Читать книгу Die Gilde der Iris - Sylvani Barthur - Страница 9

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KAPITEL 1

Verdammt, es war schon wieder passiert … Ich würde zu spät zum Sprachkurs kommen! Der tiefe Gong der alten Wanduhr hatte mich aus der mystischen Welt der Druiden von Stonehenge gerissen, in die ich völlig abgetaucht war.

Eilig klappte ich das Buch zu, mit dem ich mich auf der Couch eingekuschelt hatte. Meine Mutter Sara hatte es mir überlassen, nachdem sie es ausgelesen hatte. Sie war sich sicher, dass es mir gefallen würde, und was auf den ersten fünfzig Seiten stand, hatte mich wahrhaftig voll in seinen Bann gezogen.

Das Lesen war ein Hobby, das ich mit Sara teilte. Wir beide mochten Geschichten über geheimnisvolle Orte und versunkene Völker. Ich konnte zu jeder Zeit mühelos in diesen Welten verschwinden, mich darin verlieren und komplett die Zeit vergessen … Genau wie eben gerade noch.

Der Norwegisch-Sprachkurs, den ich an der Volkshochschule belegt hatte, würde in zehn Minuten anfangen, und der Weg dahin dauerte schon mehr als eine Viertelstunde. Ich würde mal wieder zu spät kommen. Das gab mit Sicherheit Ärger und Sara würde es auch nicht sonderlich gefallen.

Es war ihre Idee gewesen, dass ich die norwegische Sprache lernte. Sie selbst war zweisprachig aufgewachsen, weil ihre Eltern ursprünglich aus Norwegen stammten. Leider waren sie früh verstorben, sodass ich sie nie getroffen hatte. Ich kannte sie nur von ein paar Bildern aus einem Album.

Weil Sara immer lange arbeiten musste und außerdem noch verschiedene Abendkurse belegte, blieb ihr nicht genug Zeit, mir Norwegisch beizubringen. Deshalb ging ich einmal die Woche zum Kurs, auch wenn mir das Einiges von meiner Freizeit nahm.

Rasch packte ich die paar Utensilien ein, die ich brauchte, putzte eilig die Gläser meiner Brille, die irgendwie immer schmutzig waren, und lief zur Bushaltestelle. Die Stadtbibliothek, in der die Sprachkurse der Volkshochschule stattfanden, lag im Zentrum. Als ich endlich im überfüllten Bus saß, in dem ich gerade so den letzten Sitzplatz ergattert hatte, schweifte mein Blick über die Fassaden der dicht aneinandergedrängten Gebäude, an denen sich der Bus langsam vorbeischob. Es war Hauptverkehrszeit und wir kamen nur stockend voran.

Mir fiel mal wieder auf, wie trist es war, je weiter wir uns in Richtung Zentrum bewegten. Es fehlte eindeutig das Grün der Bäume zwischen den kahlen Häuserschluchten, die starr und kalt in den Himmel ragten. Selbst die bunt bepflanzten Steinkübel, die als spärlicher Ersatz an einigen Straßenrändern standen, machten das nicht wett. Als ich durch das Busfenster an den grauen Fassaden der Häuser hinaufsah, schienen sie immer näher zu rücken und ich hatte das Gefühl, dass sich mir die steinernen Fronten langsam entgegen lehnten, um mich zu erdrücken. Ich kniff die Augen zusammen und rang einen Moment lang nach Luft. Was ich mir immer einbildete … stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf.

Endlich war ich an der Haltestelle nahe der alten Stadtbibliothek angekommen. Das letzte Stück rannte ich, um etwas Zeit herauszuholen, was natürlich Blödsinn war. Die Luft, die ich dabei einatmete, schmeckte nach dem Staub der Stadt und ich dachte wehmütig an meinen kleinen Garten hinter unserem Wohnhaus am Stadtrand.

Das wuchtige weiße Gebäude mit den überdachten Säulen am Eingang faszinierte mich jedes Mal wieder. Wenn ich durch das Portal ging, kam es mir immer vor, als würde ich eine andere Welt betreten, eine alte Welt, die meine Gedanken zu fantastischen Orten abschweifen ließ.

