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K A P I T E L 1

Dortmund anno 1601

Ihre Lunge brannte, und sie glaubte, ihr Herz würde explodieren. Mit aller Kraft klammerte sich das Mädchen an die Hand ihrer Mutter und wünschte sich sehnlichst, sie würde sie wieder tragen. Die kleinen Füße konnten mit dem Tempo der Frau nicht mithalten.

»Freyja, eile dich. Ich kann dich nimmer auf diesem engen Pfad tragen«, rief die Mutter ihr gehetzt zu.

Der Pfad auf dem die beiden liefen war so schmal, dass keine zwei Personen nebeneinander hergehen konnten. Gesäumt war der Weg von dichtem, stacheligem Buschwerk und hohen Bäumen, die ihre Äste wie Finger nach den beiden Flüchtenden ausstreckten.

Eilen? Sie konnte einfach nicht schneller und die Angst, die ihre Mutter ausstrahlte, machte ihr schwer zu schaffen. Wo ist meine Großmutter? Was ist geschehen? So viele Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum.

Die spitzen Steine, über die ihre nackten Füße liefen, taten weh, und sie war froh, als ihre Mutter endlich anhielt. Sie ballte die Hand, die ihre Mama so fest gedrückt hatte, zu einer Faust. Aber diese Pein war nichts gegen den Schmerz, der sie urplötzlich durchflutete. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so intensiv war es. Wehrlos drückte sie ihr Gesicht gegen den Leib ihrer Mutter. Es tut so weh! Dieses Leid war nicht körperlich. Nein, es war vielmehr mental und durchlief sie in heißen Wellen. Es machte ihr Angst, denn diese Qual bedeutete, dass jemand litt, der sie sehr liebte. Normalerweise schützte sich das vierjährige Kind vor seelischen Attacken, indem es eine unsichtbare Blase um sich herum erzeugte. Dann konnten die negativen Gefühle ihr von Außen nichts mehr anhaben. Aber dieses Mal war es zu mächtig. Sie hatte ein paar Mal den Versuch gewagt, ihr imaginäres Schutzschild zu erschaffen, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, und sie fühlte, dass es ihrer Mutter genauso erging. Nur langsam verebbten die Schreie, die von dem Dorf, welches unterhalb des sich hoch in die Berge schlängelnden Pfades lag, zu ihnen hallten.

Dort standen Mutter und Tochter und klammerten sich verzweifelt aneinander. Die Hände der Frau lagen auf den Ohren des Kindes, um sie vor den Schreien zu schützen. Sie durchdrangen das Mädchen wie ein Sturm.

Der beißende Geruch, der in der Luft lag, schien ihre Lungen zu verkleben. Er hatte seinen Ursprung in dem Feuer, welches inmitten des Marktplatzes prasselte. Alles roch nach verbranntem Fleisch.

Das Kind erinnerte sich an ein grausames Erlebnis: Es waren Ochsen! Ihr Unterstand war vom Blitz getroffen worden und hatte Feuer gefangen. Die Tiere hatten sich nicht ins Freie retten können. Damals hatte es genauso gestunken wie in diesem Augenblick.

Das Mädchen wurde unruhig. Es wollte fort von diesem Ort, von diesem Gestank und diesen Schmerzen, die sie bald nicht mehr würde ertragen können.

Ihr Blick wanderte hoch zu dem Gesicht ihrer Mutter. Tränen schimmerten in deren smaragdfarbenen Augen. Die erste Träne suchte sich ihren Weg, rann die Wange hinab.

»Axara, du musst mit Freyja fliehen.« Die Stimmen, die einem Echo gleich erklangen, lösten Mutter und Tochter aus ihrer erstarrten Haltung. Es waren zwei Vögel, die auf den ersten Blick wie gewöhnliche Spatzen aussahen. Bei näherem Hinsehen erkannte man aber, dass ihr Gefieder golden glänzte. Außerdem beherrschten sie die menschliche Sprache, und wenn sie redeten, taten sie es meistens synchron. Die beiden ließen sich auf einem dicken Ast einer knorrigen Eiche nieder, sodass sie mit der Frau auf Augenhöhe sprechen konnten.

Die Frau richtete ihre Kapuze, die der stürmische Wind ihr vom Kopf gerissen hatte. Sie strich ihrer Tochter zärtlich über die rotblond geflochtenen Zöpfe und blickte zu ihren beiden Vögeln hinüber. »Blitz und Donner, wo habt ihr verweilt? Mich plagte schon Sorge, dass wir ohne euch dieses verlogene Dorf verlassen müssten. Mich hält hier nichts mehr. Mutter hat immer nur geholfen, niemals jemandem Leid zugefügt. Warum haben sie bloß so über sie gerichtet?« Heiser, beinahe zerbrechlich klang ihre Stimme.

