Читать книгу Handbuch Betreuungsrecht - Sybille M. Meier - Страница 46

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B. Das gerichtliche Verfahren bis zur Bestellung eines BetreuersIV. Der Amtsermittlungsgrundsatz › 1. Amtsermittlungspflicht

1. Amtsermittlungspflicht

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Das Gericht hat im Rahmen eines anhängigen Betreuungsverfahrens von Amts wegen alle entscheidungserheblichen Tatsachen von sich aus zu ermitteln. Dies beruht auf dem in § 26 FamFG niedergelegten Amtsermittlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz, Inquisitionsmaxime). Dort heißt es wörtlich:

Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.“

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Es ist in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt, ob es formlose oder förmliche Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts betreibt, §§ 29 und 30 FamFG. Der Umfang der Ermittlungen ist durch das Gesetz bestimmt insofern, als § 26 FamFG von „erforderlichen“ Ermittlungen ausgeht. Das Gericht muss die objektive Wahrheit erforschen und ist nicht an die von den Beteiligten vorgetragenen Tatsachen gebunden. Insofern besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und einem Zivilprozess, der den Regeln der Zivilprozessordnung (ZPO) und dem Grundsatz der formellen Wahrheit unterliegt.

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Beispiel

Rechtsanwalt R klagt vier Jahre nach Mandatsende vor dem Amtsgericht seine Honorarrechnung gegen Mandant M ein. Dieser rügt Schlechtleistung und erhebt andere Einwendungen, vergisst allerdings, sich auf den relevanten Einwand der Verjährung zu berufen. Hierauf darf der Richter, der sich sonst dem Vorwurf der Befangenheit aussetzen würde, den M nicht hinweisen. M verliert den Prozess wegen des Nichterhebens des Einwandes der Verjährung.

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Die Sachlage bestimmt also letzten Endes im Amtsermittlungsverfahren die vom Gericht durchzuführenden Ermittlungen, die in seinem pflichtgemäßen Ermessen stehen. Eine förmliche Beweisaufnahme hat nach § 30 Abs. 2 FamFG insbesondere dort stattzufinden, wo ein Beteiligter die Richtigkeit von Tatsachenfeststellungen ausdrücklich bestreitet. Das Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren stellt stets eine förmliche Beweisaufnahme dar (§ 280 Abs. 1 FamFG).

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Dementsprechend liegt ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz vor bei Anordnung einer Betreuung durch das Gericht aufgrund eines Sachverständigengutachtens, das sich lediglich auf Angaben Dritter zu einem angeblich vermüllten Haushalt einer Betroffenen stützt, der Sachverständige jedoch davon Abstand nahm, sich selbst ein Bild von dessen Beschaffenheit zu machen.[1] Der BGH führte hierzu aus:

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Zu den für die Bestellung eines Betreuers erforderlichen Ermittlungen gehört nach § 280 FamFG die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Diesem Gutachten muss wiederum mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen sein, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung nach § 1896 BGB vorliegen; eine Verdachtsdiagnose genügt nicht[2]). Im Übrigen muss sich der Tatrichter davon überzeugen, dass der Sachverständige im Rahmen seiner Begutachtung von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist.

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Die Ermittlungen sind abgeschlossen, wenn der Sachverhalt so vollständig aufgeklärt ist, dass von einer weiteren Beweisaufnahme ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr erwartet werden kann. Die Beteiligten im Rahmen des FamFG-Verfahrens sind gehalten, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken, insbesondere wenn es um Vorgänge aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich geht, § 27 FamFG. Das Gericht ist gesetzlich verpflichtet, angebotenen Beweisen nachzugehen. Die Zurückweisung von Beweismitteln darf nicht zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung führen.

