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7. KAPITEL

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Die unselige Ruhe vor dem Sturm

Norwegen

22:19 Uhr

Susanne betrat das Arbeitszimmer und stellte fest, dass Edda sich nicht mehr darin aufhielt. Nach einigem Suchen fand sie sie in Jos Schlafzimmer, wo sie auf dem Boden saß und dessen Schubladen durchwühlte.

„Ich dachte, du sitzt noch am Computer.“

Edda sah auf und schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen. Ich hab alles versucht. Und das bedeutet leider, erst einmal kein Internet mehr.“

„Kannst du da denn wirklich gar nichts machen? Ich meine, du bist ein Genie, was diese Dinger betrifft …“

„Das mag sein, aber was soll ich machen, wenn der Bildschirm schwarz ist? Ich kann fast alles mit dem Computer, ja, aber ich kann leider nicht zaubern.“ Edda konzentrierte sich auf einen Stapel Briefe.

Susanne setzte sich neben sie auf den Boden. „Und was machst du jetzt?“

„Ich suche.“

„Okay. Und wonach?“

„Keine Ahnung. Ich suche einfach. Ich spüre den überwältigenden Drang, irgendetwas zu tun. Etwas Zielführendes, etwas Sinnvolles. Etwas, das zumindest die Chance beinhaltet, herauszufinden, was Jo in den letzten beiden Tagen gemacht hat.“

„Und du denkst, das hat er dir in einem Brief hinterlassen?“

Edda überging diese Bemerkung. „Jo hat immer alles aufgehoben. Das hier sind die Briefe, die ich ihm als Teenager geschickt habe. Ich meine, sieh dir das an, der Mann hat gesammelt wie ein Eichhörnchen.“ Edda legte die Briefe zur Seite, stand auf und ging zum Kleiderschrank. Als sie ihn öffnete, drang ihnen ein angestaubter, aber vertrauter Geruch entgegen: nach Seife, nach Zigarettenrauch, nach Jo.

Edda machte sich daran, seine Kleidung zu durchsuchen, und breitete deren Inhalt auf Jos Nachttisch aus. Ein paar Geldscheine, ein paar Münzen, ein Streichholzbriefchen, ein Haustürschlüssel und eine Tankquittung. An Letzterer blieb ihr Blick hängen. „Er war dort.“

„Wo?“

Edda hob die Tankquittung in die Höhe. „Er hat in Ålesund getankt.“

„Wann?“

„Vorgestern.“ Edda ballte die linke Hand zur Faust und reckte sie in die Höhe. „Ich wusste es! Ich wusste, dass er heimlich recherchiert hat. Sieh mal, hier hat er noch etwas auf die Ecke gekritzelt, aber es ist total unleserlich.“

Susanne griff nach dem Beleg und betrachtete Jos krakelige Schrift. „Es könnte ein Name sein. Aber du hast recht, es ist total unleserlich. Könnte ‚Bekker‘ heißen. Könnte aber auch alles andere bedeuten.“

„Bekker?“ Edda riss ihr die Quittung wieder aus der Hand. „Den Namen habe ich vorhin gelesen. Emil Bekker. Das ist ein Polizist. War damals ein Kollege von Claas Mok. Die beiden haben zusammen im Fall Sofie Dale ermittelt.“

„Im Ernst?“

„Ja. Wenn ich‘s doch sage.“

Sie sahen sich an.

„Jo hat auf eigene Faust recherchiert“, stellte Edda fest. „Ich wüsste keinen anderen Grund, warum er ausgerechnet in Ålesund gewesen sein sollte. Und keinen, warum er ausgerechnet den Namen Bekker auf die Quittung geschrieben hat.“ Sie machte sich daran, die restliche Kleidung zu durchsuchen, fand sonst aber nichts mehr. Während sie die Schranktür schloss, legte Susanne lauschend den Kopf zur Seite. „Sag mal, fällt dir was auf?“

„Nein, was denn?“

„Wie ruhig es auf einmal ist.“

Edda verharrte und lauschte ebenfalls. „Ja, du hast recht. Auf einmal ist es vollkommen still. So gar kein Wind mehr.“

„Weißt du, wie mir das vorkommt?“, sagte Susanne. „Wie die unselige Ruhe vor dem Sturm. Die Ruhe vor dem Sturm, von dem niemand weiß, wann er hereinbrechen wird.“

„Ich wusste gar nicht, dass du eine so tiefenphilosophische Ader hast.“

In nächsten Moment knarrten die Deckenbalken über ihnen. Gleichzeitig schien sich das Schlafzimmer einen Moment lang zu verdunkeln.

„Was ist denn jetzt los?“, sagte Susanne leise.

„Das ist nur das Wetter“, gab Edda zurück.

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als es einen lauten Schlag tat. Etwas über ihnen fiel krachend zu Boden. Es klang wie zerbrochenes Porzellan.

Edda stürmte aus dem Zimmer.

Susanne folgte ihr.

Gemeinsam rannten sie nach oben.

Ein kraftvoller Luftzug stemmte sich ihnen durch die offene Tür des Arbeitszimmers entgegen, der Vorhang flatterte wie eine Fahne im Wind. Auf dem Boden lagen überall Scherben, die fast bis zur Tür geflogen waren. Im Fenster befanden sich nur noch Glassplitter.

Wie auf Eiern ging Edda durch den Raum. Beim Fenster angekommen, versuchte sie die Läden zu schließen. Der Wind riss sie ihr aus den Händen und ein Glassplitter bohrte sich in ihren Ellbogen. Susanne kam ihr zu Hilfe und mit Mühe schlossen sie die Läden. Der Wind heulte weiter durch die Ritzen, kam nun aber nicht mehr in Böen, sondern drängte mit gleichbleibender Kraft gegen das Haus.

Blut lief Eddas Arm hinunter.

Susanne zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und reichte es ihr. Im nächsten Moment krachte es wieder. Dieses Mal wie ein Donnerschlag. Aber die Läden hielten dem Druck des Windes stand.

Edda wischte sich das Blut vom Arm. „Tja, das Fenster ist im Eimer“, sagte sie. „Komm, wir müssen die Tür von außen schließen und alles abdecken, wodurch die Luft ziehen könnte.“

Sie holten Handtücher aus dem Badezimmer und machten sich an die Arbeit.

Schließlich sagte Edda: „Lass uns nach unten gehen. Ich muss ins Bad, die Schnittwunde versorgen.“

Wieder flackerte das Licht über ihnen, ging für einen kurzen Moment aus, dann wieder an.

Susanne sah zur Decke und rührte sich nicht.

Edda griff nach ihrem Arm. „Es ist alles in Ordnung. Es ist nur das Wetter. Komm, gehen wir wieder nach unten.“

Alles in Ordnung.

Ein netter Satz.

Und viel zu harmlos.

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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