Читать книгу Die Gilde der Iris - Sylvani Barthur - Страница 14

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KAPITEL 6

Eine Woche verging. Die Tage waren nebensächlich geworden. Ich wartete nur noch auf die Nächte, in denen mich der gleiche Traum immer wieder heimsuchte. Er verlief stets gleich. Jedes Mal rannte ich davon und erwachte schreiend. Mittlerweile fühlte ich mich total ausgelaugt.

Als Sara am Sonntagmorgen in mein Zimmer gestürmt kam, nachdem ich wieder laut schreiend aufgewacht war und kreidebleich und schweißgebadet in meinem Bett saß, beschloss ich, mit ihr darüber zu reden. Ich musste dringend mit jemanden über diese Träume sprechen, sonst würde ich noch verrückt werden.

Nach dem Frühstück gingen wir im Park spazieren, der nicht weit von unserer Wohnung lag. Es war zwar kalt, aber die tief stehende Sonne schickte ein paar wärmende Strahlen durch die kahlen Bäume, die sehnsüchtig darauf warteten, dass mit dem Frühling ihr grünes Blätterkleid zurückkam. Auch ich freute mich darauf, denn dann würde ich sie noch deutlicher spüren können als jetzt, wo ihre Zweige kahl in den Himmel ragten.

„Sagst du mir endlich, was mit dir los ist?“, fragte Sara besorgt.

„Mir geht es wie dir neulich.“ Verwundert schaute sie mich an, also schob ich eine Erklärung nach: „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll?“

Ich war mir nicht sicher, wie sie es aufnehmen würde, wenn ich ihr von meiner Sehnsucht nach meinen leiblichen Eltern erzählte. Und das musste ich, denn es war ein wichtiger Teil des Traums.

„Du hast dich verliebt?“, fragte sie erstaunt.

„Nein“, sagte ich abwehrend. Das hatte sie komplett falsch verstanden. Trotzdem wurde ich rot. „Ich habe seit einiger Zeit seltsame Träume. Es ist immer wieder der gleiche Traum und er ist mehr als schräg.“ Dann hielt ich kurz inne, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Normalerweise war Sara neugierig, wenn es um meine Angelegenheiten ging, aber sie schaute mich nur fragend an und schwieg.

„Ich bin in einem Berg und dort treffe ich auf meine Eltern“, sagte ich mit leicht zusammengekniffenen Augen. Ich drehte meinen Kopf ein wenig in ihre Richtung, um ihre Reaktion zu erforschen, und meinte zu sehen, wie sich ihre Augen für einen winzigen Moment weiteten. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich es erwartete? Ich war mir nicht sicher, also fuhr ich einfach fort, zu erzählen.

„Sie sprechen mich mit meinem Namen an und sagen mir, dass sie mich lieben und dass ich dazu bestimmt bin, die Welt zu retten. Oder so etwas Ähnliches. Das war dann so ungefähr alles.“

Das war eine ziemlich grobe Zusammenfassung von den vielen Dingen, die dort im Berg geschahen, und ich war sehr gespannt darauf, was sie dazu zu sagen hatte.

„Das ist wirklich ein eigenartiger Traum“, sagte sie nach einem kurzen Moment. „Aber Träume sind manchmal seltsam.“

War das alles? Ich hatte gedacht, dass sie die Sache mit meinen Eltern mehr aufregen würde.

„Aber diesen Traum habe ich jede Nacht, und er läuft immer gleich ab. Am Ende renne ich weg und wache völlig fix und fertig auf.“

„Eli, ich kenne so etwas auch. Das sind einfach Albträume.“

„Zuerst dachte ich ja auch, es wäre Zufall. Aber das geht jetzt schon fast zwei Wochen so und macht mich total verrückt. Ich kann den ganzen Tag an nichts anderes mehr denken.“ Meine Stimme zitterte, als ich das sagte. „Und das mit meinen Eltern belastet mich furchtbar.“

„Das kann ich mir vorstellen, Eli.“ Sie blieb stehen und sah mir in die Augen. „Aber sie sind tot Elisa, schon neun Jahre. Sie sind bei dem Unfall gestorben. Das ist alles nur ein Traum“, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Wir werden das beobachten und zum Arzt gehen, wenn es nicht aufhört. Das Gehirn kramt manchmal vergessene Dinge hervor und verknüpft sie mit erfundenen Geschichten. Das klingt vielleicht verrückt, aber so funktioniert unser Gehirn nun mal. Dich suchen sicher Erinnerungen von früher heim, das ist nicht ungewöhnlich.“

Ich fand das alles andere als normal, aber sie hatte wahrscheinlich recht.

