Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 14
10. KAPITEL
Оглавление„Fallen Sie in Ohnmacht.“
Im Inneren des Bahnhofs schlug ihnen der Lärm von Menschen entgegen und das, obwohl es schon nach 23:30 Uhr war. Überall hing Weihnachtsdekoration und aus den Lautsprechern drang „Jingle Bells“. In der Luft lagen jede Menge fremde Gerüche, ein Cocktail aus Rasierwasser, Parfums, Zigaretten und Schweiß. Es war, als wären die Menschen nach einem Blick auf den Kalender in Panik geraten, als sie feststellten, dass morgen Weihnachten war und sie - mit Tonnen von Geschenken im Gepäck – eilig zu ihren Familien reisen mussten.
Durch die Lautsprecher wurde etwas Unverständliches angekündigt. Ein junger Mann griff nach Julias Arm, sie zuckte zusammen und war sofort bereit, einen Angriff abzuwehren, doch er suchte nur nach einer Mitfahrgelegenheit. Sie lehnte unfreundlicher ab, als sie es eigentlich wollte, und reichte – um die Sache wieder etwas gutzumachen – ein paar Meter weiter einem Obdachlosen einen -Euro-Schein. „Gott segne Sie“, sagte er erfreut.
Sie eilten weiter in Richtung Schließfächer. Julias Herz schlug schneller, als sie schließlich den Schlüssel ins Schloss steckte und das Fach öffnete. Als sie hineinsah, entdeckte sie eine Plastiktüte. Sie holte sie heraus.
Im selben Augenblick gab Eva ihr einen unsanften Schubs. „Julia, da!“
Julia drehte sich um und sah in die Richtung, in die Eva blickte. Und dann sah auch sie ihn. Er war ganz in Schwarz gekleidet, trug einen langen Mantel, und ihn umgab eine Aura von … es gab keine bessere Beschreibung dafür: Als wäre er der Odem des Teufels. Sie sah ihm direkt in die Augen, mehr fasziniert als erschrocken, und er blickte zurück.
„Oh, mein Gott!“, stieß Eva aus. „Die haben uns gefunden! Schon wieder!“
„Komm.“ Julia legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich.
Es waren ungefähr dreißig Meter bis zum Ausgang. Das war nicht wenig, wenn man verfolgt wurde, und der Mann in Schwarz kam näher.
Unerbittlich schob Julia Eva weiter, an Menschen vorbei, im Zickzack zwischen ihnen hindurch. Dabei warfen sie eine Frau um, die zu Boden fiel. Sie mussten über sie hinwegsteigen.
Empört schimpfte die Frau hinter ihnen her.
Julia warf einen raschen Blick über ihre Schulter. Der Mann folgte ihnen weiter und verhielt sich dabei noch rücksichtsloser als sie. Was zur Folge hatte, dass ihr Vorsprung immer mehr schwand.
„Vielleicht sollten wir besser hier im Bahnhof hierbleiben“, sagte Eva außer Atem. „Hier drinnen wird er uns bestimmt nicht über den Haufen schießen.“
„Ich würde nicht darauf wetten“, gab Julia zurück.
Noch fünfzehn Meter.
Der Verfolger stieß mit einem anderen Mann zusammen. „Hey!“, rief der ärgerlich aus. „Können Sie nicht aufpassen?“
Julia und Eva nutzten den kleinen Zwischenfall und eilten weiter in Richtung Ausgang.
Doch dann blieb Eva abrupt stehen. „Da ist noch einer!“
Auch Julia sah ihn. Er war ebenfalls schwarz gekleidet wie der Verfolger hinter ihnen und sah ihnen mit kaltem Lächeln entgegen, während er unter seine Jacke griff.
„Oh, mein Gott! Er wird uns umbringen!“, stieß Eva aus.
In Julias Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie drehte sich zu dem Verfolger um, der sich in ihrem Rücken befand. Die Lampen über ihm zauberten einen Lichtkreis um seinen Kopf, der ausgesehen haben könnte wie ein Heiligenschein, wenn man es nicht besser gewusst hätte. Er grinste und griff ebenfalls unter seine Jacke.
Julia breitete die Arme aus. Hinterher hätte sie nicht mehr sagen können, ob es eine Geste der Kapitulation war oder der Versuch, Eva zu schützen.
Auf jeden Fall schob sich genau in dem Moment ein weiterer Mann zwischen sie und Eva. Er trug einen zerknitterten Mantel, einen struppigen Vollbart, eine runde Brille auf der Nase und graue Haarlocken quollen unter einem schwarzen Hut hervor. „Fallen Sie in Ohnmacht“, zischte er in Evas Richtung.
„Was?“, fragte sie konsterniert.
„Tun Sie es. Fallen Sie in Ohnmacht. Das ist Ihre einzige Chance. Los, machen Sie schon.“
Keine Sekunde später begann Eva zu schwanken, fasste sich an die Stirn, verlor das Gleichgewicht und sank auf den Boden.
Julia verstand und rief: „Eva?“ Viel lauter als nötig. „Was ist denn nur los? Ich bitte dich! Komm zu dir!“
Sie regte sich nicht.
Ein Passant kam auf sie zu und blieb bei ihnen stehen. „Was hat sie denn?“, wollte er wissen.
„Sie ist einfach umgefallen.“ Julia riskierte einen Seitenblick, jeweils nach links und rechts, wobei sie feststellte, dass beide Verfolger vollkommen still standen und die Szene misstrauisch beobachteten.
Jetzt kam auch noch eine kräftige, resolute Frau heran. „Bleiben Sie ruhig liegen“, sagte sie zu Eva, die mittlerweile die Augen aufgeschlagen hatte. „Sie sind offenbar gestürzt. Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?“
Eva antwortete nicht, sah die Frau nur an.
Und noch mehr neugierige Menschen blieben bei ihnen stehen.
„Können Sie aufstehen?“, fragte die resolute Frau. „Einen Moment, ich helfe Ihnen.“
Gemeinsam stellten sie Eva wieder auf die Füße, doch die begann sofort wieder zu schwanken. Jemand hielt es für das Beste, sofort einen Krankenwagen zu rufen, zog das Handy aus der Jackentasche und wählte.
Wieder jemand anders brachte einen Becher Wasser.
Ein paar Minuten später kamen zwei Sanitäter und Eva wurde auf eine Trage
gelegt.
Julia sah sich um.
Die beiden Verfolger waren verschwunden.