»Axara, der Dämon hat ihr Unrecht getan, er ist auch hinter dir her. Er hatte mit dem Dorfbüttel Hannes geschwatzt. Wir haben alles mit angehört!« Erneut zwitscherten sie gleichzeitig. Doch dann veränderte sich ihre Melodie. Es wurde nun deutlich, dass sie das gehörte Gespräch nachspielten.

Donners Stimme klang wie Samt und Seide. So weich, man wollte in ihr versinken. Es war der Dämon, den er nun imitierte: »Gehabt euch wohl, Junker Hannes.«

Blitz antwortete in kratzigem Ton. Er lispelte leicht, keuchte zwischen den einzelnen Vokalen: »Gehabt Euch wohl, Edelmann. Wie darf ich Euch ansprechen?«

»Namen sind Schall und Rauch, Dorfbüttel Hannes. Verratet mir lieber, ob ich Euch meinen Met anbieten darf?«

»Zu Met sage ich doch niemals nein. Sehr gerne.«

Eine kleine Pause folgte, bis der Vogel weitersprach: »Sagt Junker Hannes, mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr eine Hexe gefangen habt. Prost auf den großartigen Hexenjäger!«

»Zum Wohle, Schall ... äh ... Herr Edelmann. Da habt Ihr recht vernommen. Die alte Katharina Rose weilt in der Arreststube unseres Rathauses. Aber mich dünkt, dass sie nicht ganz gewiss der Hexerei bezichtigt werden kann. Die Witwen Kampmann und Scheller gaben bereits zu Protokoll, dass sie die alte Rose nachts in den Wäldern splitternackt bei Vollmond haben tanzen sehen. Am nächsten Tag wären ihre Eier faul und die Milch sauer gewesen. Katharina Rose gesteht aber nicht.«

»Aber Junker Hannes, mir ist ebenfalls zu Ohren gekommen, dass Ihr vor der alten Rose bereits zwei Hexen habt laufen lassen. Das ist Eurem Ruf als Hexenjäger aber bei Gott nicht dienlich.«

»Ja, ja. Das ist recht und ein wahres Ärgernis.«

»Nun, vielleicht helfen einige dieser Goldtaler und ein guter Rat von mir.«

»Gold? Und dann noch ein guter Rat? Warum wollt Ihr Katharina Roses Verurteilung?«

Donner imitierte das kalte Lachen des Fremden. Es passte so ganz und gar nicht zu der melodisch klingenden Stimme. »Ich hatte um die Hand von Axara Rose angehalten. Die Alte hat mich von ihrem Grundstück gejagt.«

»Axara Rose? Ihr wisst, dass sie mit einem Bastard belastet ist?«

»Ja, ich würde das Weib sogar mitsamt dem Balg nehmen.«

»Das ist eine wahre Wohltäterschaft, Herr ... wie war doch gleich Euer Name?«

»Schall und Rauch! Katharina Rose wird alles gestehen, wenn Ihr der Alten sagt, Ihr hättet den kleinen Bastard in Eurer Gewalt.«

»Hmm, fürwahr ein teuflischer Plan, aber dennoch siegversprechend. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Die kleine Freyja ist ihr Ein und Alles.«

»Aber guter Junker Hannes. Ihr könnt doch nicht alles bedenken. Es reicht mir aus, wenn Ihr die Befragung so deichselt, dass die Alte endlich gesteht und der Stadtrichter sie zum Tode verurteilt. Dann hole ich mir Axara Rose und das Balg.«

Blitz und Donner hatten mit ihrer Vorstellung geendet, und nun wurden sie auf einmal sehr eindringlich. »Deshalb musst du mit dem Kinde fliehen, Axara. Er hat bekommen, was er wollte, die ehrwürdige Katharina Rose ist tot. Er will dich besitzen.«

»Ein Dämon ist es? Wirklich? Wie könnt ihr euch dessen so sicher sein?«

»Wir haben seine höllische Aura sehr deutlich gespürt«, zwitscherten die beiden Vögel wieder wie aus einem Schnabel.

»Er wird unsere magische Spur verfolgen.« In der Stimme der Frau flackerte Panik auf, und auch dem Mädchen wurde nun deutlich, was da unten im Dorf geschehen war. Sie hatten ihre Großmutter getötet. Nun verstand sie ihren Schmerz und fühlte sich dennoch so hilflos.

»Du musst die höhere Macht um Hilfe bitten. Nur sie kann euch vor ihm beschützen. Eile dich, Axara, ehe er hier auftaucht«, zwitscherten die beiden Vögel und trieben die Frau zur Eile an.

Die Gilde der Rose

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