„Das wird bestimmt wieder vergehen. Und wenn nicht, gibt es Therapien, die da helfen können. Das kriegen wir schon hin“, fügte sie noch an.

„Du glaubst, ich bin verrückt?“ Abrupt blieb ich stehen und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

„Nein, Eli, so habe ich das nicht gemeint. Du bist nicht verrückt, aber manchmal spielt einem der Kopf Streiche, gerade in der Pubertät.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das solltest du nicht so ernst nehmen, glaub mir.“

Vielleicht hatte sie recht. Ich nickte, obwohl mich ihre Worte nicht beruhigten. Wir gingen weiter und für Sara schien das Thema erledigt zu sein. Meine Gedanken kreisten allerdings weiter um den Traum und mein Kopf suchte nach Erklärungen. Beinahe wäre ich gestolpert, als ich wie aus der Ferne ihre Stimme hörte, die mich aus meinen Grübeleien riss.

„Na, das ist ja ein Zufall“, rief sie aus. „Da vorne ist Erik. Ach du meine Güte.“ Sie schaute an sich herunter. „Ich bin ja furchtbar angezogen.“

Ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters mit blonden Haaren und gebräunter Haut kam auf uns zu. Mit einem strahlenden Lächeln und in schicken Sportklamotten blieb er vor uns stehen. Sara zupfte aufgeregt ihre Jacke zurecht und fuhr sich nervös durchs Haar, um es zu richten.

Ich taxierte ihn eine Sekunde, was mir bei den meisten Menschen ausreichte, um sie einzuschätzen. Er wirkte athletisch und seine kurzen blonden Haare waren perfekt gestylt, obwohl ein paar kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn glänzten. Er strahlte etwas aus, das ich nicht ganz einordnen konnte. Es war eine Mischung aus Stärke, Freundlichkeit und ein gewisses Strahlen, das ein überaus hohes Selbstbewusstsein rüberbrachte. Ich spürte aber auch eine Kälte, die mich einen Moment lang erschaudern ließ.

War dieser Mann wirklich der Richtige für Sara? Dem ersten Eindruck nach nicht. Na ja, sie sah das sicher völlig anders. Er war sehr attraktiv und hatte die Ausstrahlung eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Das zog Frauen an, jedenfalls hatte ich das mal irgendwo gelesen.

„Hallo Sara“, sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme.

Sie zerfloss beinahe und himmelte ihn an. „Hallo Erik.“

Mir war das peinlich.

„Und das muss Elisa sein?“, fragte er freundlich und nickte in meine Richtung.

Das klang sehr nett; vielleicht hatte ich mich doch getäuscht.

„Ja, das ist meine Tochter“, sagte sie mit verklärter Stimme.

Er reichte mir seine Hand, die sich fest und warm anfühlte.

„Schön, dass wir uns mal kennenlernen.“ Seine meerblauen Augen strahlten mich an. „Sie sind genauso hübsch wie Ihre Mutter, oder darf ich noch du sagen?“

Wie konnte ich ihm das abschlagen? Diese Augen schienen einen aufzusaugen, wenn man lange hineinblickte. Ich konnte verstehen, dass sie meine Mutter faszinierten. Mich ängstigten sie allerdings eher.

„Ja, gerne“, sagte ich mechanisch und machte beinahe einen Knicks. War ich jetzt total durchgeknallt? Er lächelte einnehmend.

„Was habt ihr denn heute noch vor?“ Er stand ganz nah bei Sara und hatte sie an der Hand gefasst. Sie schien das sichtlich zu genießen und eine zarte Röte überzog ihre Wangen. So hatte ich sie noch nie erlebt und es war mir sehr unangenehm.

