sie zu fürchten gelernt hatte, wurden gebündelt. Sie fühlten sich stärker an als je zuvor, doch zugleich wie von ihr abgeschnitten.

Dann wieder nahm die Elfe jäh die Geräusche und Gerüche der physischen Welt war, das Blut, das warm und klebrig über ihre klamme Haut rann und sich mit einer anderen, kälteren Flüssigkeit vermengte. Hatte es zu regnen begonnen? Ja, da waren das Pladdern von Tropfen auf der Seeoberfläche und ferner Donner.

Dann wieder überlagerten ihre magischen Sinne alles andere. Ihr wurde schlecht.

Kyrais letzter Gedanke, bevor ihr Bewusstsein in Dunkelheit versank, war die Frage, wie sie nur freiwillig hatte hierherkommen können.

Als Kyrai erwachte, war sie panisch und desorientiert. Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl die Dryade sie mit ihrem schweren Mantel zugedeckt hatte. Erst allmählich kehrte das Wissen zurück, wer und wo sie war. Verwirrt blinzelte sie zu dem dämmergrauen Himmel hinauf. Es konnte doch nicht so spät sein, oder?

„Das war unerwartet“, sagte eine raschelnde Stimme neben ihr. Kyrai verkrampfte sich. Die plötzliche Anspannung ließ die dumpfen Schmerzen in ihrem ganzen Körper explodieren.

„Was?“, krächzte sie und hievte ihren Kopf zu der Dryade herum, die sie mit distanziertem Interesse musterte. Vor jedem anderen Geschöpf hätte Kyrai sich ihrer Hilflosigkeit geschämt, aber dieses Wesen war so fremd, dass es ihr nichts ausmachte.

„Sieh selbst.“

Schwungvoll zog sie den Mantel beiseite. Kyrai blickte an ihrem Körper herab. Kühn und dunkel hoben sich die verschlungenen Glyphen von ihrer Haut ab. Als sie sie in der magischen Sicht betrachtete, weiteten sich ihre Augen. Sie hatte sich etwas Machtvolles gewünscht. Etwas, das sie verwandelte. Wie es schien, hatte sich ihr Wunsch erfüllt.

Sie blickte zu der Dryade auf. Dunkle Adern waren unter ihrer hellgrünen Haut erschienen und das Grün ihrer Augen war dumpfer geworden. Sie mochte sich von Kyrais Blut und Stärke genährt haben, aber die Magie, die in die Tätowierungen geflossen war, hatte auch von ihr einen hohen Preis gefordert.

„Vadrýa“, sagte die Nymphe unvermittelt.

„Wie bitte?“

„Vadrýa. Das ist mein Name. Ich dachte, du solltest ihn kennen.“

Drúdir

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