Doch das Gefühl verging schlagartig, als ich auf die Uhr schaute. Ich war zwanzig Minuten zu spät und der Kurs hatte längst angefangen. Sicher hatten sich die neuen Kursteilnehmer mittlerweile vorgestellt und ich würde jetzt mitten in das Gespräch platzen – alle Augen würden auf mich gerichtet sein. Ich bekam Gänsehaut und gleichzeitig wurde mir heiß. Das hier gehörte sicher nicht zu meinen Lieblingsauftritten, denn ich blieb lieber unsichtbar. Instinktiv zog ich den Kopf ein, als ich an der Tür zum Kursraum klopfte und zögernd eintrat.

„Ach, da kommt ja noch jemand.“ Die Kursleiterin Frau Vallant schaute mich über ihre Brille hinweg an. Sie war eine ernste Lehrerin mittleren Alters, die durch den straff aufgesteckten Dutt und die schmale schwarze Brille, die sie meist an einem Band um den Hals trug, noch strenger wirkte. „Fräulein Walden“, sagte sie spitz. „Wie ich sehe, haben Sie doch noch hergefunden. Da wird sich Ihre Mutter aber freuen.“

Frau Vallant war eine Arbeitskollegin von Sara, die in ihrer Freizeit den Sprachkurs gab. Dadurch war meine Mutter immer bestens über meinen Wissensstand informiert.

In Gedanken verdrehte ich die Augen, nickte aber als Antwort nur. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, als ich die Blicke der anderen Kursteilnehmer auf mir spürte. Es waren eine Menge neuer Gesichter dabei, ein Umstand, der mich noch nervöser machte.

„Hier.“ Frau Vallant deutete auf die letzte Bankreihe. „Ihr alter Platz ist noch frei, allerdings müssen Sie ihn sich mit einem netten jungen Mann teilen.“

Echt jetzt? Das durfte ja nicht wahr sein! Ich ging mit gesenktem Kopf durch die Reihen und kam dabei ins Stolpern, konnte mich aber wieder fangen. Dabei löste sich eine Haarsträhne aus meinem Pferdeschwanz, die ich genervt hinter mein Ohr schob. Als ich kurz den Kopf hob, blickte ich in grinsende Gesichter. Ich kam mir vor wie bei einem Spießrutenlauf. Nur gut, dass ich diese Leute nur anderthalb Stunden in der Woche sah.

Im Anfängerkurs hatte ich das Privileg gehabt, die Bank in der letzten Reihe am Fenster für mich alleine zu haben, aber jetzt im Kurs für Fortgeschrittene waren alle Plätze bis auf einen belegt. Am Fenster saß dieser „nette junge Mann“, wie die Kursleiterin ihn genannt hatte, und ich vermied, meinen Blick dorthin zu lenken. Aber aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie er mich lächelnd musterte.

„Hi, Hi“, zitierte eine fröhliche, etwas belegte männliche Stimme neben mir die norwegische Begrüßung. „Ich bin Kris. Aber ich gebe dir nicht die Hand, bin ein klitzekleines Bisschen erkältet.“

Ich drehte langsam den Kopf in Richtung Fenster, wo ich in ein paar lebendige graue Augen schaute, die einen hellblauen Schimmer hatten. Sie passten gut zu der gebräunten Haut und den blonden, aufgestylten Haaren. Der „nette junge Mann“, dem die Stimme gehörte, sah ziemlich gut aus, stellte ich fest. Ehe ich dazu kam, mich ebenfalls vorzustellen, sprach er schon weiter.

„Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, würden dir ein paar Viren von mir sicher guttun. In den kleinen Dingern steckt nämlich die volle Power von meiner Wenigkeit, und du dürftest dich geehrt fühlen, ein paar von ihnen abzukriegen.“

Hatte der sie noch alle? Der schien sich für Mister Obercool zu halten und eine Labertasche war er noch dazu. Er war mir jetzt schon unsympathisch, egal wie gut er aussah. Scheinbar hatte ich mit dem neuen Banknachbarn den Hauptgewinn gezogen.

„Wie heißt du?“, fragte er dann und klang zumindest ein bisschen weniger überheblich.

„Elisa“, sagte ich kurz angebunden.

Ich packte mein Kursbuch und die Federmappe aus, ohne ihn anzusehen. Hoffentlich war das alles an hirnloser Konversation für diese Unterrichtsstunde, mehr würde ich nämlich nicht ertragen. Aber da hatte ich mich getäuscht, denn er legte gleich wieder los.