„Ach, wir wollten uns heute einen gemütlichen Sonntag machen.“ Sie schmachtete ihn an wie ein Teenager. Erik war viel größer als Sara und sie musste den Kopf weit nach hinten legen, um ihn anzuschauen. Meine Fantasie ging mit mir durch und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sie sich küssten.

Jetzt aber Schluss! Ich schüttelte angewidert den Kopf.

„Ist dir kalt, Elisa?“, fragte Erik fürsorglich. Er hatte mein Kopfschütteln zum Glück anders gedeutet, als ich es gemeint hatte.

„Ja, ein bisschen“, stammelte ich und war froh, dass er meine Gedanken nicht mitbekam. „Ich hätte mir wohl mehr anziehen sollen.“ Demonstrativ rieb ich mir über die Arme.

„Dann solltet ihr lieber nach Hause gehen, ehe sich Elisa noch eine Erkältung holt“, sagte er zu Sara und strich ihr liebevoll übers Haar.

Meine Güte, war der fürsorglich. Kein Wunder, dass sie so auf ihn abfuhr. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment dahinschmelzen.

„Ja, das machen wir“, hauchte sie. „Wir müssen sowieso unser Mittagessen kochen. Es ist ja schon fast elf Uhr.“ Man merkte ihr allerdings an, dass sie sich nur ungern von ihm verabschiedete.

„Ich muss jetzt auch los. Mein Sohn und ich wollen uns heute Nachmittag ein Spiel der Eishockeymannschaft anschauen. Er ist ein totaler Fan der Löwen.“ Erik reichte mir seine Hand. „Dann noch einen schönen Tag und wir sehen uns sicher mal wieder.“

Ich nickte mechanisch.

Sara gab er einen Kuss auf die Wange. „Tschüss, Sara, wir sehen uns ja morgen in der Firma. Und macht es euch noch gemütlich, ihr beiden.“

Sie wurde wieder rot und er winkte ihr zu, ehe er sich umdrehte und unglaublich elegant davon joggte.

„Er hat einen Sohn?“, fragte ich und bemerkte, wie sie ihm schmachtend hinterherschaute. Ich erkannte meine verantwortungsvolle und ernste Adoptivmutter gar nicht wieder. Sie kam mir vor wie ein Teenie.

„Ja, hat er. Er muss ungefähr so alt sein wie du oder etwas älter.“

„Ist ja auch egal“, sagte ich schroff. „So spannend ist das ja auch wieder nicht.“

Sie schaute mich irritiert an. So ganz konnte ich die Abneigung, die ich verspürte, wohl doch nicht verbergen. Schweigend gingen wir nach Hause.

Als wir in der Küche das Essen vorbereiteten, lief der Fernseher, der an der Wand hing. Es war der Einzige in der ganzen Wohnung, denn im Wohnzimmer brauchten wir keinen, weil wir dort fast immer in unseren Büchern schmökerten.

Eine Eilmeldung unterbrach die Dokumentation, die wir beim Kochen nebenbei laufen ließen. Es wurde von verheerenden Katastrophen an allen Küsten rund um die Erde berichtet. Ein Experte trat auf, der erklärte, dass seit zwei Tagen gewaltige Eismassen an den Polen in einem irren Tempo abgeschmolzen waren und sich dadurch der Meeresspiegel überall drastisch erhöht hatte. Wenn das so weiterging, drohten ganze Städte an den Küsten unterzugehen.

Sara fiel der Holzlöffel aus der Hand, mit dem sie gerade in der Pfanne rührte. „Was ist da los?“ Sie wurde ganz bleich. „Es wird doch nicht …“ Ein Reporter, der von der amerikanischen Westküste berichtete, unterbrach sie: „In San Francisco trifft man gerade alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen, um sich vor den bevorstehenden Überschwemmungen zu schützen. Die vor Jahren angelegten Salzwiesen und die dahinter liegenden Deiche sollten mit dem langsamen Anstieg des Meeresspiegels in die Höhe wachsen und vor Sturmfluten Schutz bieten. Doch wie es aussieht, wird das bei dem rasanten Ansteigen des Wassers wenig nützen.“

Bei den Bildern der verzweifelten Menschen, die in Panik ihre Häuser mit dem Nötigsten verließen, wurde mir ganz übel. Ich wandte mich an Sara. „Wie kann denn das Eis so schnell abschmelzen? Da muss doch irgendwas passiert sein.“

