Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 8
4. KAPITEL
ОглавлениеSteganografie
Hannover
21:16 Uhr
Julia und Eva befanden sich inzwischen wieder in der Innenstadt. Umgeben von wirbelndem, wallendem Weiß, konnten sie gerade noch die Umrisse einer kleinen Trinkhalle erkennen, die sich auf der anderen Straßenseite befand, deren Konturen sich aber mit jedem Augenblick weiter aufzulösen schienen.
„Tee!“, stieß Eva aus. „Köstlicher, heißer Tee!“
„Wir sollten nicht übermütig werden“, sagte Julia.
„Ich bitte dich, Julia! Ich bin durchgefroren bis auf die Knochen. Gönn mir wenigstens einen heißen Tee. Jetzt.“
„In der Pension haben wir es auch warm und dort können wir auch Tee trinken.“
„Bis wir die Pension erreicht haben, bin ich ganz bestimmt erfroren. Ich fühle mich, als wäre ich mitten in einen Film über die Apokalypse geraten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, überquerte Eva bereits die Straße.
Julia sah sich gezwungen, ihr zu folgen.
Schnaufend eilte Eva in die Trinkhalle und auf eine Theke mit Holzplatte zu. „Was muss ein Mädchen tun, um hier einen heißen Tee zu bekommen?“, fragte sie. „Und ich meine, einen richtig heißen Tee.“
Der Mann hinter der Theke, ein hochgewachsener Typ, dessen blonde Haare vom Kopf abstanden, als hätte er gerade in eine Steckdose gefasst, und an dessen Pullover ein Schild steckte, auf dem „Bertram“ stand, lächelte. „Heißer Tee mit Rum, wie wäre es damit?“
„Das klingt wunderbar.“
„Und Sie?“, wandte Bertram sich an Julia.
„Für mich auch.“
Er nickte und machte sich daran, einen Wasserkocher einzuschalten. „Da haben Sie sich aber einen beschissenen Tag für einen Spaziergang ausgesucht“, sagte er und deutete mit dem Daumen auf einen kleinen Fernseher, der auf der rechten Seite unterhalb der Decke befestigt war. Der Nachrichtensprecher, der nicht eine Falte im Gesicht hatte, wurde gerade von einer detailgetreuen Karte Deutschlands abgelöst, über die eine animierte weiße Masse ruckelte.
„Dieses beschissene Wetter wird uns noch ein paar Tage zu schaffen machen“, fügte Bertram hinzu. „Weshalb ich heute eigentlich gar nicht öffnen wollte. Sie beide sind die einzigen Gäste, die ich heute Abend hatte. Über die Feiertage lasse ich den Laden am besten geschlossen.“ Er seufzte leise. „Kommt sowieso keiner.“ Noch einmal seufzte er, dieses Mal etwas lauter. „Muss ich Weihnachten eben mit meiner Frau verbringen.“
„Sie müssen?“ Eva lächelte. „Klingt, als wäre es eine Tortur.“
Das ließ Bertram auflachen. „Und ob es das ist. Sie haben ja keine Ahnung. Ich bringe Ihnen gleich den Tee.“
Sie nickten und stellten sich an einen runden Tisch etwas abseits.
Wenig später wurden zwei Tassen vor ihnen abgestellt, die die Größe von Apfelweinkrügen hatten. „Bitte sehr. Darf‘s auch was zu knabbern sein? Eine Tüte Erdnüsse vielleicht?“
Evas Augen begannen zu leuchten. „Bitte, ja!“
Sie wurden ihr gebracht.
„Danke! Sie sind mein Retter!“
„Sehr gerne.“ Bertram verschwand wieder hinter seiner Theke und Eva trank mit einem erleichterten Seufzer von ihrem Tee. „Junge, tut das gut.“ Sie zog die Handschuhe aus und machte sich daran, die Tüte mit Erdnüssen zu öffnen, wovon sie sich beachtliche Mengen in den Mund schob. „Willst du auch?“, fragte sie.
„Nein, danke.“ Julia, auf deren Tasse in leuchtenden Buchstaben „Jemand liebt dich“ stand, trank ebenfalls einen Schluck. Dann zog sie sich die Strickmütze vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die feuchten Haare. „Möchtest du über das sprechen, was wir in dem Haus gesehen haben?“
„Ich möchte am liebsten nie wieder darüber sprechen.“ Eva griff sich noch eine Portion Erdnüsse.
„Okay.“
Sie schwiegen ein paar Minuten.