„Du hast letztes Jahr den Anfängerkurs belegt?“

„Hm.“

„Und wie ist dein Stand? Ich habe schon die Prüfung für die Mittelstufe abgelegt, erfolgreich übrigens“, prahlte er.

Am liebsten hätte ich ihn gefragt, was er dann hier wollte, aber das würde nur unnötige Diskussionen anheizen. So wie er drauf war, würde er sicher vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Die Frage war auch gar nicht nötig, er gab mir von allein die Antwort. Meine Güte, das konnte ja was werden!

„Ich mache das hier nur zur Auffrischung.“ Er setzte eine ernste Miene auf. „Ich mag es einfach, wenn ich etwas perfekt kann.“

So, nun wusste ich auch, dass er ein Perfektionist war. Fehlte nur noch, dass er mir erzählte, welche Sorte Unterhosen er trug.

Ehe er wieder ansetzte, mir irgendeinen Schwachsinn zu erzählen, schnitt ich ihm das Wort ab: „Ich denke, wir sollten Frau Vallant zuhören. Sie erklärt die unregelmäßigen Verben, da sollte ich aufpassen.“ Mit zusammengekniffenen Augen funkelte ich ihn an. „Ich habe nämlich noch keine Mittelstufenprüfung erfolgreich abgeschlossen.“

Das Letzte kam vielleicht etwas scharf heraus, aber es hatte wohl gesessen, denn er klappte den Mund wieder zu und schaute starr zur Tafel. Die Kursleiterin hatte bereits ein paar der Verben angeschrieben. Ups, das war dann wohl in sein überhebliches Gehirn vorgedrungen.

Demonstrativ drehte ich mich nach vorne und schrieb die Wörter sorgfältig ab. Ich war froh, dass sich ein paar Strähnen aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten und mir ins Gesicht fielen, sodass seine Sicht auf mich ziemlich eingeschränkt sein musste. Für gewöhnlich regte es mich tierisch auf, wenn meine schwer zu bändigenden braunen Haare aus dem Haargummi flutschten, und ich steckte sie mir dann meistens hinters Ohr. Doch jetzt ließ ich sie hängen, sodass sie einen Vorhang formten, hinter dem ich mich verstecken konnte.

Außerdem konnte ich so ab und zu zu ihm schielen, ohne dass er es bemerkte. Den Rest der Stunde hatte ich Ruhe vor seinem Gequassel und als der Kurs zu Ende war, blieb ich noch kurz sitzen,

„Kommst du nicht mit raus?“, fragte er, nachdem er aufgestanden war. Dass er weiterhin mit mir redete, hatte ich nach der barschen Zurechtweisung nicht erwartet.

„Nein … äh, ich muss mit Frau Vallant noch was wegen dem Kursbuch klären“, meinte ich stotternd. In Wahrheit wollte ich nur warten, bis er weg war, damit ich in Ruhe nach Hause gehen konnte, ohne weiter vollgequatscht zu werden.

„Okay, dann nicht.“ Er kniff den Mund zusammen. „Wir sehen uns spätestens nächste Woche.“ Dann winkte er mir kurz zu und verließ den Raum.

Verstohlen blickte ich ihm nach. Er war wirklich nicht unattraktiv, groß und muskulös mit breiten Schultern. Ob er Boxer war? Sicher nicht. Dafür war sein Gesicht zu makellos. Ich schüttelte den Kopf, als ich mich bei diesen Gedanken ertappte. Warum dachte ich überhaupt darüber nach? So einem arroganten und geschwätzigen Typen konnte ich nun wirklich nichts abgewinnen.

Der letzte Satz, den er gesagt hatte, bevor er ging, hallte in meinem Kopf nach. Was meinte er mit spätestens nächste Woche? Er würde doch nicht draußen auf mich warten? Quatsch, beruhigte ich mich, wieso sollte er das tun? Er stand sicher auf coole Mädels und nicht auf so einen Nerd wie mich.

„Ist noch was, Elisa?“ Frau Vallants Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Äh, nein … Ich wollte nur fragen, ob ich was verpasst habe?“, redete ich mich heraus. Sie fand es sicher seltsam, dass ich wie angewurzelt auf meinem Platz saß, obwohl alle anderen schon weg waren.