Sie schaute mich mit einem versteinerten Blick an und zuckte beinahe unmerklich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Elisa.“

Es folgten weitere Berichte von Überflutungen und Zerstörungen aus anderen großen Städten, die direkt an der Küste lagen – New York, Mumbai und Shanghai. Auf vielen bewohnten Inseln wie Japan oder den Philippinen war schon das Chaos ausgebrochen. Es blitzten Bilder auf, die aus Flugzeugen gemacht worden waren und die Schmelzwasserbäche im Eis der Arktis zeigten. Dann folgten ähnliche Bilder von der Antarktis, auf denen reihenweise riesige Brocken von der Eismasse abbrachen und ins Wasser stürzten.

Was war da nur los? Das konnte doch keine natürliche Ursache haben, oder? Als mir plötzlich die Worte meiner vermeintlichen Eltern aus dem Traum einfielen, durchfuhr mich ein Schmerz, als hätte ich mich an einem Messer geschnitten. Sie hatten schlimme Naturkatastrophen vorausgesagt, die in Kürze eintreten würden.

Sollte an meinen Träumen womöglich etwas Wahres sein?

Sara folgte den Ausführungen der Reporter mit Sorgenfalten im Gesicht, aber sie sagte kein Wort. Am liebsten hätte ich ihr erzählt, dass meine vermeintlichen Eltern genau so etwas in meinen Träumen erwähnt hatten, entschied mich jedoch dagegen.

„Ich muss noch mal weg, Eli. Es dauert nicht lange.“ Sara stand schon in der offenen Wohnungstür, als sie mir das zurief. Gleich danach fiel die Tür ins Schloss. Eigentlich sagte sie mir immer, wohin sie ging, doch dieses Mal nicht. Wahrscheinlich wollte sie sich mit Erik treffen, auch wenn es eben im Park nicht so geklungen hatte.

Wann sie nach Hause kam, bekam ich nicht mit, denn ich war schnell eingeschlafen. In dieser Nacht hatte ich das erste Mal seit fast zwei Wochen nicht diesen seltsamen Traum und als ich erwachte, fühlte ich mich ausgeruht.

Gut gelaunt machte ich mich auf den Weg zur Schule, wo mir prompt Kris über den Weg lief.

„Na, bist du vorbereitet für den Sprachkurs heute Nachmittag?“, fragte er und baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf.

Stimmte ja, heute war wieder Norwegisch angesagt. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, hinzugehen. Mich beschäftigten die furchtbaren Ereignisse auf der Welt, von denen man jetzt nur noch hörte, und dem eventuellen Zusammenhang mit meinen Träumen.

„Das ist ja im Moment ziemlich nebensächlich, wo so viel Schlimmes auf der Welt passiert“, sagte ich abweisend zu ihm.

„Na ja, dass der Meeresspiegel steigt, war ja schon lange klar, aber was willst du daran ändern?“, fragte er mich.

Das war wieder typisch für diesen selbstverliebten Typen, der er offensichtlich war!

„Macht es dir denn gar nichts aus, zu sehen, wie verzweifelt die Menschen sind, die davon betroffen sind?“ Ich wurde laut, so empört war ich.

„Wie gesagt, wir können nichts dagegen tun.“ Er zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Aber ich finde es toll, dass du dich so damit beschäftigst.“

Was sollte denn diese Ansage? Wollte er mich etwa auf den Arm nehmen?

„Im Ernst“, sagte er voller Begeisterung, als er meinen ärgerlichen Blick bemerkte. „Ich finde es wirklich richtig gut, wenn sich jemand so für andere interessiert, auch wenn es in diesem Fall sinnlos ist.“

Ein Wechselbad der Gefühle – ein Kompliment und gleich darauf eine Abfuhr. Aus diesem Kerl wurde ich nicht schlau. Aber ich fragte mich echt, wieso mich das überhaupt kümmerte. Ich schüttelte nur den Kopf und ließ ihn stehen.

„Bis heute Nachmittag zum Kurs. Du kommst doch?“, rief er mir hinterher, aber ich drehte mich nicht um.

Die Gilde der Iris

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