Erst als Eva alle Erdnüsse verspeist und die leere Tüte von sich geschoben hatte, sagte sie: „Warum könnten sie ihn umgebracht haben?“
Verwirrt sah Julia auf. „Ich dachte, wir wollten nicht darüber reden.“
„Ich habe gerade festgestellt, dass es mir auch nicht besser geht, wenn wir nicht darüber reden. Also, warum haben sie ihn an die Wand … genagelt?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht als Warnung.“
„An uns?“
„Ich weiß es wirklich nicht, Eva. Der Mann muss auf der Seite der Guten gestanden haben. Er war mein Ziel. Das Medaillon führte mich genau zu ihm. Hätte er noch gelebt, hätte er vermutlich in dem Haus auf mich gewartet. Aber sie haben ihn vorher gefunden und ausgeschaltet. Und jetzt stochern wir wieder im Nebel.“
Eva nickte und starrte in ihren Tee. „Der arme Mann. Diese Leute sind wahre Teufel.“
„Ja, das sind sie. Aber das wissen wir ja nicht erst seit heute.“
„So habe ich im letzten Frühjahr auch …“ Eva brach ab. „Nur dass ich an ein Kreuz genagelt war und nicht an die Wand. Und dass ich überlebt habe. Dank dir.“ Sie hob den Blick und sah Julia an.
„Packst du es?“, fragte diese.
„Ich werde den Rest meines Lebens brauchen, um das irgendwie zu packen.“ Eva schluckte. „Was können wir jetzt noch tun? Wenn der Mann in der Hütte den nächsten Hinweis für uns hatte, dann hat er ihn vermutlich mit in den Tod genommen.“
„Oder die Kraniche haben ihn.“
„Das würde bedeuten, dass sie die Kassette haben, oder?“
„Vermutlich ja.“
„Und was dann?“
„Dann haben wir verloren.“ Julias Blick fiel auf eine kleine Holztafel, die über der Theke hing. Darauf stand: Denkst du an Engel, so bewegen sie ihre Flügel.
Engel. Das Wort hallte durch ihren Kopf.
„Alles in Ordnung?“, fragte Eva.
Julia sah sie an. „Das Gemälde.“
„Was für ein Gemälde?“
„Das Gemälde, das in dem Haus an der Wand hing. Das mit den Engeln. Hast du es nicht gesehen?“
Eva schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur Augen für den armen Mann.“
„Alles in dem Haus war zerstört. Nur dieses Gemälde hing noch vollkommen intakt an der Wand.“
„Und?“
„Vielleicht ist es genau das, wonach wir suchen.“
„Warum? Wie kommst du darauf?“
„Die Engel leiten dich. Das steht auf dem Medaillon.“
„Ja, aber das ist ein Gemälde. Was …?“
Julia hob die Hände in die Höhe. „Schon mal was von Steganografie gehört?“
„Nein. Ich kenne nur Stenografie und damit hatte ich immer nur wenig Spaß.“
„Dabei handelt es sich um ein Verschlüsselungsverfahren, das im Wesentlichen darin besteht, eine Botschaft in einer anderen zu verbergen, zum Beispiel in einem offenbar harmlosen Gemälde.“
„Du glaubst, das Gemälde ist steganografiert?“
„Ich weiß es nicht. Aber es wäre immerhin eine Möglichkeit.“
„Genial“, sagte Eva. „Wenn es so wäre.“
Julia zog sich bereits wieder die Handschuhe über. „Wir müssen noch einmal in das Haus zurück.“
„Was?“
„Du musst ja nicht mitkommen. Ich mache mich alleine auf den Weg. In der Zeit kannst du …“
„Quatsch. Natürlich komme ich mit.“
„Wollen Sie wirklich noch mal da rausgehen?“, fragte Bertram, als Julia einen Schein auf die Theke legte.
„Müssen wir wohl, wenn wir hier nicht übernachten wollen“, sagte sie.
Er zuckte mit den Schultern. „Na, dann passen Sie gut auf sich auf.“
Julia nickte und mahnte sich, die Trinkhalle nicht zu schnell zu verlassen, aber das war schwer.
Der Drang zur Eile war fast unwiderstehlich.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, zwischen zwei Häusern versteckt, hatte eine Frau Posten bezogen. Sie nannte sich selbst: die Unsichtbare.
Während sie beobachtete, wie Julia und Eva sich noch einmal auf den Weg machten, strich sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie überlegte. Vielleicht war das, was sie tat und vorhatte, ein Fehler. Aber wenn es ein Fehler war, dann war möglicherweise auch alles andere falsch.
Die Unsichtbare schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Gedanken überhandnahmen.
Sie machte zwei Schritte vorwärts und setzte sich in Bewegung.