„Nein, dir ist nur die Vorstellungsrunde entgangen. Aber darauf hast du ja sicher keinen Wert gelegt, oder?“ Sie neigte fragend den Kopf.

Ich schüttelte stumm den Kopf. Wie gut sie mich doch kannte. Ich erhob mich eilig und verabschiedete mich, ehe ich den Raum verließ.

Draußen auf dem Flur blickte ich mich um, aber da war niemand. Hatte ich gehofft, dass Mister Obercool noch da wäre? Elisa, was interessiert dich so ein arroganter Schnösel?, schalt ich mich in Gedanken und hakte das Thema ab.

Der Tag wurde lang und nach Schule und Sprachkurs wollte ich noch im Garten nach dem Rechten sehen. Prompt blieb ich in dem gläsernen Gewächshaus hängen, das hinter dem Mehrfamilienhaus mit unserer Wohnung stand. Dort überwinterten die Schösslinge meiner Bäume, die in der kalten Jahreszeit noch Schutz brauchten. Jetzt im Februar gab es frostige Nächte, die ihnen schaden konnten, und so behielt ich meine Lieblinge lieber im Winterquartier.

Die Scheiben waren ziemlich verdreckt und ließen nur wenig von dem lebensspendenden Sonnenlicht durch, nach dem sich die kleinen Bäumchen in dieser dunklen Jahreszeit sehnten. Ich beschloss, sie zu putzen, auch wenn ich mich viel lieber mit dem Buch über die Druiden auf die Couch verzogen hätte.

Meine Bäumchen begrüßten mich, als ich mit einem Eimer Wasser und ein paar Lappen eintrat, was mich lächeln ließ. Ich liebte meine Zöglinge, die ich alle selbst gesät und aufgezogen hatte, über alles. Sie zu pflegen und mich mit ihnen zu beschäftigen, war mein zweites Hobby, das ich noch mehr schätzte als das Lesen.

„Es ist ziemlich dunkel hier drin. Ihr braucht unbedingt mehr Licht“, rief ich ihnen zu. Sie wackelten mit ihren Zweigen und flüsterten.

Zwar verstand ich nicht, was sie sagten, aber ich hatte das Gefühl zu spüren, was sie meinten. Sie schienen sich zu freuen, dass ich bei ihnen war. Rasch machte ich mich an die Arbeit und versuchte, alles so schnell wie möglich zu erledigen. Es war ziemlich kalt und schon nach den beiden ersten Scheiben fingen meine Finger an, schmerzhaft zu kribbeln. Ich ballte die Hände ein paar Mal zu Fäusten und streckte sie wieder.

Um mich herum kam ein Raunen auf, das sich anhörte, als würden meine Bäumchen mich bemitleiden. Ich hauchte auf die Hände, was allerdings nicht viel half, also machte ich einfach weiter. Für meine Schützlinge brachte ich gerne Opfer.

Als ich fertig war, betrachtete ich stolz mein Werk. Man konnte jetzt Gefahr laufen, gegen die Scheiben zu rennen, so blitzblank hatte ich sie geputzt. Liebevoll musterte ich meine Zöglinge, die in Töpfen überall im Gewächshaus verteilt wuchsen. Es gab Kastanien, Ahorn und Kiefern, aber am liebsten waren mir die drei Bäumchen, deren Früchte ich vor zwei Jahren ausgesät hatte. Es waren eine Eiche, eine Buche und eine Linde. Die drei Sprösslinge waren prächtig gewachsen und maßen schon um die fünfzehn Zentimeter.

Mit ihnen redete ich am liebsten, und ich bildete mir ein, dass sie mir antworteten, wenn ich einen Rat brauchte. Für mich war das ganz normal. Allerdings erzählte ich lieber niemandem davon, weil ich die Befürchtung hatte, dass man mich dann für einen Freak hielt.

„Jetzt bekommt ihr wieder mehr Sonne.“ Ich streichelte zart über die kleinen Zweige, deren Blättchen es nicht erwarten konnten, endlich hervorzubrechen. Für mich klang es so, als würden sie kichern und ich gab jedem von ihnen einen Kuss auf die Knospen. Für eine längere Unterhaltung hatte ich heute nicht die nötige innere Ruhe. Der Tag hatte mich total geschlaucht.

Die Gilde der Iris

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