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Sinn und Zweck des Amtsermittlungsgrundsatzes ist eine umfassende Aufklärung des Sachverhaltes. Ferner gilt das Verbot von Überraschungsentscheidungen.[3] Das Gericht hat die Pflicht, die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung vollständig zu erfassen.[4]

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Im Bereich des Betreuungsrechtes hat das Gericht von Amts wegen zu eruieren, ob überhaupt die Anordnung einer Betreuung sowie der einzelnen Aufgabenkreise erforderlich ist. Der Erforderlichkeitsgrundsatz ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und genießt somit Verfassungsrang.[5] Werden notwendige, ergänzende oder vorbereitende Ermittlungen einschließlich erforderlicher Beweisaufnahmen durch das erkennende Gericht unterlassen, liegt hierin ein Verfahrensverstoß nach §§ 26 ff. FamFG. Eine unzureichende Sachverhaltsermittlung ist eine Gesetzesverletzung.[6]

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Wie ernst es dem BVerfG mit der Sachverhaltsermittlung ist, zeigen wiederholte Entscheidungen aus dem Bereich des Betreuungs- und Unterbringungsverfahrens. Die Rechtsgrundsätze sind vorbehaltlos auf das Betreuungsverfahren anwendbar. Für diesen Bereich betonte das Bundesverfassungsgericht in einer jüngeren Entscheidung, wie stark eine Betreuerbestellung das Grundrecht einer Person auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG, beeinträchtigt.[7] Das BVerfG statuierte wörtlich:[8]

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Die Freiheit der Person ist unverletzlich, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. In diese Freiheit darf gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. Diese Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 GG hat besonderes Gewicht. Die Freiheit des Einzelnen darf nur in einem mit wesentlichen formellen Garantien ausgestatteten Verfahren entzogen werden.

(. . .) Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders wichtigem Grund angetastet werden darf. Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen (. . .).

(. . .) Die freiheitsichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhaltes und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, den Entzug der persönlichen Freiheit betreffend, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

Insbesondere eine Betreuerbestellung gegen den freien Willen des Betroffenen stellt sich als ein massiver Eingriff in dessen Würde dar, der zu unterlassen oder zu beseitigen ist.[9]

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Aus dem Vorstehenden folgt, dass es in jedem anhängigen Betreuungsverfahren – soweit der Betroffene nicht selbst einen Antrag auf Betreuerbestellung ausbrachte – geboten ist, einen Sozialbericht nach § 8 Abs. 1 BtBG einzuholen. Nur so wird es im Zweifel möglich sein, Feststellungen darüber zu treffen, ob anderweitige Hilfen i.S.d. § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB zu Gunsten des Betroffenen aktiviert werden können. Entscheidend ist, dass das Gericht das soziale Umfeld sowie die individuellen Lebensbedingungen des Betroffenen erforscht. Dies kann auch im Wege des Einholens eines Gutachtens erfolgen, das über die sozialen Gesichtspunkte Aufschluss gibt.[10] Die gesamte Situation des Betroffenen ist zu berücksichtigen. Dies gilt auch in Verfahren, in denen der Betroffene mehrere Vorsorgevollmachten ausstellte und Streit darüber besteht, welche der Vollmachten wirksam ist.[11]

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Unterbleibt das Einholen eines Sozialberichtes und/oder eines Gutachtens über die sozialen „Gesichtspunkte“, so stellt sich dies als ein gravierender Mangel der gebotenen Sachverhaltsaufklärung nach § 26 FamFG dar.[12] Ferner ist unter Angabe des Aktenzeichens des Betreuungsverfahrens ein automatisierter, elektronischer oder schriftlicher, bei besonderer Dringlichkeit auch fernmündlicher Abruf nach § 78d BNotO i.V.m. § 6 VRegV des zentralen Vorsorgeregisters der Bundesnotarkammer vorzunehmen. Liegen Hinweise auf eine Betreuungsverfügung oder Vorsorgevollmacht vor, muss das Betreuungsgericht dem nachgehen und nach § 1901c S. 3 BGB, § 285 FamFG die Vorlage entsprechender Schriftstücke verlangen.[13]

Quelle: Zentrales Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer; Auswertung und Gestaltung: Deinert


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